27. Kapitel
Meine Gedanken drehen sich nur im Kreis, ich weiß, dass ich dringend hier rausmuss, und sei es nur zum Spazierengehen. Wenn Papa das hören könnte, würde er sich freuen, denn er liebt Spaziergänge. Wenn er früher versucht hat, mich zum Mitkommen zu bewegen, musste er mich schon mit einem lohnenswerten Ziel locken: ein See mit Enten, ein Spielplatz mit Schaukeln oder eine Eisdiele. Eigentlich bin ich schon fast an der Tür, aber jetzt drehe ich um und versuche, Papa anzurufen. Eigentlich glaube ich nicht mehr daran, ihn zu erreichen, aber diesmal habe ich Glück. Die Verbindung klappt und er ist sogar gleich dran. »Wie geht’s dir?«, fragen wir gleichzeitig und müssen lachen und gleichzeitig fast weinen, ich ebenso wie Papa, der nahe am Wasser gebaut ist. »Meine Principessa«, sagt er. »Ich habe dich so vermisst. Und ich bin fast durchgedreht vor Sorge! Ich habe deine SMS bekommen, aber wir sind erst heute Morgen aus diesem verflixten Sturm herausgekommen. Sogar die Route mussten wir ändern. Was ist denn bloß passiert? Geht es dir gut, meine Kleine?« Als ich seine Stimme höre, so liebevoll und besorgt, wird mir plötzlich klar, dass ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht habe. Wie habe ich mir einbilden können, dass ich es fertigbringen würde, Papa am Telefon alles zu erzählen? Er würde verrückt werden, weil er so weit entfernt von mir ist und mir nicht helfen kann. »Alles nicht so schlimm«, bringe ich tapfer hervor. »Lissie!« Ich höre sein Schmunzeln in der Stimme. »Du redest mit mir. Deinem Papa. Ich höre doch, dass etwas nicht stimmt. Kannst du es mir nicht sagen?«
Ich schüttele den Kopf, obwohl er mich nicht sieht. »Wirklich«, beharre ich. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe nur solche Sehnsucht nach dir.« Und das ist bestimmt nicht gelogen. »Ich doch auch, meine Süße! Und deswegen sage ich dir auch, was wir dagegen tun.« Seine Stimme platzt vor Stolz. »Ich habe Urlaub genommen und gerade einen Flug gebucht. Wir gehen morgen in Antigua an Land. In zwei Tagen bin ich bei dir.« Jetzt fange ich wirklich an zu weinen, diesmal vor Erleichterung. Er wird kommen, Papa wird kommen! Und dann wird alles gut. Allein seine Stimme zu hören ist wie ein warmes Bad für meine Seele. »Ich bin froh, dass du kommst, Papa, so froh«, stoße ich hervor, als ich mich wieder gefasst habe. Und bevor er noch mehr Fragen stellen kann, berichte ich ihm hastig von Tante Stellas Anruf und Nonnas Oberschenkelhalsbruch. Papa verspricht, sich sofort bei meiner Großmutter zu melden, damit sie sich keine Sorgen macht, und dann erzählt er mir noch ein bisschen vom Bordleben, offenbar will er mich unbedingt aufmuntern. Ein miesmuffeliger Feinschmecker-Kritiker macht ihm das Leben zur Hölle. Er ist kurz vor dem Sturm an Bord gegangen und hat den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, als seine Seekrankheit auf Papas Carpaccio zu schieben. Als mein Vater sich von mir verabschiedet und »ich vermisse dich, meine kleine Principessa Elisa« sagt, schnürt es mir die Kehle zu und ich bin stolz auf mich, weil ich es schaffe, mich trotzdem mit fester Stimme zu verabschieden. Doch dann muss ich einfach nur raus hier. Ich schnappe mir eine Einkaufstasche, renne die Treppen hinunter und treffe Nico, der mich mal wieder ignoriert, was mir recht ist, weil es mir immer noch so unangenehm ist, in welcher Situation ich ihn gestern beobachtet habe. Ich überquere den Bavariaring und laufe zum Supermarkt an der Ecke. Es hat zwar aufgehört zu regnen, aber dafür kommen von Westen her dicke schwarze Wolken. Die Luft ist schwer von Feuchtigkeit. Vielleicht liegt mir aber auch all das, was ich herausgefunden habe, auf der Brust. Wenn ich mal so richtig überlege, weiß ich eigentlich sehr wenig. Wie man es dreht und wendet, Kais Tod bleibt so lange ein Unfall, bis ich das Gegenteil bewiesen habe. Fest stehen nur all diese Gemeinheiten, die sich gegen mich richten, von denen ich nicht weiß, warum und wieso jemand mir das antut. Seit heute Nacht bin ich mir fast sicher, dass Violetta mit der Sache nichts zu tun hat. Sie hat ganz andere Probleme. Sie war zwar in Kais Wohnung, aber ich glaube nicht, dass sie diese Fotos gemacht hat. Nein, Vio braucht Geld, aber mehr steckt nicht dahinter. Es sei denn, sie braucht sehr viel mehr Geld, als ich mir vorstellen kann. Aber diese Worte in der Dusche, das rosa T-Shirt, die zerstörte Mail, spricht das nicht alles eine andere Sprache: Eifersucht, Bosheit... Hass. Nico? Klar, das wäre eine Möglichkeit. Nico war schon immer merkwürdig und er hat Kai verabscheut, so viel steht fest. Aber traue ich ihm wirklich zu, dass er so perfide ist, um all das zu planen? Nico hat sich nie lange für eine Sache interessiert. Außerdem glaube ich nicht, dass er den Mut dazu hätte. Andererseits: Warum ging es ihm an dem Abend so schlecht, als ich das Blut in der Waschmaschine gefunden habe? Um Kai hat er ganz sicher nicht getrauert, so viel steht fest.
Bernadette. Inzwischen weiß ich, dass nicht alles Wahrheit ist, was sie erzählt, zumindest was Tabea angeht. Warum ist sie gestern Abend nicht nach Hause gekommen? Wirklich, weil sie sich um Nico kümmern musste? Aber ihr Entsetzen war nicht gespielt, als sie die Fotos bekommen hat – da bin ich mir hundertprozentig sicher. Im Gegensatz zu Violetta wusste sie wirklich nichts von meiner Beziehung zu Kai. Bleibt Brigitte. Immer wieder komme ich zu dem Punkt zurück. Denn sie ist diejenige, die das stärkste Motiv hat: Eifersucht. Ich unterdrücke ein Seufzen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich keinen der vier wirklich ausschließen. Das alles sind nur Vermutungen, keine Fakten. Warum sieht das in den Fernsehkrimis immer so leicht aus? Wenigstens ein paar Verdächtige haben so etwas wie ein Alibi. Aber wie soll man Alibis überprüfen, wenn ständig etwas anderes passiert? Donnergrollen reißt mich aus meinen Gedanken, es blitzt. Niemand ist mehr auf der Straße außer mir. Noch bevor ich überlegen kann, wo ich mich unterstelle, kracht der Donner direkt über mir und gleichzeitig öffnen sich alle Schleusen, Wasser klatscht auf die Straße, sodass sich an den Kanaldeckeln sofort kleine Überschwemmungen bilden. Ich sprinte die letzten Meter bis zum Supermarkt, doch ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig. Gemeinsam mit einer Traube von anderen Menschen dränge ich mich unter das schützende Dach des Marktes. Unser kleines Grüppchen muss erbärmlich aussehen, die Haare kleben am Kopf und Unterwäsche, Schmuck oder Tätowierungen zeichnen sich durch die hellen Sommersachen ab. Nur eine Hochschwangere mit einem brüllenden Baby im Kinderwagen hat es rechtzeitig geschafft. Sie ist als Einzige trocken geblieben, selbst die Plastikhülle des Kinderwagens hat keinen Tropfen abbekommen. Ich nehme mir einen Einkaufswagen und gehe in den Markt. Langsam durchquere ich die Gänge, ich brauche ewig, um mich für ein paar Grundlebensmittel zu entscheiden. Milch, ein paar Äpfel, Nudeln, Tomatensaft, den ich dann aber nach einem Zögern doch wieder ins Regal zurückstelle. Die Flüssigkeit in der Flasche ist rot. Blutrot. An der Kasse zahle ich und gehe mit meiner Tasche hinaus in den Regen. Es donnert noch, aber sanfter. Der Regen rinnt von meinen Haaren zwischen meine Schulterblätter die Wirbelsäule entlang in meine Hose. Ich kann kaum noch etwas erkennen, weil dicke Tropfen von den Augenbrauen über mein Gesicht laufen. Trotzdem habe ich es nicht eilig, zurück zur Wohnung zu kommen. Langsam gehe ich vorbei an der Theresienwiese, wo trotz des Regens ein Gerüst um die Erste-Hilfe-Station gezogen wird. Neue Farbe für das nächste Oktoberfest. Oktober. Im Oktober wurde das Foto von Brigitte bei der Beerdigung ihrer Mutter gemacht. Vom Februar nächsten Jahres sind die Tauffotos von Nico und Bernadette. Nico hat am Nikolaustag Geburtstag, daher auch sein Name Nikolaus, verständlich, dass er seinen Namen hasst. Die Schwangere mit dem Kinderwagen aus der Eisdiele drängt sich vor mein inneres Auge. Ich muss stehen bleiben, mir bleibt die Luft weg. Das ist es! Brigitte hätte auf dem Beerdigungsfoto hochschwanger sein müssen! Nico kann nicht Brigittes Kind sein. Das ist unmöglich. Auch wenn er eine Frühgeburt war, hätte sie im Oktober keinen engen Rock mehr tragen können. Aber wessen Kind ist er dann? Und kann das etwas mit dem zu tun haben, was passiert ist? Der Regen hat sich inzwischen abgeschwächt, trotzdem türmt sich eine graue Wolkendaunendecke am Himmel. Ich gehe noch langsamer, muss herausfinden, was meine Entdeckung bedeuten könnte. Weiß Nico, dass er nicht Brigittes Sohn ist? Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Beziehung zwischen den beiden ist so eng. Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Wusste Kai etwa davon? Und wenn ja, hat er Brigitte vielleicht gedroht, Nico alles zu erzählen? Was, wenn Brigitte das unter allen Umständen verhindern wollte? Wenn sie ihrem Sohn um jeden Preis die Wahrheit verschweigen wollte? Meine Knie fangen an zu zittern, als ich durchdenke, was das heißen könnte. Kein Unfall. Sondern ein Mord, aus einem völlig anderen Motiv, als ich es mir je hätte denken können.