20. Kapitel

Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, habe ich trotzdem furchtbare Angst, dass mich eine neue Überraschung erwartet. Langsam öffne ich die Tür, die Luft ist stickig, was ein gutes Zeichen ist, denn ich habe alle Türen fest zugesperrt und niemand scheint sie in der Zwischenzeit geöffnet zu haben. Erleichtert laufe ich durch die Wohnung und reiße die Terrassentüren und Fenster auf, um etwas Durchzug zu schaffen. Vor Bernadettes Zimmer bleibe ich zögernd stehen. Verdächtige ich wirklich Bernadette? Ich denke daran, wie sie mein Fahrrad repariert hat. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass Bernadette mich derart hasst. Sie spielt gerne die beleidigte Leberwurst, wenn sie das Gefühl hat, dass ich sie vernachlässige. Aber Hass? Andererseits kennt sie sich am besten in unserer Wohnung aus. Und sie ist die Einzige, die hier ein und aus geht. Ich erinnere mich an den Abend vor Kais Tod, als sie in meinem Zimmer angeblich ein Geodreieck gesucht hat. Hat sie da vielleicht in meinem Zimmer herumgeschnüffelt? Langsam trete ich durch den Türrahmen. Als Erstes fällt mein Blick auf die dicke Diddlmaus in ihrem kubischen Klubsessel. Ihr breites Grinsen macht mich wütend. So als würde sie sich über mich lustig machen. Quatsch, ermahne ich mich. Das ist ein Stofftier, sein Lachen ist angenäht, wie das der etwa dreißig anderen Plüschtiere, die sich auf Bernadettes Bett tummeln. Ich habe meine Plüschtiere unterm Bett versteckt, als ich dreizehn wurde. Mir waren sie peinlich geworden, fast so, als hätte ich noch Barbiepuppen im Regal. Als mir dann mein erster Freund einen knuddeligen Minitiger als Schlüsselanhänger geschenkt hat, fand ich das wieder süß. Aber Bernadettes Anhäufung von Eisbären, Braunbären, Koala-und Pandabären, Löwen und Robben auf dem Bett spielt doch in einer etwas anderen Liga. An Bernadettes Wänden hängen keine Bilder, weil die Wände in einer aufwendigen Spachteltechnik gestaltet worden sind, eine Wand knallig pink, die anderen beiden in einem Eierschalenton, die vierte ist die Glasfront zur Terrasse. Links neben dem Bett steht ihr Schreibtisch, auf dem sich neben alten Festplatten leere Keks-und Schokokussschachteln türmen. Ich nähere mich dem Schreibtisch, lege die Hand auf den Griff der obersten Schublade, ziehe sie aber nicht auf, sondern setze mich auf den Schreibtischstuhl und frage mich, was ich tun würde, wenn ich etwas Verdächtiges fände. Unruhig stehe ich wieder auf und wandere durch die Wohnung. Schließlich lande ich auf dem Balkon, wo mich die Hitze beinahe umhaut. Ein Geräusch durchschneidet die Stille. Ein Schlüssel wird umgedreht, die Haustür geöffnet, dann sehe ich, wie Bernadette hereinkommt. »Hi!«, rufe ich, aber sie verschwindet direkt im Badezimmer. »Ich komme gleich!« Ihre Stimme klingt dumpf durch die geschlossene Tür. »Ein Notfall!« Was für ein Glück, dass ich rechtzeitig ihr Zimmer verlassen habe. Wenn sie mich erwischt hätte! Endlich verlässt sie das Bad und läuft hinüber zu ihrem Zimmer. Nach wenigen Minuten kommt sie wieder raus, aber sie ist völlig verändert, leichenblass und ihre Augen sind zu schmalen Schlitzen zusammengepresst. »Lissie!«, sagt sie merkwürdig tonlos. »Komm doch bitte mal mit.« Dann zerrt sie mich in ihr Zimmer und zu ihrem Laptop und zwingt mich, auf den Monitor zu schauen. Als ich das Bild sehe, wird mir übel, ich merke, wie alles vor meinen Augen verschwimmt. »Make Love«. Zara Zapp hat wieder ihre Mail verschickt, diesmal jedoch nur mit einem Anhang. Das Bild brennt sich mir ins Gehirn, ich kann nicht sprechen, obwohl ich es versuche. »Das ist ja wohl das Allerletzte. Du bist das Allerletzte!« Bernadettes Stimme klingt schrill, sie überschlägt sich fast. »Wir sind Freundinnen und dann das? Du hast mit Kai rumgemacht? Das ist ja... widerlich, nein, das ist krank! Wie lange ging es?« Sie keucht. »Und wo kommt dieses Foto her? Wer soll diese bescheuerte Zara Zapp sein?« Ich halte unwillkürlich die Luft an. Und merke, dass ich erleichtert bin. Es ist unglaublich, vor diesem Moment habe ich mich so sehr gefürchtet, aber jetzt, wo er endlich da ist, bin ich nur noch froh, froh, dass diese elende Lügerei endlich ein Ende hat, und vor allem erleichtert, dass ich recht hatte. Bernadette wusste tatsächlich nichts von Kai und mir. »Du hast recht. Es ist unverzeihlich!«, flüstere ich. »Erklär es mir! Sag schon!« »Ich...« Bernadette marschiert wütend durch ihr Zimmer. »Du hast mich nur benutzt, hast dich wie eine Zecke in unsere Familie fallen lassen und saugst uns das Blut aus, zerstörst alles.« Ich starre auf den Boden. Was könnte ich antworten? Wie soll ich mich bloß rechtfertigen, wenn es in Wahrheit keine Rechtfertigung gibt?

Bernadette setzt sich hin, steht wieder auf und bleibt mit verschränkten Armen vor mir stehen. »Rede!« Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber ich will jetzt nicht heulen, schließlich habe ich mir das alles selbst eingebrockt. Ich schaue sie an, schlucke das Schluchzen in der Kehle hinunter, will mich räuspern. »Verdammt noch mal, jetzt rede endlich!« »Es tut mir so leid. Ich habe das nicht gewollt.« »Warum hast du es dann getan?« »Es war wie ein Rausch . . .«, stammele ich. »So etwas habe ich noch nie erlebt.« »Mit Kai, ja?« Bernadette schüttelt den Kopf. »Mit diesem alten Sack? Meinem Stiefvater?« Die letzten Worte spuckt sie mir fast ins Gesicht. Ich kann wieder nur nicken. Aber dann auf einmal werde ich wütend, ich stehe nicht vor Gericht und ich bin kein Monster. »Er war kein alter Sack und ich habe ihn geliebt. Das war vielleicht unmoralisch, aber meine Gefühle waren echt. Kannst du das nicht ein bisschen verstehen? Glaubst du, ich hätte aus lauter Spaß riskiert, dich und deine Mutter zu verletzen? Glaubst du das wirklich von mir?« Bernadette setzt sich wieder, nimmt einen Eisbären auf den Schoß und streichelt ihn geistesabwesend. »Raus«, sagt sie tonlos. »Bloß raus hier. Hau einfach ab.«

Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf meinem Bett sitze und die Wand anstarre. Ein paar Klamotten liegen verstreut auf meinem Bett, ich habe einen Koffer aus dem Schrank gezogen, aber er ist leer. Mitten im Packen habe ich mutlos aufgegeben, ich weiß einfach nicht, wo ich hinsoll. Ich weiß nicht, was jetzt werden soll.

Plötzlich höre ich leise Schritte und ein Klopfen. Ich sehe hoch. Bernadette steht in der Tür. Ihr Gesicht sieht so erbärmlich aus, wie ich mich fühle. »Lissie, bleib bitte hier«, sagt sie. Sie ringt die dicklichen Hände. »Ich hab . . . ich hab nachgedacht. Und ich glaube inzwischen, dass du recht hast. Niemand tut so etwas extra.« Ihre Augen schimmern feucht. »Weißt du, mir geht es ja auch nicht um Kai. Kai ist mir eigentlich völlig egal. Mama nicht, aber Kai schon.« Sie schluckt hörbar. »Und du – du bist mir auch nicht egal. Aber du hast mich aus deinem Leben ausgesperrt. Ich glaube, das ist überhaupt das Allerschlimmste.« Jetzt weint sie tatsächlich. »Ich dachte, wir wären Freundinnen! Wie kann eine Freundin so etwas tun, ohne auch nur ein Wort zu sagen? Wer weiß, vielleicht hätte ich es sogar verstanden.« Ich springe vom Bett auf und gehe zu ihr. Sie wirkt nicht mehr wütend, sondern nur noch furchtbar verletzt. »Ich hätte dir so gern alles erzählt! Wirklich, glaube mir, ich wollte keine Geheimnisse vor dir haben, niemals. Ich hab es sogar ein paarmal versucht.« »Wie kann ich dir je wieder vertrauen?« »Ich werde mir dein Vertrauen verdienen, ich werde darum kämpfen.« Sie mustert mich skeptisch. »Doch! Ich beweise es dir.« Und dann bricht es wie eine Lawine aus mir heraus und ich erzähle ihr alles, was passiert ist. Während ich ihr vom T-Shirt bis zum Drogencheckgerät jedes Detail erzähle, entspannt sie sich etwas, und als ich fertig bin, dreht sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »Bernadette, bitte verzeih mir«, sage ich, als ich geendet habe. »Hilf mir, diese Sache durchzustehen. Ich brauche dich. Und glaub mir, dass ich dir nie, nie, nie wehtun wollte.« Sie räuspert sich. »Ich verzeihe dir. Aber vergeben? Ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin. Kannst du das verstehen?« Mir fallen Tonnen von Bergen von der Brust, am liebsten würde ich sie umarmen, aber ich traue mich nicht. »Bernadette, du bist so großartig. Ich verspreche dir, ich werde alles wiedergutmachen.« Sie zuckt mit den Schultern, dann geht sie einen Schritt auf mich zu und legt unbeholfen einen Arm um mich. So stehen wir schweigend beieinander, als eine Stimme von der Terrasse ertönt. »Was für ein herziges Idyll!« Wir fahren auseinander, als hätten wir etwas Verbotenes getan. »Wo kommst du denn her?«, fragt Bernadette. Nico steht auf dem Balkon, und weil die Sonne ihn direkt von hinten anstrahlt, sieht er für uns aus wie ein Schattenriss. Er verbeugt sich übermütig, als würde er den Hoteldiener in einem österreichischen Heimatfilm geben: »Meine Damen, die Tür war offen. Ich soll euch daran erinnern, dass wir in einer Stunde zur Beerdigung fahren. Macht euch schick und kämmt die Haare.« Er verbeugt sich wieder und kichert, als wäre er betrunken. Vielleicht ist er betrunken? Als wir zusammen waren, hat er nur selten Alkohol getrunken, allerhöchstens mal ein Bier. Er dreht sich einmal um seine eigene Achse und pfeift dabei vor sich hin. Etwas Altmodisches wie »Yesterday«, glaube ich. »Okay.« Bernadette geht überhaupt nicht auf seine Bemerkungen ein und macht mit ihrer Hand eine ungeduldige Bewegung, um ihn wegzuschicken. Nico zwinkert mir zu und geht dann immer noch pfeifend davon.

»Bist du dir sicher, dass ich mitkommen soll?«, frage ich leise. Bernadette nickt. »Es ist komisch«, sagt sie. »Aber ich habe das Gefühl, ohne dich stehe ich das nicht durch.« Sie geht zur Tür. »Aber hör mal, Mama darf niemals etwas von dir und Kai erfahren, versprich mir das!« Sie sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Niemals!«, beharrt sie. Ich nicke. »Sind wir wieder Freunde?«, frage ich zaghaft, schließlich hat Nico uns mittendrin unterbrochen. Bernadette nickt ernsthaft. »Freunde!«