26. Kapitel
Am nächsten Morgen wache ich von einem ungewohnten Geräusch auf. Es regnet, doch es ist dadurch nicht kühler geworden, sondern treibhauswarm. Auf dem Weg zum Klo komme ich am Bad vorbei. Plötzlich fällt mir schlagartig alles wieder ein, was gestern Abend passiert ist. »Vio?«, rufe ich und schaue in Bernadettes Zimmer nach. Doch da ist weder Violetta noch ihre jüngere Schwester. Das Bett ist ordentlich gemacht, die Stofftiere sind auf der Decke aufgereiht. Ich betrachte die Diddlmaus, die auf dem Sessel sitzt, und mir kommt ein übler Verdacht: Violetta hat den Stoff gesucht und ist damit abgehauen. Und tatsächlich: Der Bauch ist leer. Darum hat sich Violetta also so um mich bemüht: damit sie hierbleiben und in aller Ruhe die Wohnung durchsuchen konnte. Trotzdem wundert es mich, dass sie dieses Versteck gefunden hat. Ich wäre nie im Leben darauf gekommen, im Bauch der Maus nachzuschauen. Als ich in die Küche komme, kann ich kaum glauben, dass es bereits zehn Uhr ist. Wie konnte ich so verschlafen? Auf dem Küchentisch finde ich einen Zettel. »Hi Lissie«, steht da in Bernadettes Schrift geschrieben. »Du hast so fest geschlafen, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe, dich zu wecken. Ich werde mir für die Biesler eine Entschuldigung einfallen lassen, von wegen, dass dich Kais Tod in unserem Haus so mitgenommen hat. Die fließt bestimmt über vor Mitleid, wenn sie mich sieht.« Bernadette hat einen Smiley dahinter gesetzt. »Bis heute Nachmittag. Küsschen, Bernadette.« Am Schluss steht noch ein PS: »Sorry, dass ich gestern Abend doch nicht gekommen bin. Nico ging es ziemlich beschissen. Könntest du einkaufen? Wir haben fast nichts mehr im Haus.« Ich lasse den Zettel liegen, hole mir eine Schale und schütte Müsli hinein. Ja, ich werde heute schwänzen. Es gibt so vieles, das ich klären muss. So vieles, um mein Leben wieder zurückzubekommen. Und einen Anfang werde ich damit machen, dass ich endlich etwas esse. Ich finde noch einen letzten Rest H-Milch in dem fast leeren Kühlschrank, neben einer halben Zitrone und etwas vertrocknetem Käse. Bernadette hat recht, wir müssen wirklich dringend einkaufen. Nach dem Frühstück laufe ich in mein Zimmer. Zuerst wähle ich die Vorwahl für Italien und dann die Nummer, die Tante Stella mir gegeben hat. Das Krankenhaus meldet sich, doch Nonna ist in einer Behandlung. Deswegen rufe ich Tante Stella an. Stella hat heute mehr Zeit als gestern und versorgt mich mit vielen Details: wie sehr Oma die Kompressionsstrümpfe hasst und dem Pflegepersonal das Leben schwer macht, dass im Bett neben Nonna ein junges Mädchen liegt, das einen schweren Verkehrsunfall hatte und von Oma quasi mitgepflegt wird, und dass Stella sich furchtbare Sorgen um Papa macht, weil sie ihn schon seit Tagen nicht erreichen kann. Ich versuche sie zu beruhigen und verspreche ihr, dass ich es weiter bei Papa probiere. Nachdem ich aufgelegt habe, fühle ich mich viel besser, auch wenn die Ereignisse der letzten Nacht mir noch in den Knochen stecken. Ich mache mir einen Kaffee und überlege, wie ich weiter vorgehen werde. Am besten stelle ich eine Liste auf mit allem, was passiert ist.
Aber vorher will ich noch einmal im Internet über den Unfall von Brigittes Mann recherchieren, denn das, was Violetta mir gestern über den Tod von ihrem richtigen Vater erzählt hat, will mir nicht aus dem Kopf gehen. Ich setze mich mit dem Kaffee an meinen Laptop und schalte ihn ein. Kais Mails mit den Neruda-Gedichten fallen mir wieder ein und schnell klicke ich mich ins Internet, damit ich bloß nicht darüber nachdenken muss. Diesmal gehe ich ins Archiv der TZ und gebe den Namen Brigitte Keilmann ein. Vielleicht finde ich hier etwas anderes als bei der AZ. Es kommen ähnliche Fotos wie neulich, wilde Partys, immer Brigitte an der Seite ihres wesentlich älteren Mannes. Auch hier gibt es das Foto der schwangeren Brigitte im Dezember vor einer Anwaltskanzlei, danach dann nichts mehr, auch hier. Kein Bild von der kleinen Bernadette, die im Februar geboren wurde, nur ein winziges Foto von Brigitte, im Oktober des gleichen Jahres bei der Beerdigung ihrer Mutter, die zum Ärger der Journalisten nur im kleinen Kreis stattgefunden hat. Sie trägt ein schwarzes Kostüm mit einem engen Rock, nichts Besonderes. Dann wieder das Foto mit der Taufe von Bernadette und Nico im Februar des folgenden Jahres, das ich schon kenne. Und hier, in der Bildunterschrift, stoße ich plötzlich auf den Grund, warum zu der Zeit so wenig von den Keilmanns in der Presse zu lesen war. »Bringt sie das Heimweh zurück nach Deutschland?«, fragt die TZ. »Nach fast einem Jahr in ihrer Luxusvilla in Florida lassen Brigitte und Paul Keilmann ihre süßen Babys in der alten Heimat taufen.« Ich betrachte die Bilder. Komisch, mein Gefühl sagt mir, dass hier irgendetwas nicht stimmt, aber ich habe keine Ahnung, was es ist.
Ich suche weiter. Es folgen diverse Fotos von Paul und Brigitte Keilmann bei Ausstellungseröffnungen, Charity-Events und Galabällen, aber nicht mehr so wild wie vorher. Dann der Unfall. Hierzu gibt es kein Foto, nur einen Bericht. Aber der haut mich beinahe um. Hier steht: »Heute Nacht wurden der bekannte Paul Keilmann und sein Beifahrer Opfer eines Geisterfahrers. Der Rentner Wilhelm P. fuhr kurz hinter Eching auf die falsche Seite der Autobahn auf und rammte den Pkw von Herrn Keilmann frontal. Beide Insassen waren sofort tot. Auch der Geisterfahrer erlag noch an der Unfallstelle seinen Verletzungen.« Der Artikel geht noch weiter, die TZ fragt, ob man ab einem bestimmten Alter die Führerscheinprüfung wiederholen sollte, aber ich lese nicht weiter. Brigittes Mann ist nicht allein gestorben. Wer war der andere im Auto? Und warum stoße ich jetzt erst darauf? Es klingelt. Ich gehe zur Tür und schaue durch den Spion. Draußen steht Brigitte. Es ist unheimlich, gerade so, als ob ich sie durch meine Recherchen auf den Plan gerufen hätte. Was kann sie nur wollen? Und warum spaziert sie nicht einfach in die Wohnung, so wie das alle anderen in diesem Haus tun? Ich öffne die Tür einen Spalt. »Ja?« »Ich habe von Violetta gehört, dass es dir nicht gut geht«, sagt sie freundlich. »Kann ich etwas für dich tun? Soll ich einen Arzt rufen?« Ich starre sie an. »Ist nicht nötig«, stammele ich. »Ich habe mir nur den Magen verdorben. Morgen geht es bestimmt wieder.« »Na dann, gute Besserung.« Sie lächelt und will wieder gehen. »Brigitte?« Ich fasse es selbst nicht, was ich tue. Aber ich muss die Chance nutzen. Ich öffne die Tür weiter. »Willst du nicht hereinkommen?«, frage ich und versuche, freundlich zu lächeln. Sie zögert, dann tritt sie näher. »Du siehst sehr blass aus. Bist du dünner geworden?« Sie mustert mich. »Ich kann dir ein bisschen Hühnersuppe auftauen, das hilft immer.« »Mach dir doch keine Mühe.« Ich unterdrücke mühsam das Bild, wie Brigitte in ihrer Küche steht und Gift in meine Hühnersuppe schüttet. »Ich habe nur eine kleine Magenverstimmung. Aber du hast deinen Mann verloren. Das ist viel schlimmer.« Brigittes Gesicht verschließt sich, ihr Lächeln verschwindet und ihr Blick wird wachsam. Ich lasse mich nicht beirren, sondern versuche daran zu denken, was ich mir vorgenommen habe. »Noch dazu, dass dir das Ganze wie ein Déjà-vu-Erlebnis vorkommen muss...«, füge ich tapfer hinzu. »Wie meinst du das?«, fragt sie. »Dein erster Mann ist doch auch schon durch einen Unfall gestorben. Das war bestimmt schrecklich.« Sie nickt. »Gehen wir auf die Terrasse?«, schlägt sie vor und läuft los. Wir setzen uns unter die Markise. Nach dem Regen in der Nacht ist es noch schwüler als zuvor. Ich weiß nicht, ob meine Haut nass von Schweiß oder Luftfeuchtigkeit ist. »Es ist immer schwer, wenn jemand stirbt«, sagt Brigitte. »Für die Kinder war es besonders dramatisch damals.« »Ja, als Mama starb, war es für mich auch schlimm...« Brigitte sieht mich mitleidig an. »Vermisst du sie sehr?«, fragt sie. »Ich weiß nicht einmal mehr, wie sie ausgesehen hat. Ich kenne nur die Fotos, aber ob ich eine eigene Erinnerung habe? Ich glaube nicht.«
»Du warst eben noch zu klein.« Ich traue mich nicht, sie direkt zu fragen. Wie stelle ich es nur an, auf diesen Beifahrer zu kommen? »Ich denke immer, dass ein Unfall etwas anderes ist«, versuche ich es. »Papa konnte sich noch von Mama verabschieden. Aber ein Unfall? Noch dazu, wenn mehrere Menschen dabei umkommen.« Brigitte schaut mir fest in die Augen. »Der Geisterfahrer hatte zum Glück keine Angehörigen mehr.« Obwohl mir klar ist, dass dieser Blick mich daran hindern soll weiterzubohren, wage ich es. Ich habe schließlich nichts zu verlieren. »Und wie war das mit dem Beifahrer?« Brigitte faltet ihre Hände, so als müsste sie sich sehr beherrschen. »Lissie, ich verstehe, dass du durcheinander bist. Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, in meinem Leben herumzuschnüffeln.« »Ich, ich, äh...«Mir fällt nichts ein. Oh Gott, wie winde ich mich da nur wieder raus? Mein Telefon klingelt. Endlich habe ich auch mal Glück. »Entschuldige, vielleicht ist es Papa . . .«, behaupte ich und renne in mein Zimmer. Es ist Tabea, die wissen will, warum ich gestern angerufen habe und wo ich stecke. Ich frage sie, ob es sein kann, dass sie mich schon öfter hier angerufen hat. Da lacht sie ungläubig und fragt mich, ob ich sie für dumm verkaufen will. Sie hätte sich die Finger wund gewählt, mir ständig aufs Band gesprochen, aber ich hätte nicht ein Mal zurückgerufen und mein Handy würde ich wohl auch nicht abhören. »Moment mal«, mir fällt etwas ein, »du hast doch meine neue Handynummer noch gar nicht.« »Doch. Die hat mir Bernadette gegeben. Die geht wenigstens ans Telefon.« Mir wird ganz elend. »Und welche Nummer ist das?«
»Was soll denn die blöde Frage schon wieder?« Ich beschwöre sie noch einmal und die Nummer, die sie dann nennt, ist nicht meine. Ich denke an Brigitte, die auf der Dachterrasse sitzt. »Tabea, ich muss unbedingt mit dir reden. Ich brauche Hilfe.« Tabea schweigt. »Bitte!« »Gut«, stimmt sie schließlich zu. »Morgen nach der letzen Stunde gehen wir zusammen zum Mäcki, okay?« Ich bedanke mich überschwänglich, lege auf und laufe zurück zu Brigitte, die mittlerweile aufgestanden ist. »Ich muss los«, sagt sie leichthin. »Aber vorher werde ich dir noch verraten, was du so unbedingt wissen wolltest. Sonst glaubst du noch, wir hätten hier schreckliche Geheimnisse zu verbergen.« Sie zupft ein paar welke Blätter an den Rosen ab. »Paul hat unser Au-pair-Mädchen vom Flughafen abgeholt. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und ja, sie hatte Angehörige. In Amerika.« Sie schaut mich so durchdringend an, dass ich mich plötzlich schäme. In der Tür drehe ich mich noch einmal um. »Weißt du, ich habe Paul so sehr geliebt«, sagt sie leise. »Als ich ihn verloren habe, ist meine Welt zusammengebrochen. Der Altersunterschied zwischen uns hat damals überhaupt keine Rolle gespielt. Deswegen habe ich es auch verstanden, dass du dich in diesen Lehrer verliebt hast.« Ich höre die Trauer in ihrer Stimme und komme mir furchtbar schäbig vor. »Das alles war sicher sehr schlimm.« Ich stottere mehr, als dass ich rede. »Manchmal ist das Schlimmste für alle das Beste. Aber um das zu verstehen, musst du noch älter werden.« Sie macht die Tür auf und einen Moment später ist sie verschwunden.