4. Kapitel
In den letzten zehn Tagen bin ich mir selbst unheimlich geworden. Mir war nicht klar, wie unglaublich gut ich lügen kann, wozu ich fähig sein kann. Manchmal, nachts, wenn die Wohnung ganz still ist und ich nicht schlafen kann, kommt es mir so vor, als ob eine völlig andere Person die alte Lissie Bernardi ersetzt hätte, jemand, den ich erst noch richtig kennenlernen muss. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie tatsächlich mag. Dann muss ich daran denken, wie oft Bernadette und ich diese billig gemachten Liebesfilmchen angesehen haben, um uns über die Heldinnen schlappzulachen, die sich mir nichts, dir nichts in den nächstbesten Typen verknallen, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne einen Funken von Verstand. Nie im Leben hätte ich daran gedacht, dass ich mich jemals so verhalten würde, aber genauso ist es, mein Verstand ist wie ausgelöscht und schuld daran ist er. Sobald ich mit ihm zusammen bin, vergesse ich, dass er der Mann von Bernadettes Mutter ist, ich vergesse, dass Bernadette meine Freundin ist, vergesse, dass ich mal mit seinem Stiefsohn zusammen war, ich vergesse, dass ich Lissie heiße, und weiß nur, dass ich verrückt sein muss. Ich vergesse alles, weil ich, genau wie Kai es gesagt hat, zum ersten Mal einfach nur lebe. Wenn ich mit Kai zusammen bin, dann ist das Jetzt so intensiv, dass es nichts anderes mehr gibt. Ich vernachlässige meine Freunde, vor allem Tabea, mit der ich früher andauernd unterwegs war. Jetzt sehen wir uns nur noch in der Schule und dann überkommt mich manchmal das schlechte Gewissen, weil ich nur noch damit beschäftigt bin, im siebten Himmel zu schweben.
Andererseits scheint es ihr nicht viel auszumachen, denn sie ruft mich auch nie an. Bernadette kann ich natürlich nicht ausweichen, schließlich wohnen wir zusammen und die Begegnungen mit ihr werden mehr und mehr zur Qual. Denn ich fühle mich oft wie beschwipst, es kribbelt überall, ständig habe ich ein Lachen auf den Lippen, am liebsten möchte ich hüpfend durch die Straßen rennen und dabei laut singen. Aber wie könnte ich ihr von diesem Glück erzählen, wenn ich doch gleichzeitig weiß, dass ich ihre Familie, die mich so großzügig aufgenommen hat, völlig zerstören würde? Deshalb gehe ich morgens als Erste aus dem Haus und nach der Schule trödele ich ewig, um nicht auf Bernadette zu treffen. Ich erfinde ständig Lügen, ich staune selbst über mich, wie gut ich das kann. Fast noch mehr Angst als vor Bernadette habe ich vor Brigitte, ihrer Mutter, die oft bei uns vorbeikommt, um mit uns Kaffee zu trinken. Aber bis jetzt habe ich es geschafft, ihr einigermaßen aus dem Weg zu gehen. Nico, dem ich ab und zu im Treppenhaus begegne, behandelt mich sowieso wie Luft. Und Violetta bekomme ich fast nie zu Gesicht, manchmal habe ich sogar den Eindruck, als ob sie gar nicht hier im Haus wohnt. Einmal ist mir sogar der Gedanke gekommen, dass sich die gesamte Familie Keilmann gegen mich verschworen hat und es mir sogar leicht macht, sie zu hintergehen, ein Gedanke, für den ich mich sofort unendlich geschämt habe, denn die Verantwortung für das, was ich tue, liegt ganz allein bei mir. Und trotz alldem bin ich glücklich. Weil ich Kai liebe. Kai ist mein Märchenprinz. Ich würde jeden Tag einen Frosch küssen, sogar einen schleimigen, wenn er sich dann in Kai verwandeln würde. Aber nicht nur das Zusammensein mit ihm ist wundervoll, nein, auch seine Mails sind die reinsten Wortküsse, die mich ganz zittrig machen. Ich kann es nie erwarten, von der Schule nach Hause zu kommen, um endlich nachzuschauen, ob er mir eine Mail geschickt hat. Genau wie heute, denn ich habe seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört und sehne mich schrecklich nach ihm. »Hey Lissie«, tönt Bernadette laut von der Dachterrasse, als ich mich gerade vom Flur in mein Zimmer schleichen will. »Ich bekomme dich ja weniger zu Gesicht als vorher. Dabei wohnst du jetzt hier. Wo steckst du eigentlich die ganze Zeit?« Ihre Stimme hat einen schmollenden Unterton. »Vorgestern Abend habe ich extra gekocht, aber du bist nicht aufgetaucht.« Mein schlechtes Gewissen rührt sich und ich beeile mich, nach draußen zu kommen. Einen Moment später bereue ich meine übereilte Reaktion. Denn nicht nur Bernadette, sondern auch Brigitte sitzt auf der Terrasse und trinkt Eistee. Die Querverstrebungen der orangefarbenen Markise sind ganz ausgefahren, denn die Sonne ist um drei Uhr nachmittags brütend heiß, unglaublich heiß für Anfang Juni. Zögernd ziehe ich mir einen Stuhl heran und schenke mir auch einen Eistee ein. Zum Glück schwatzen die beiden einfach weiter, offenbar über eine neue Website. Die ganze Familie Keilmann liebt das Internet und alle besitzen immer die neuesten technischen Spielereien. Ich glaube, Bernadette war die Erste in der Schule, die Internetvideokonferenzen schalten konnte. Zum Glück für mich ist auch ihre Mutter ein Technikfreak, sodass die beiden nicht weiter auf mich achten. Ihre Begabung haben sie von dem Großvater geerbt, dem Patenthalter irgendwelcher bahnbrechenden Kühlschrankerfindungen, aus denen ihr Reichtum stammt. Für die Keilmanns ist es eine Art Familiensport, wer zuerst die absurdeste oder originellste neue Seite im Web entdeckt. Im Augenblick hält Bernadette den Rekord. Ich beuge mich über den Becher und mustere meine Freundin und ihre Mutter aus den Augenwinkeln und frage mich, wie schon ein paarmal zuvor, was Kai an Brigitte eigentlich attraktiv findet. Ich weiß, dass da etwas sein muss, denn er hat bei unserem Treffen vorgestern erst wieder gesagt, dass er sie nie verlassen würde. Brigittes Haare sind wie meistens zu ungünstig dunkelroten Fransen frisiert, die ihrer Haut einen fahlen Schneckenton verleihen. In ihren weiten Leinenhosen sieht sie noch dünner aus, als sie ohnehin schon ist, und ständig gestikuliert sie mit ihren nervösen Händen unruhig durch die Luft. Bernadette hat an dem Abend meines Einzugs, nachdem alle Kisten oben und Kai gegangen war, gehässig behauptet, dass hinter Kais Freundlichkeit finstere Absichten stecken würden, er hätte ihre Mutter nur des Geldes wegen geheiratet. Aber ich weiß mittlerweile, dass Kai seine Frau wirklich bewundert. Sie haben sich auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt, Kai hat mir erzählt, dass sie ihm gleich aufgefallen ist, weil sie wie eine Löwin um Spendengelder gekämpft hat. Ständig tut sie das, für Amnesty International genauso wie für Fairtradeprojekte in Brasilien. »Na, ich finde diesen Blog zum Thema Ökospießer ziemlich lächerlich, geradezu grotesk langweilig.« Bernadette hat sich richtig in Rage geredet. »Meinst du nicht auch, Lissie?« Ich nicke, um wenigstens den Eindruck zu erwecken, dass ich mich am Gespräch beteilige, und hoffe, dass sie nicht nachfragt, denn mich langweilen die meisten Blogs unsäglich. Außerdem war ich in den letzten zehn Tagen sowieso nur im Internet, um Kais Mails abzuholen und auswendig zu lernen. Glücklicherweise fällt Brigitte in diesem Moment noch eine andere Webseite ein, von der sie unbedingt erzählen will, und Bernadette merkt nicht, dass ich gar nicht antworte. Wenn man die beiden zusammen sieht, glaubt man kaum, dass sie miteinander verwandt sind. Bernadette ist so ruhig und weich und golden, während ihre Mutter so aufgeregt und irgendwie spitz wirkt. Bei Papa und mir erkennt man die Ähnlichkeit sofort, ich habe seine dunkelbraunen Augen und leider auch die etwas knollige Nase und die breite Stirn geerbt. Von Mama habe ich zum Glück die Figur, die ganz altmodisch wie eine Eieruhr ist, schlank, aber kurvig. Mama ist an einem Gehirntumor gestorben, als ich vier Jahre alt war. Seither sind Papa und ich allein. Er hat sich alle Mühe gegeben, mir meine Mutter zu ersetzen, und ich finde, er hat es gut gemacht. Trotzdem habe ich meine Freundinnen immer um ihre Mütter beneidet, sogar um die Kämpfe mit ihnen. Brigitte und Bernadette streiten sich selten, dafür streitet sich Violetta andauernd mit allen, mit Nico, mit Bernadette und am meisten mit ihrer Mutter. Beide können ziemlich stur sein. »Sag mal, Lissie, ist die Hitze zu viel für dich?« Erschrocken schaue ich hoch. »Nein, wieso?«, frage ich. Bernadette mustert mich vorwurfsvoll von der Seite. »Na, weil meine Mutter schon zum dritten Mal gefragt hat, ob du deinen Geburtstag feiern wirst.« »Nein, ich glaube nicht«, bringe ich gerade noch heraus, denn seit Tagen träume ich davon, an meinem Geburtstag mit Kai ins Blaue zu fahren.
Bernadette zieht eine Schnute. »Ach Mann, da hast du im Sommer Geburtstag und dann feierst du nicht. Ich wünschte, ich wäre so ein Glückspilz. Aber nein, ich musste Anfang Februar geboren werden.« »Lass sie doch!«, beschwichtigt Brigitte und nimmt einen Schluck von ihrem Eistee aus transfairem Anbau. Sie lächelt mir zu. »Du wirst bestimmt deine Gründe haben. Vielleicht feierst du lieber ganz romantisch zu zweit?« Ich muss ein paarmal schlucken, bevor ich antworten kann. Mir wird erst kalt, dann wieder ultraheiß. Jetzt ist sie da, diese Situation, vor der ich mich seit Tagen fürchte. Ahnt Brigitte etwas? Will sie etwas andeuten? Aber dann würde sie doch nicht so freundlich lächeln! Ich nicke erst mal, räuspere mich, schaffe es aber nicht, ihr zu antworten. Bernadette beugt sich jetzt zu mir herüber. »Hey, da hat Mama ins Schwarze getroffen, oder? Du bist verliebt? Davon weiß ich ja gar nichts!« Ihre graublauen Augen wirken verärgert. Mann, Mann, Mann, was sage ich denn jetzt auf die Schnelle, damit Bernadette nicht gekränkt ist? Ein dicker Kloß sitzt mir im Hals. Brigitte und Bernadette starren mich an, eine Sekunde lang habe ich Angst, dass sie mir ansehen können, was los ist, schnell, mach schnell, erfinde irgendetwas. »Es ist so . . .«, krächze ich und greife nach meinem Glas, sauge kurz an meinem Strohhalm, bloß um Zeit zu schinden. Brigitte legt mir ihre kühle, kleine Hand auf den Unterarm. »Schätzchen, du musst uns nicht alles erzählen. Ich verstehe das schon. In deinem Alter braucht man Geheimnisse.« »Aber doch nicht vor mir!«, platzt Bernadette raus. Ich schlucke den Rest Tee hinunter und plötzlich habe ich eine Idee. »Also ehrlich gesagt, ich habe mich... also ich habe mich in einen unserer Lehrer verliebt...« Bernadette setzt sich gerade hin, streicht ihre Mähne hinter die Ohren und geht im Geiste alle Lehrer durch. »Na, die Biesler ist es ja wahrscheinlich nicht . . .?«, sagt sie und kichert fröhlich. Ich grinse erleichtert, weil niemand an meiner Antwort zweifelt, und erwidere scherzhaft: »Wer weiß, vielleicht bin ich ja lesbisch geworden und liebe verheiratete Frauen.« »So etwas kann immer passieren. Man sucht sich das ja nicht aus«, meint Brigitte ganz ernst. Sie sieht beunruhigt aus und ich bin plötzlich nicht mehr so sicher, ob meine Ausrede eine gute Idee war. »Sag schon, wer ist es denn?« Bernadette lässt nicht locker. »Ist er etwa verheiratet?« Mist, was jetzt? Ich gehe in Gedanken alle Lehrer der Oberstufe durch, die wir kennen. Es müssten genug sein, um Bernadette im Unklaren zu lassen. Oder sollte ich schnell einen Lehrer aus einer anderen Schule erfinden? Aber dann müsste ich mehr Details preisgeben. Ich nicke also. »Ja, er ist verheiratet.« Ich sehe, wie Bernadettes Augen aufblitzen. »Ich wette, es ist der Kühn, er sieht so gut aus! Den würde sogar ich nehmen.« »Bernadette!«, weist ihre Mutter sie zurecht. »Doch, Mama! Der ist zwar bestimmt doppelt so alt wie wir, aber er sieht aus wie ein griechischer Gott, dieser Dings...« »Du meinst Adonis!« Ihre Mutter wird streng. »Bernadette, bitte lass dich nicht auf so etwas ein, niemals. Es ist immer das Mädchen, das einen hohen Preis bezahlt, nie der Mann.« Mir wird flau. Was für einen Preis? Brigitte wendet sich wieder mir zu, fährt sich mit ihren Händen durch ihre Haarfransen, als ob sie zu Berge stünden und geglättet werden müssten. »Sag mal, Lissie«, sie macht eine Pause. Offenbar überlegt sie, wie sie fortfahren soll. »Du und dieser Mann – ihr habt doch nicht ernsthaft eine Beziehung, oder? Ich meine, eine Schwärmerei für einen älteren Mann ist in deinem Alter völlig normal. Aber wenn er deine Gefühle erwidert, wäre das Missbrauch von Schutzbefohlenen.« Ich sehe sie an, weiß überhaupt nicht, was ich jetzt erwidern soll. Aber sie erwartet anscheinend auch keine Antwort von mir. »Ich meine ja nur, dass du dich vorsehen sollst«, fügt sie hinzu. »Es liegt in der Natur der Sache, dass du enttäuscht wirst. Meistens benutzen die Männer in diesem Alter jüngere Mädchen wie euch, um ihren Spaß zu haben. Die wenigsten würden ihr gemachtes Nest verlassen oder sich gar scheiden lassen.« Die letzten Worte klingen nicht mehr ganz so gelassen, sie hat sie richtig zornig hervorgestoßen und jetzt schlägt sie sogar mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser leicht klirren. Bernadette zuckt zusammen und schaut mich fragend an. »Und vor allem«, ereifert sich Brigitte weiter, »seht ihr beiden nur zu, dass ihr immer geschützt seid! Nicht nur wegen Aids, sondern auch vor einer Schwangerschaft. Das geht in eurem Alter ruck, zuck! Und ihr wollt euch wohl nicht im Ernst mit einer Abtreibung befassen, oder?« Bernadette zwinkert mir aufmunternd zu und ich weiß, dass sie ihre Mutter gerade für völlig abgedreht hält, aber ich frage mich, was mir Brigitte wirklich sagen will. Ihre Besorgnis klingt echt. Doch worüber ist sie tatsächlich besorgt? »Tut mir leid, dass ich mich so aufrege.« Brigitte lehnt sich jetzt im Stuhl zurück. Offenbar hat sie selbst gemerkt, wie hysterisch sie klingt. »Aber ich möchte auf keinen Fall, dass du da in etwas reingerätst, das dir über den Kopf wächst, Lissie. Dafür mag ich dich viel zu gern.«
Mir schießen die Tränen in die Augen. Niemand außer Papa hat sich je um mich Sorgen gemacht. Gleichzeitig schäme ich mich so maßlos, muss schluchzen, und weil die Situation so völlig wahnsinnig ist, muss ich auch kichern und heraus kommt eine groteske Mischung aus beidem. Bernadette und Brigitte sehen sich betroffen an. Brigitte holt ein ungebleichtes Taschentuch aus ihrer Hosentasche und reicht es mir. »Ich wollte dich nicht kränken«, sagt sie bestürzt. »Aber sieh dich vor! Nimm dich wichtig! Lass niemals zu, dass du in der zweiten Reihe stehst!« »Aber da sieht man doch besser!«, grinst Bernadette und legt einen Finger an ihr Auge. Sie lacht mir wieder aufmunternd zu. »Hey, Lissie, wenn du lieber nicht darüber reden willst, okay.« Sie deutet mit dem Kopf zu ihrer Mutter. Mir wird übel. Bernadette glaubt, dass ich ihr die wirklich spannenden Details erzähle, wenn Brigitte erst weg ist. Ich halte das Taschentuch weiter vor mein Gesicht, als könnte der dünne Stoff verhindern, dass ich den Tatsachen endlich ins Gesicht sehen muss. Mir ist nicht mehr nach Kichern, nur noch nach hemmungslosem Schluchzen. Das hast du dir selbst eingebrockt, denke ich, jetzt reiß dich zusammen! Wenn du etwas ändern willst, dann tu es. Alles andere ist Heuchelei! Bernadettes Mutter tätschelt meinen Rücken. »Lissie, wenn dir das so an die Nieren geht, dann überleg doch einfach mal, ob er das wirklich wert ist?« Ich stehe auf. Keine Sekunde länger kann ich ihre freundlich besorgte Anteilnahme aushalten. »Entschuldigt mich bitte einen Augenblick«, quetsche ich gerade noch raus, dann flüchte ich aufs Klo. Als ich dort in den Spiegel mit dem dicken vergoldeten Rahmen blicke und mein rotes, völlig verquollenes Gesicht anschaue, frage ich mich, was für eine Art Mensch ich geworden bin. Ich darf bei meiner besten Freundin Bernadette für eine lächerlich geringe Miete wohnen, was wiederum nur der Großzügigkeit ihrer Mutter zu verdanken ist. Ich sitze seelenruhig auf ihrer Terrasse und trinke Eistee, während sie sich um mich Sorgen macht, als wäre ich ihre eigene Tochter. Und wie vergelte ich das alles? Ich verliebe mich in ihren Mann. Ich bin ein mieses, mieses Miststück. Ja, das bin ich. Unvermittelt strecke ich mir die Zunge raus, finde mich lächerlich kindisch, beiße mir auf die Lippen, das ist schon besser, das tut wenigstens weh. »Kai, es ist aus!«, flüstere ich. Nein, das geht nicht. Ich will nicht, dass es aus ist. Aber ich will auch nicht, dass es weitergeht. Ich atme tief durch, streiche meine langen Haare hinter meine Ohren, nehme die Schultern zurück und versuche, mich an die alte Lissie zu erinnern, die vertraute, vernünftige Lissie. »Kai, es ist aus!« Jetzt hört es sich schon viel mehr so an, als ob ich das wirklich wollen würde. »Kai, glaub mir, es ist besser so.« Ja, genau das muss ich zu ihm sagen. Noch heute. Durch die Klotür hindurch höre ich, wie sich Brigitte von ihrer Tochter mit einem Küsschen verabschiedet. »Lernt schön für die Bioarbeit!«, ermahnt sie Bernadette noch, dann klappt die Tür ins Schloss. Eigentlich hätte ich erwartet, dass Bernadette sofort an die Klotür kommt, aber draußen ist nichts zu hören. Ich schaufele mir kaltes Wasser ins Gesicht und sage immer wieder vor mich hin: »Es muss ein Ende haben. Kai, es ist aus, aus, aus.« Dann trockne ich mein Gesicht ab, was mich daran erinnert, wie ich das letzte Mal mit Kai zusammen geduscht habe und er mich langsam und liebevoll abgetrocknet hat. Lissie! Noch eine große Handvoll kalten Wassers. Es muss aus sein. Denk an die schlechten Filme! Denk an die Tussis, die nichts Besseres zu tun haben, als irgendeinem blöden Typen nachzulaufen, ohne Sinn und Verstand. Du bist klüger, Lissie. Brigitte hat recht. Ich muss mich endlich wichtig nehmen. Ein letztes Mal wische ich mir über die Augen, dann verlasse ich die Toilette. Von Bernadette ist weder in der Küche noch auf der Terrasse etwas zu sehen. Ich laufe in mein Zimmer zum Telefon, vielleicht erwische ich Kai am Handy, aber an der Tür bleibe ich stehen. Bernadette beugt sich über meinen Schreibtisch. »Was machst du denn da?«, frage ich irritiert. Sie sieht nachlässig hoch. »Hey, da bist du ja wieder. Ich suche nach einem Geodreieck. Meins muss ich verloren haben. Ich kann es jedenfalls nicht finden.« »Ist in meinem Rucksack.« Ich nehme den schwarzen Rucksack von meinem kleinen roten Klappsofa und hole ein ramponiertes Geodreieck heraus. »Bio?«, frage ich. Bernadette nickt. »Geht’s dir wieder besser?«, fragt sie etwas schnippisch zurück. Und jetzt verstehe ich plötzlich, warum sie nicht vor der Klotür gelauert hat, in Erwartung aller schmutzigen Einzelheiten. Bernadette ist gekränkt, dass ich mich ihr nicht anvertraut habe. Oh Mann, ich habe mich wirklich zwischen alle Stühle gesetzt.
Spontan laufe ich zu ihr und nehme sie in den Arm. »Hey, ich hätte es dir bestimmt gebeichtet, echt!« Sie zuckt mit ihren molligen Schultern. »Ist schon okay. Lernen wir zusammen?« Ich will gerade nicken, einfach um sie nicht schon wieder zu enttäuschen, doch dann fällt mir ein, was ich mir vorgenommen habe. Ich muss zuerst mit Kai reden. Solange ich sicher bin, dass es das Richtige ist. Solange die alte Lissie noch die Oberhand hat. »Ich muss dringend etwas erledigen. Vielleicht später, ja?«, sage ich entschuldigend. Bernadette ringt sich ein Lächeln ab. »Klar, wir sehen uns.« Sie verlässt mein Zimmer über die Terrasse und schließt demonstrativ die Balkontür hinter sich. Ich greife nach meinem Handy, doch statt seine Nummer einzutippen, lasse ich es zögernd sinken. Will ich das wirklich? Um mir Mut zu machen, rufe ich mir noch einmal Brigittes Worte ins Gedächtnis. »Das Mädchen bezahlt einen hohen Preis. Du willst doch nicht in der zweiten Reihe stehen, oder?« Sind das nicht bloß Plattitüden?, frage ich mich plötzlich. Was weiß Brigitte von der wirklichen, der wahren Liebe, die sich weder um Konventionen noch um Alter schert? Ist nicht das, was Kai und ich miteinander erleben, etwas ganz und gar Besonderes? Etwas, das Brigitte mit ihren etwas spießigen Moralvorstellungen gar nicht verstehen kann? Aber wenn er genauso fühlt wie ich, wenn unsere Liebe etwas Besonderes ist, warum hat er mir dann noch vor zwei Tagen ganz sachlich erklärt, dass er Brigitte niemals verlassen würde? Vorgestern hat mich das nicht verletzt, ganz im Gegenteil, er hätte mich enttäuscht, wenn er etwas anderes gesagt hätte.
Aber jetzt?
Willst du immer in der zweiten Reihe stehen?
Ich hole tief Luft und drücke die grüne Taste. Kai meldet sich fast nach dem ersten Klingelzeichen. Bevor er mich richtig begrüßen kann, verlange ich, dass wir uns sofort sehen. »Was ist denn los?«, fragt er und seine Stimme klingt liebevoll und samtig. Und wie immer möchte ich mich in diese Stimme einfach fallen lassen, mein Körper reagiert unaufgefordert, würde am liebsten zu ihm rennen. Mit allergrößter Anstrengung gelingt es mir weiterzusprechen. »Wir müssen reden, und zwar jetzt gleich!« »Ich muss erst noch zu einer Baustelle, aber in einer Stunde in der Wohnung, okay?« Es klickt und die Verbindung ist tot. Tot. Ohne Kai leben, was ist das anderes als Selbstmord auf Raten? Sei nicht so dramatisch, rufe ich mich zur Ordnung. Du hast ja auch schon ohne ihn gelebt. Aber das überzeugt mich nicht, der Vergleich hinkt! Ein Blinder, der plötzlich sehen kann, wird auch nie wieder blind sein wollen, weil er endlich weiß, was Farbe bedeutet. Und ich war definitiv blind, gefühlsblind, bis Kai kam. Hör auf, Lissie! Schluss damit. Es muss einfach sein. Endlich mal das Richtige tun!