3. Kapitel

Unfassbar, dass man so ruhig dasitzen kann, während der gesamte Körper in Aufruhr ist. Mein Bauch fühlt sich hohl an, mein Herz klopft viel schneller als sonst und meine Füße vibrieren auf dem heißen Asphalt, als müssten sie gleich um ihr Leben rennen. Und die Bedienung, die mich schon seit fünf Minuten ignoriert, wird sich allerhöchstens darüber wundern, dass ich die Karte so intensiv studiere, als stünde dort mein Todesurteil. Dabei ist es nur die riesige Eiskarte vom Dolomiti in der Tulbeckstraße, mit prächtigen Fotos aller Eisbecher. Ich starre auf die bunten Bilder und sehe nichts, ich blättere um und sehe wieder nichts. Selbst wenn ich mich zwinge, tief durchzuatmen und zu konzentrieren, nutzt es nichts. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich hier bin. Ich hätte mich niemals, niemals, niemals auf dieses Treffen einlassen dürfen, das ist es, was die kleine Stimme in meinem Kopf unablässig flüstert. Ich kenne sie gut, diese Stimme, ich habe in den letzten Tagen unablässig mit ihr gekämpft. Er aber auch. Und zum Schluss war er es, der gesiegt hat. Dabei sah es am Anfang überhaupt nicht danach aus. Die Tage nach dem Umzug habe ich ihn nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen und ich hätte vor Erleichterung jubeln mögen, als Bernadette mir nichts ahnend erzählte, dass ihr Stiefvater auf Geschäftsreise sei. Denn ich war noch immer völlig verstört darüber, was da auf der Treppe passiert war. Ich hatte ihn tatsächlich geküsst, und auch wenn er damit angefangen hatte, so hatte ich es doch genossen, so viel stand fest.

Wie konnte ich so mir nichts, dir nichts mit dem Stiefvater meiner besten Freundin rummachen? Mit dem Mann ihrer Mutter, den ich zu allem Überfluss überhaupt nicht kannte? Was zum Teufel hatte ich mir dabei gedacht? Was hatte er sich dabei gedacht? Doch dann kam seine erste E-Mail und dann die nächste und langsam wurde mir klar, was er sich gedacht hatte. Und ich war überrascht, was ich alles in ihm ausgelöst hatte. Er erklärte es mir mit vielen erstaunlich zärtlichen Worten In Sätzen, die ich, ohne es zu wollen, plötzlich auswendig konnte, Sätze wie diese: »Lache über den Burschen, der dich liebt, aber nimm mir niemals dein Lachen, denn sonst würde ich sterben.« Und obwohl es nur Worte waren, verdrängten sie alles, nichts sonst war mir mehr wichtig. Jeden Tag stürzte ich an den Computer und schaute nach, ob eine Mail von ihm da war, und so öffnete er eine Tür zu meinem Herzen, Millimeter für Millimeter, so lange, bis ich wider besseres Wissen nichts anderes mehr wollte, als ihm mein Lächeln zu schenken. Deswegen hatte er mich genau eine Woche oder elftausend Minuten nach unserem ersten Treffen so weit, dass ich die immer kleiner werdende warnende Stimme in meinem Inneren zum Teufel schickte und mich mit ihm verabredete. Und jetzt sitze ich hier und versuche verzweifelt, mir vorzulügen, dass ein Treffen im Eiscafé nichts Verbotenes ist und niemand dabei verletzt wird. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich zu einer Verabredung so oft umgezogen habe, nur um dann doch in Jeans und einem meiner Lieblingsshirts zu enden. Es ist federleicht, ganz weich und himmelblau und vorne drauf steht mit weißen Buchstaben: »Ich denke, also bin ich –«, und dann unten drunter: »– hier falsch«. Das hat mir meine Freundin Tabea zu meinem letzten Geburtstag geschenkt, zur Erheiterung für öde Schulstunden. Er ist da, ich spüre es, bevor ich ihn sehe. Er greift sich einen der Korbstühle, dreht ihn so, dass er mit gespreizten Beinen vor mir sitzt, legt die Hände auf die Lehne und betrachtet mich. Ich möchte lächeln wie Mona Lisa, denn seine aufmerksamen Augen tasten so behutsam und erfreut über meinen Körper, als wäre ich ein kostbares Kunstwerk. Ich muss mich zwingen, seinem Blick standzuhalten, denn es kribbelt überall und ich kann es kaum erwarten, bis er im Gesicht angekommen ist. Wie er mich anstrahlt! Dann erst winkt er der jungen Kellnerin, die für ihn auch selbstverständlich sofort kommt und seine Bestellung notiert. »Einen doppelten Espresso, bitte. Und du?«, fragt er. Mir fällt nichts ein. »Das Gleiche, danke«, sage ich, dabei ist mir Espresso immer viel zu bitter. Aber ich will jetzt kein Eis essen, das käme mir kindisch vor. »Ich nehme noch einen Nussbecher.« Er klappt die Karte zu und beugt sich vor. »Lissie, weißt du eigentlich, wie glücklich ich bin, dass du gekommen bist? Ehrlich gesagt, hab ich fast nicht damit gerechnet, dass du dich tatsächlich mit so einem alten Knacker wie mir treffen willst.« Er verzieht seine Mundwinkel zu diesem breiten Lachen, das seine Zahnlücke enthüllt, und fährt sich mit der Hand durch seine vollen Haare. In seinen E-Mails klingt er viel romantischer, aber mir ist klar, dass ein erwachsener Mann nicht immer das aussprechen kann, was er fühlt. Manche können das eben nur schreiben. Und jetzt möchte er natürlich, dass ich ihm sage, er wäre kein alter Knacker. Mal sehen, ob er auch über sich selbst lachen kann. »Na, hör mal«, erwidere ich also, »du bist doch höchstens doppelt so alt...« »Stimmt«, kontert er mit einem Schmunzeln, »aber in zwanzig Jahren hört sich das nicht mehr so schlimm an.« Verblüfft muss ich feststellen, dass er recht hat. In zwanzig Jahren wäre er zweiundfünfzig und ich siebenunddreißig. »Wer weiß, was in zwanzig Jahren ist«, sage ich. »Vielleicht ist einer von uns dann schon tot.« Der Espresso kommt und der Nussbecher, den die Kellnerin selbstverständlich vor mich hinstellt. Ich schiebe ihn zu Kai, der sofort den langen Löffel in die sahnige Haube steckt und mir dann den vollen Löffel mit Eis und Sahne anbietet. »Hier, probier mal!«, sagt er, grinst zwischen seiner Zahnlücke wie einer von den kleinen Strolchen und berührt mit dem Löffel meine Lippen. Er wartet, bis ich sie geöffnet habe, und schiebt mir die kalten Kristalle ganz vorsichtig in den Mund. »Lecker oder?«, fragt er und Schattenwolken ziehen über seine grünen Augen. Ich nicke schwach, aber ich spüre, wie ich über und über rot werde. Das, was er da tut, kommt mir plötzlich unsagbar intim vor, wie Zungenküsse in aller Öffentlichkeit. Ich zucke zurück. »Hey, willst du nicht mehr?« Ich schüttele den Kopf und plötzlich kann ich ihn nicht länger ansehen. Die ganze Situation ist völlig absurd, das ist mir auf einmal klar. Ich will das hier tatsächlich nicht mehr. Das Lächeln verschwindet von seinem Gesicht. »Reden wir hier wirklich noch über das Eis?«, fragt er. Und als ich stumm den Kopf schüttele, sieht er mit einem Mal unendlich traurig aus und ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust pocht, so heftig, dass er es sehen muss durch das T-Shirt. »Kai«, presse ich irgendwie hervor. »Du bist verheiratet...« Er unterbricht mich. ». . . und du die Freundin meiner Stieftochter.« Diesmal hole ich tief Luft und gebe meiner Stimme mehr Kraft. »Mit uns, das kann nichts werden, verstehst du das denn nicht?« Er bewegt seinen Kopf leicht und beugt sich vor. »Mein Kopf versteht es«, sagt er langsam. »Aber der Rest von mir nicht.« Mir wird mulmig. »Na klar«, versuche ich einen Scherz, und obwohl ich lache, verrät meine kieksige Stimme, wie wenig souverän ich mich fühle. »Weil ich ja auch so wichtig bin.« »Verdammt wichtig.« Nicht die Spur eines Lächelns. Er legt seine Hand auf meinen Unterarm. Meine Haut meldet Alarm in allen Zentren meines Körpers, mein Herz klopft rasend, mein leerer Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und meine Haare stellen sich auf. Stell das ab, versuche ich diesem Körper klarzumachen, lass das! Es ist nur eine Hand, kein gefährlicher Stromschlag. Hör auf damit, ich bin der Chef, nicht du! Trotzdem rauscht es in meinen Ohren. Er lässt seine Hand dort, wo sie ist, kommt näher und flüstert etwas in mein Ohr, dabei berührt er mein Ohrläppchen, das jetzt auch verrückt spielt. Ich verstehe nichts von dem, was er sagt, rutsche in Panik ein Stück weg, greife nach meinem Espresso und stürze ihn hinunter. Hat er denn gar keine Angst, dass uns jemand beobachtet, hier auf offener Straße mitten in einem gut besuchten Café? Mir kommt es so vor, als würden uns alle anstarren.

»Ich muss jetzt gehen!«, verkünde ich und bin stolz auf mich. Der Sieg des Geistes über das Fleisch oder so ähnlich. »Ich komme mit.« Er winkt der Kellnerin, wirft einen Schein auf den Tisch, steht auf, hilft mir mit dem Stuhl, reicht mir seine Hand und ich, völlig verdattert, weil dieser Mann nie so reagiert, wie ich das vermute, nehme sie. Wir gehen ein Stück die Straße entlang. Sobald ich das Gefühl habe, wieder allein gehen zu können, entziehe ich ihm die Hand. »Ich möchte jetzt nach Hause.« »Ich bringe dich. Mein Wagen steht dort drüben auf dem Lidlparkplatz.« Ich will etwas einwenden, aber er legt mir den Finger auf den Mund. »Keine Angst, wir sagen einfach, dass ich dich auf dem Weg aufgelesen habe.« Und nach einer kurzen Pause fügt er etwas leiser hinzu: »Lass mir wenigstens noch diese paar Minuten mit dir.« Wieder klingt er traurig und das macht mir das Herz schwer. Kai greift in die Tasche, klickt auf die Fernbedienung und hält mir schweigend die Beifahrertür auf. Als ich mich setze, kommt es mir plötzlich so vor, als hätte ich ein kostbares Geschenk bekommen und würde es freiwillig in den Schmutz werfen. Er geht um das Auto herum, steigt ein, steckt den Schlüssel in das Zündschloss, doch er dreht ihn nicht um. Für einen Moment herrscht Schweigen. »Das kann es doch nicht gewesen sein, oder?«, stößt er schließlich hervor. Er lässt seine Hände sinken, dieser große starke Mann sieht ganz hilflos aus. »Das musst du doch auch fühlen. Lissie. Sag mir, dass du das auch fühlst!« »Ja.« Meine Stimme ist nur ein Flüstern. Er sieht mich von der Seite an. »Bist du dir sicher«, fragt er und blickt mir voll in die Augen.

Ich schüttele unglücklich den Kopf, dann nicke ich, nur um gleich wieder den Kopf zu schütteln. »Aber es ist nicht richtig«, stammele ich. »Sagt wer?« Hinter uns hupt es ungeduldig, ein Autofahrer wartet darauf, dass wir losfahren. Es hat sich bereits eine Schlange hinter dem Wagen gebildet. Kai bedeutet dem Mann mit einer ärgerlichen Handbewegung vorbeizufahren und zieht dann den Schlüssel aus dem Zündschloss. »Lissie, nicht weit von hier hat ein Freund eine Wohnung«, sagt er. »Dorthin ziehe ich mich manchmal zurück, wenn ich allein sein will. Da – da wären wir ungestört.« Ich zucke zurück und komme mir plötzlich vor wie ein naives Gänschen. Warum war mir das nicht gleich klar? Das hier macht er nicht zum ersten Mal! Und ich bin auch nicht die Erste! Sein Lächeln gräbt markante Linien in sein Gesicht. »Glaubst du jetzt, dass ich dich in meine billige Absteige nehme, um dich zu vernaschen, wie all die anderen Mädchen vor dir?« Ich muss wider Willen grinsen. Es ist unheimlich, wie er ständig meine Gedanken liest. »So in etwa habe ich mir das vorgestellt, ja«, gebe ich zu. »Und nein, vergiss es.« »Aber so ist das nicht.« Jetzt zieht er die Augenbrauen zusammen. »Ich würde dich nie zu etwas zwingen, was du nicht willst. Es liegt allein bei dir, Lissie. Denn mir...mir ist es wirklich ernst mit dir. Das weißt du, oder?« Ich schlucke und muss an den Kuss denken, diesen unglaublichen Kuss, im Treppenflur. Und ich spüre, wie mein mühsam aufgebauter Widerstand erlahmt. Doch im letzten Moment reiße ich mich zusammen. Lissie, was tust du hier? Dieser Mann ist über zehn Jahre älter, er ist verheiratet, das alles ist nicht richtig! Ich sollte ganz schnell weglaufen, mich in Sicherheit bringen. »Es tut mir leid!«, stoße ich hervor und dann reiße ich die Autotür auf, raus hier, bloß weg. »Lissie, warte doch!«, ruft er hinter mir her, aber ich renne los, stoße fast mit einer Frau mit Kinderwagen zusammen, ich muss hier schleunigst verschwinden. Wenig später hat er mich eingeholt. »Lissie, bitte, lauf nicht weg!« Er legt mir die Hand auf die Schulter und ich bleibe stehen. »Es ist alles in Ordnung. Ich wollte dir keine Angst machen. Ich habe vergessen, wie jung du noch bist, ich elender Egoist. Bist du mir böse?« Ich komme mir wankelmütig vor, wie eine Idiotin. Eine zu junge Idiotin. Ich schüttele den Kopf. »Lissie, verzeih mir. Ich war so bezaubert...ich bin so verzaubert von dir.« Er klingt ehrlich verzweifelt. Und in diesem Moment tue ich es. »Ist okay«, sage ich. »Wie okay?« Er tritt näher an mich heran, ich kann ihn riechen, fast spüren, obwohl er mich nicht berührt. Er zeigt mit den Händen einen Abstand von zwanzig Zentimetern. »So okay? Oder . . .«, er verringert den Abstand und kommt minimal näher, »oder so okay?« Dabei flackern seine grünen Augen unruhig. Ich muss lachen. Und lege meine Hände aneinander, ganz ohne Abstand. »So okay.«

Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, aber wenn ich aus dem schmutzigen Fenster schaue, sieht es so aus, als würde es schon dämmern. Mein Kopf liegt auf Kais Oberarm, er schläft und sieht sogar jetzt mit leicht offen stehendem Mund aus, als könnte er jederzeit mit einem Tiger kämpfen.

Ich kann immer noch nicht fassen, was passiert ist, alles war ganz anders als mit meinem ersten Freund. Mit dem war es auch schön, aber nie so einfach, so selbstverständlich. Kai hat sogar über diese superpeinliche Sache mit dem Kondom Witze gemacht, sodass wir uns ausschütten wollten vor Lachen. Und jetzt fühle ich mich großartig, so weiblich, ganz anders. Ich rutsche langsam weg von seinem Arm, schlage die Decke zurück und gehe über den schmalen Flur in das schimmlige, fensterlose Bad. Es ist sehr still hier oben, das einzige Geräusch kommt von dem tropfenden Wasserhahn in der Badewanne, deren Emaille schon ganz grau geworden ist und an einigen Stellen abblättert. Die Wohnung von Kais Freund liegt in einem alten, modrig kalten Haus mit einem Türmchen nicht weit vom Lidlparkplatz. Sie ist klein und heruntergekommen, und als ich die klobraun gestrichene Tür im vierten Stock mit dem Willkommenskranz gesehen und die muffige und abgestandene Luft gerochen habe, wäre ich um ein Haar wieder umgedreht. Doch nun bin ich froh, dass ich es nicht getan habe. Auf dem Rand der Badewanne liegen Kais Klamotten und darauf sein silbernes Handy, funkelnd wie ein Schatz in einer verrotteten Holzkiste. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um in den Spiegel sehen zu können, aber ich will mich anschauen, denn irgendwie kommt es mir so vor, als müsste ich mich in der kurzen Zeit verändert haben. Was für ein Irrtum. Ja, meine Haare sind völlig verwuschelt. Und meine Lippen, die sind jetzt knallrot, beinahe so, als hätte ich sie aufspritzen und färben lassen. Aber sonst ist alles wie immer. Nicht mal meine Augen haben einen besonderen Glanz, eher sind da Schatten, als ob ich sehr müde wäre.

Ich sehe mich nach einem Handtuch um, kann aber keins finden. Auf dem Wasserkasten der Toilette liegt ein Kamm mit Haaren in den abgebrochenen Zinken, den ich ganz sicher nicht berühren werde. Am Badewannenrand steht ein Duschgel, der Duschvorhang aus Plastik mufft. Hinter der Tür lehnt ein alter Besen voller Flusen an der Wand. Das einzige Schränkchen, das ich entdecken kann, ist unter dem Waschbecken, dort finde ich dann auch ein sauberes Handtuch. Ich dusche und muss aufpassen, dass ich auf dem glitschigen Badewannenboden nicht ausrutsche. Wieder angezogen gehe ich zurück zu Kai, der immer noch schläft. Er ist das einzig Schöne in dieser Wohnung. Das Schlafzimmer ist im sechseckigen Türmchen untergebracht, an den Wänden sind wie auch im Wohnzimmer dunkelbraune Schrankwände oder Schränke. Im engen Wohnzimmer gibt es noch zwei dunkelblaue Klubsessel aus Lederimitat, das schrecklich quietscht, wenn man sich daraufsetzt. Ich lasse mich neben ihn aufs Bett sinken und frage mich, ob unser Zusammensein für ihn auch so unglaublich war oder ob es für ihn vielleicht gar keine besondere Bedeutung hatte. Plötzlich schießen mir Tränen in die Augen und ich bin auf einmal ganz sicher, dass er eben nur Sex wollte und ich eine dumme Gans bin, die möglichst schnell von hier verschwinden und das Ganze am besten vergessen sollte. Ich stehe auf, suche meine Handtasche und stolpere zur Haustür. Als ich die Hand auf die Klinke lege, umschlingt sein muskulöser Arm meine Taille. »Hey, wohin willst du denn so schnell?«, flüstert er und dreht mich um. »Ich dachte...« »Was dachtest du?« Er zieht mich in seine Arme.

So umhüllt von seiner Wärme komme ich mir wie eine Idiotin vor. »Na, dass du jetzt hattest, was du wolltest, und ich gehen sollte.« Er drückt mich weg von sich und schaut mich betroffen an. »Glaubst du das wirklich von mir?« »Nein...«Ich werde rot. »Aber warum schleichst du dich dann weg?« »Ich, ich...« Er nimmt mich in den Arm und flüstert in mein Ohr. »Du hast Angst, das ist ganz normal.« Er hat recht, ich habe Angst. Ich versuche meine aufsteigenden Tränen wieder herunterzuschlucken. Ich habe Angst, weil ich weiß, dass es nicht in Ordnung war. All diese Lust war nicht richtig. Wieder scheint er zu ahnen, was in mir vorgeht. »Meinst du wirklich, dass so etwas Schönes falsch sein kann?«, fragt er und sieht mich an. »Wozu hat man das Leben, wenn nicht, um zu leben?« Er greift nach seinem Hemd. »Was, wenn es plötzlich vorbei ist und wir das Wichtigste versäumt haben?« Ich nicke unwillkürlich, so habe ich es noch nicht gesehen, aber irgendwie hat er recht. »Man muss im Jetzt leben, Süße, im Moment. Carpe diem. Nutze den Tag.« Er lacht vor sich hin, während er in seine Anzughose steigt, und ich weiß nicht, warum, aber sein glückliches Lachen macht mir wieder Angst. »Gehen wir, ja?« Er sieht sich in der Wohnung um, dann sperrt er ab und versteckt den Schlüssel in dem staubgrauen Blumenkranz, wo er ihn auch hergeholt hat. »Jetzt kennst du alle meine Geheimnisse«, scherzt er, während wir nach unten gehen. »Ich muss noch zu einer Baustelle, Probleme mit der Haustechnik, sehr lästig. Soll ich dich vorher nach Hause bringen?«

Ich schüttele den Kopf. Ich brauche jetzt unbedingt ein paar Minuten für mich alleine, bevor ich Bernadette unter die Augen treten kann. Er winkt mir zu und geht dann in Richtung Lidlparkplatz, ohne sich noch einmal umzudrehen, und ich stehe dort allein auf dem Bürgersteig und denke daran, was er eben gesagt hat.

Man muss im Jetzt leben.

Doch wie soll ich das schaffen, nach all dem, was ich erlebt habe?