31. Kapitel

Ich drehe mich trotzdem um. »Ich wusste es. Ich kenne dich besser, als du dich selbst.« Er lächelt. In dieses hintergründige Lächeln, mit der leicht spöttisch verzogenen Oberlippe habe ich mich einmal verliebt. Aber jetzt macht es mir Angst, schreckliche Angst, denn in seinen Händen hält er ein Gewehr. Der Lauf zielt gerade auf meinen Kopf, ohne das leiseste Zittern. »Nico...« »Nicht Nico! Sprich mich gefälligst mit König an, wie es mir gebührt.« »Spinnst du jetzt völlig?« Nico lacht lauthals. »Die Einzige, die hier spinnt, bist doch du. Was für ein elender Wurm bist du denn eigentlich: Schleichst dich hier bei uns ein, nutzt die dumme Bernadette aus, spionierst allen hinterher, klammerst dich an, stiehlst und betrügst, bumst meinen Stiefvater. Wer ist hier verrückt? Du oder ich?« »Nico, ich...« »Nicht Nico! Für dich König! Denk dran, ich bin hier der Chef.« Er wedelt mit dem Gewehr. »Du hast mir zu gehorchen, so einfach ist das. Ich weiß, dass du zu diesen Leuten gehörst, die uns auslöschen wollen. Und ich werde dafür sorgen, dass es dazu nicht kommt. Ich werde uns alle retten.« »Was meinst du mit uns alle?« »Alle, die mir folgen sollten. Das ist doch ganz klar. Jetzt bringe ich dich erst mal zu Brigitte.« »So ein Quatsch!« Er wird rot im Gesicht. »Untersteh dich, so mit mir zu reden. Oder willst du, dass ich dir den Mund verstopfe?« Sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lächeln. »Ach, wo wir gerade so nett darüber plaudern, mach ich das lieber gleich. Du bist eine, der man nicht trauen kann.« Er sieht sich im Zimmer um. Kann ich es riskieren, mich auf ihn zu stürzen und ihm das Gewehr wegreißen? Ich tu es! Springe auf ihn zu und es gelingt mir, ihn zu Boden zu werfen, aber er ist unglaublich stark, schlägt mir mit dem Lauf auf den Kopf, prügelt auf meinen Körper ein. »Nein, nicht, bitte, Nico, hör damit auf!« Ich kann meine eigene Stimme kaum erkennen, so jämmerlich klingt sie. »Wie heißt das?« Er schlägt mich noch einmal. »Bitte hör auf... König.« Ich verstehe das alles nicht. Wenn ich die Tabletten bei Vio gefunden habe, warum benimmt sich dann Nico wie ein Irrer? »Jetzt gehst du zum Schrank und holst das T-Shirt raus. ›Das Böse hat ein neues Gewand.‹ Das steht dir sicher prächtig. Und dann stopfst du dir das Maul mit einem Paar Socken aus, klar?« Ich rappele mich auf, versuche verzweifelt, meine Panik zu bekämpfen. »Hey, Nico«, sage ich so ruhig wie möglich. »Lass uns doch erst mal über alles reden.« Denk nach, Lissie, hämmert es gleichzeitig in meinem Gehirn. Er muss schon die ganze Zeit die Kamera in deinem Zimmer installiert haben, genau wie in der Wohnung in der Westendstraße. Mir wird ganz heiß, wenn ich mir vorstelle, dass ich all die Tage nie allein war. Er hat gesehen, wie ich mich ausziehe, wie ich weine, wie ich ins Bett gehe – und oh Gott, er weiß nicht nur von Kai und mir, sondern er hat auch gehört, was Brigitte vorhin gesagt hat! »Reden willst du?«, höhnt er. »Mit einem König redet man nicht so einfach. Man gehorcht ihm. Wird’s bald?« Wie in Trance schleppe ich mich zum Schrank.

Er hat einen Nervenzusammenbruch, anders kann ich mir sein Benehmen nicht erklären. Ich habe ihn verlassen, mich stattdessen in seinen Stiefvater verliebt und zur Krönung erfährt er auch noch, dass Brigitte nicht seine Mutter ist und ihn nie gemocht hat. Das würde den stärksten Mann umwerfen, oder? König! Wenn ich nur wüsste, was ich tun könnte, um ihn wieder zu sich zu bringen. Immerhin ist er unglaublich schlau, es muss einen Weg geben, zu seiner Klugheit vorzudringen, ich muss ihm klarmachen, dass das der falsche Weg ist. Wenn ich nur wüsste, was er jetzt vorhat! Meine Beine schmerzen, aber es ist nichts gebrochen. Ich ziehe das rosa Shirt an und suche das dünnste Paar Socken heraus, das ich habe. Es ist einen Versuch wert, vielleicht achtet er nicht darauf. Ich tue so, als würde ich mir die Socken in den Mund stopfen, und blase meine Backen auf, dann drehe ich mich zu ihm. Er betrachtet mich aufmerksam. »Gut, dann kannst du mir jetzt folgen.« Ich schüttele wie wild den Kopf. »Das wäre aber nicht klug.« Er hebt tadelnd den Finger. »Denk mal, was der lieben Brigitte alles passieren kann. Willst du wirklich schuld daran sein?« Er sieht mich fast zärtlich an. »Nein, das willst du nicht. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Insgeheim bist du doch froh, dass alles vorbei ist, oder? Dass der König gekommen ist, um dich zu retten.« Er beugt sich vor und flüstert mir ins Ohr. »Hab keine Angst, Lissie. Ich bin ja bei dir.« Mir wird noch flauer im Bauch. Sein Tonfall ändert sich schlagartig. »Los jetzt, wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Ich bleibe sitzen und bewege mich nicht. »Los!« Er fuchtelt bedrohlich mit der Waffe. »Ich sag’s nicht noch einmal!« Kann ich es riskieren, einfach nicht mitzukommen? Ich lasse mich rückwärts nach hinten aufs Bett fallen. »Ich kann...«Ich beiße mir auf die Lippen, doch es ist zu spät. Idiotin! Idiotin! Idiotin! Mit einem Satz ist er bei mir und schlägt mir mit dem Handrücken voll ins Gesicht. »Du hast mich belogen! Wo sind die Socken?« Er geht, die Augen und seine Waffe auf mich gerichtet, rückwärts zum Kleiderschrank, zerrt dicke Frotteewintersocken heraus und stopft sie mir in den Mund. Aus seiner Hosentasche holt er ein Klebeband, reißt mit den Zähnen ein Stück ab und klebt es über meinen Mund. Wie konnte ich ihn derart unterschätzen? Ich bin so blöd! Jetzt wird mir richtig schlecht, wie damals beim Kieferorthopäden, als ich dieses Ding mit der Paste für den Gipsabdruck ewig im Mund behalten musste, es würgt mich, würgt und würgt. Er schubst mich vor sich her durch die Wohnung. Bevor wir in den Hausflur gehen, zieht er in aller Ruhe eine dünne braune Hundeleine aus seiner anderen Hosentasche. Was will er denn mit diesem abgewetzten Dackelhalsband? Er grinst mich an. »Nur damit du mir nicht wieder wegläufst.« Er legt mir doch wirklich dieses Ding um den Hals. Mir. Eine Hundeleine! Und ich kann nicht mal jaulen, wegen dem Ding im Mund. Er zieht die Leine stramm, jetzt würgt es mich nicht nur innen in der Kehle, sondern auch noch außen am Hals. Nein, das ist kein Nervenzusammenbruch, er ist einfach ein Psychopath, ein Monster. Kais letzte Worte fallen mir ein: »Hasst dich!«

Verdammt! Bernadette? Wo ist Bernadette? Immer noch in der Schule? Es ist doch bestimmt schon sieben. Und Violetta? Irgendjemand? Irgendjemand muss doch hier sein! Ich gehe, so langsam ich kann, auch wenn er mir den Lauf immer wieder zwischen die Schulterblätter drückt. Dabei pfeift er vor sich hin, als wären wir Hund und Herrchen beim Spaziergang. Das gibt es doch nicht. Wo sind sie denn alle? Ein entsetzlicher Gedanke schießt mir durch den Kopf. Hat er Violetta auch etwas angetan? Rastet er völlig aus? Im zweiten Stock macht er halt und zerrt mich in Brigittes Wohnung. Das lange Gewehr stellt er in den Waffenschrank und nimmt sich dafür einen Revolver, den er in einen bereitgestellten Rucksack packt. Einen zweiten steckt er in seinen Hosenbund. Er hält dabei die abgegriffene Leine fest in der Hand, einmal dreht er sich zu mir und winkt mit einer Schachtel, es klappert metallisch. »Patronen!«, erklärt er. Danach nimmt er den Rucksack auf die Schulter, doch als wir gerade an der Tür sind, fällt ihm offenbar noch etwas ein. »Komm!« Er zerrt mich in sein Zimmer, das ich noch nie von innen gesehen habe. Es ist ganz schwarz gestrichen und sieht aus wie ein Labor aus der Zukunft. Kameras, Kabel, Monitore, alte ausgeschlachtete Festplatten, Tonbänder, Batterien, Akkus und jede Menge andere technische Gegenstände, von denen ich nicht einmal weiß, wozu sie nutzen sollen. Meine Hundeleine wirkt hier wie ein Relikt aus dem letzten Jahrtausend. Er nickt belustigt, als würde er meine Gedanken lesen. »Mein Vater hatte früher Jagdhunde. Dackel, klein und oft unterschätzt. Ich hab die Leine im Keller gefunden, zwischen seinen Sachen. Mama hat alles von ihm aufgehoben. Der Waffenschrank war ihr immer heilig. Ich Idiot habe gedacht, sie würde eben das Andenken meines Vaters hochhalten, aber diese, diese, diese...« Seine Stimme bricht, er stampft mit dem Fuß auf, wie um sich selbst Mut zu machen. ». . . lächerliche Person ist zum Glück nicht meine Mutter.« Er schubst mich in eine Ecke, sodass ich mit dem Gesicht zur Wand stehen bleiben muss und nicht mitbekomme, was er noch aus seinem Zimmer mitnimmt. Dann verlassen wir die Wohnung und ich muss vor ihm her die letzten Treppen nach unten gehen, dann zerrt er mich aus der Haustür. Es hat aufgehört zu regnen. Draußen riecht es nach feuchtem Sommerasphalt. Ich atme erleichtert auf. Wir sind hier mitten in München, auf der Straße sind jede Menge Menschen, es kann sich nur um ein paar Minuten handeln, bis dieser Albtraum ein Ende hat. Oder vielleicht auch nicht. Denn Nico hebt in diesem Moment eine Kamera auf die Schulter. Seinen Revolver versteckt er im losen Ärmel seiner viel zu großen Regenjacke. Während er die Kamera auf mich gerichtet hält, stößt er mich vor sich her. Man liest immer darüber in der Zeitung, aber ich hätte nie für möglich gehalten, dass es tatsächlich so ist. Die Leute sehen uns, nein, sie sehen uns nicht nur, sie glotzen sich sogar die Augen aus dem Kopf. Aber sie tun nichts. Sie sehen einfach zu, wie ein Mädchen mit verklebtem Mund an einer Hundeleine über die Theresienwiese geführt wird. Niemand hält uns an, keiner mischt sich ein. Nico grinst allen fröhlich zu und ruft immer wieder: »Wir drehen einen Film für die Schule. Es geht um Gewalt gegen Frauen. Alles okay. Wir sind vom Petrarca-Gymnasium. Letztes Jahr haben wir einen Preis gekriegt für den besten Film. Das Thema war Ausländerhass. Ja, der war auch sehr, sehr hart. Aber man muss manchmal die Wirklichkeit abbilden, um die Wahrheit aufzuzeigen.« Und ich kann es kaum fassen, wie normal er sich anhört, gar nicht verrückt. So überqueren wir die halbe Festwiese. Erst da nähert sich ein weißhaariger korpulenter Mann und zwingt uns, stehen zu bleiben. Meine Hoffnung! Ich versuche alles Flehen in meine Augen zu legen, aber es ist schwierig, so schwierig. Gib nicht auf, Lissie! Dieser Mann ist deine Rettung! Ich schaue ihm voll in die Augen. »Junger Mann«, sagt der Alte. »Ja?« Nico gibt sich völlig gelassen. »Ist es nicht viel zu dunkel? Bei diesem Wetter kriegen Sie das doch gar nicht wirklich drauf, oder?« »Danke, dass Sie mir da helfen wollen. Aber wir haben ein superlichtempfindliches Aufnahmegerät. Und für später, wenn wir an der Bavaria sind und die härteren Sachen aufnehmen, haben wir uns noch eine Spezialkamera von der Bundeswehr ausgeliehen. Die unterstützen unsere Schulaktionen immer sehr großzügig. Letztes Jahr haben sich sogar einige bereit erklärt, als Statisten mitzumachen.« Gott sei Dank! Diesen Schwachsinn wird wohl niemand im Ernst glauben. Die Bundeswehr, dass ich nicht lache! Der Mann nickt, nachdenklich klopft er Nico auf die Schulter, »Hut ab, junger Mann. So muss man arbeiten! Auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Viel Spaß noch!«

Meine Knie zittern vor lauter Enttäuschung, ich versuche mit dem Knäuel Socken im Mund zu schreien, doch es ist unglaublich, nicht mal ein leises Gurgeln kommt dabei raus. Nico zerrt mich weiter über den Platz. Erst denke ich, dass es in die Wohnung ins Westend geht, aber ich habe mich getäuscht. Nach ein paar Minuten merke ich, dass der Weg vertraut ist. Wir gehen zu unserer Schule. Was zum Teufel will er denn dort? Bernadette fällt mir ein und das, was Brigitte über sie gesagt hat, vor laufender Kamera, sodass Nico alles mitbekommen hat. Sie war das Kind, das Brigitte geliebt hat, die süße kleine Bernadette. Wo war Bernadette vorhin? Warum war niemand im Haus? Ich schaue zum Himmel, aber die dunklen Wolken hängen zu tief, sodass ich die Uhrzeit nicht einmal schätzen kann. Ich überlege, ob ich den Spieß umdrehen und an der Hundeleine zerren könnte, vielleicht gelingt es mir, Nico aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Leine ist um sein linkes Handgelenk gewickelt, rechts ist die Kamera. Ich denke nicht lange darüber nach, sondern tue es einfach, bevor mich der Mut verlässt. Abrupt mache ich halt, greife blitzschnell nach der Leine und ziehe mit aller Kraft daran. Da! Er taumelt! Die Kamera gleitet von seinen Schultern. Aber er lässt die Leine nicht los, sondern zerrt sie zu sich, für einen Moment schnürt er mir derart die Luft ab, dass mir schwarz vor Augen wird. Plötzlich höre ich das Quietschen von Fahrradbremsen. »Was macht ihr denn da eigentlich?«, fragt eine zierliche junge Frau und springt von ihrem Hollandrad. Ihr Ton ist voller Missbilligung.

Endlich meine Chance! Nico hat sich schon wieder aufgerichtet. »Ja, es sieht furchtbar aus«, säuselt er. »Wir arbeiten an einem Video über Gewalt gegen Frauen, wir sind vom Petrarca-Gymnasium. Darf ich Sie auch filmen?« Er geht einen aggressiven Schritt auf die Frau zu, hält meine Leine aber fest. Die Frau ist unwillkürlich nach hinten ausgewichen, lässt sich aber nicht beirren. »Was soll denn das? Nimm sofort den Mundknebel raus. Ich möchte, dass mir dieses Mädchen selbst bestätigt, was du behauptest.« Nico sieht sie entschuldigend an. »Das wird schwierig. Sehen Sie, wir haben ewig an der Maske gearbeitet, das würde alles wieder kaputt machen.« Er legt die Stirn in Falten. »Vielleicht könnten Sie ihr Fragen stellen, bei denen sie mit Ja oder Nein antworten kann. Dann kann sie den Daumen hoch-oder runterstrecken.« Er wendet sich mir direkt zu. »Lissie, bist du mit mir in der Film-Projektgruppe? Bist du einverstanden, dass wir hier zusammen unseren Film über Gewalt an Frauen drehen? Oder sollten wir lieber deine Rolle Brigitte überlassen?« Seine Lippen sind zu einem Lächeln verzogen, er findet die Drohung offenbar furchtbar amüsant. Die Frau kommt näher. »Machst du das wirklich freiwillig?«, fragt sie mich. Wie reagiere ich denn jetzt? Nico sieht lässig auf die Uhr. »Komm schon, Lissie. Wir dürfen die anderen nicht so lange warten lassen. Vielleicht sind sie dann schon weg.« Was soll das denn heißen? Das mit Brigitte habe ich ja noch verstanden, aber was soll »weg« bedeuten. Wer sind die anderen? Bernadette und Violetta? Die Frau wartet.

Zögernd hebe ich den Daumen. »Ist wirklich alles okay mit dir?«, fragt die Frau. Ich suche verzweifelt nach einem Ausweg, aber mir fällt keiner ein. »Jetzt spann doch die arme Frau nicht so auf die Folter.« Nico schüttelt den Kopf. »Sie war es, die die Idee zu unserem Film gehabt hat. Sie wollte nicht nur zeigen, was passiert, wenn Menschen zu Opfern werden, sondern auch, wie Außenstehende sie sehen. Wir haben ein ganzes Halbjahr daran gearbeitet. Wussten Sie, dass Opfer an einem Punkt ankommen können, an dem ihre eigene Willenskraft mehr und mehr ausgelöscht wird? Das wiederum macht die Umwelt so aggressiv, dass ein furchtbarer Kreislauf entsteht. Und in dem Moment denken viele Unbeteiligte, das Opfer sei quasi selbst an seinem Desaster schuld.« Er sieht sie bewundernd an. »Wissen Sie, dass Sie erst die Zweite sind, die uns angesprochen hat? Alle anderen haben weggesehen.« Sie wirkt geschmeichelt. Fall nicht darauf rein, beschwöre ich sie im Stillen. Aber es ist bereits geschehen. Er hat sie am Haken. »Ich habe das vorhin wirklich ernst gemeint, dass wir Sie im Film haben wollen. Bitte erlauben Sie mir, das Material zu verwenden.« Er hebt die Kamera ein Stück weit. »Wo wird denn das gesendet?« »Das machen wir nur für unsere Schule und einen Schülerwettbewerb.« »Gut, dann soll’s mir recht sein.« Die Frau beugt sich zu mir. »Ich hoffe, du erholst dich schnell wieder von dieser schrecklichen Rolle! Aber Respekt – das ist wirklich eine großartige Idee. Du hast schon recht mit deiner Sichtweise über Opfer.« Die Frau schwingt sich auf ihr Rad und fährt davon. Mit ihr meine letzte Hoffnung.

Nico ist unglaublich! Ein Genie, wenn es darum geht, die Ängste der Leute so zu verwandeln, dass sie ihm glauben. Aber was sollte das mit Brigitte? »Du benimmst dich jetzt besser«, faucht er. »Sonst muss ich unangenehm werden, verstanden?« Wir stehen mittlerweile schon fast an unserer Schule, nur noch eine große Straße ist zu überqueren und dann sind wir da. Dunkel und verschlossen liegt der hässliche Siebzigerjahre-Kasten vor uns. Mein ganzer Körper bebt vor unterdrückter Spannung, ich warte unentwegt darauf, dass er einen Fehler macht. Aber den Gefallen tut er mir nicht. Er zerrt mich nicht die Treppen hoch zum Haupteingang, nein, das hätte ich mir denken können: Wir gehen zu einem der Seiteneingänge neben der Sporthalle. Ich wusste nicht mal, dass man von dort in die Schule kommt. Er stellt die Kamera ab und sucht in seiner Hosentasche. Mich wundert mittlerweile gar nichts mehr, klar hat er einen Schlüssel, bestimmt zu allen Zimmern in der Schule, woher auch immer. Er hält die Leine unter leichtem Zug, jetzt ist er gewarnt. Er steht neben mir. Ich könnte mich drehen und ihn dann treten. Mitten rein, Papa hat gesagt, wenn dir einer was will, ist das immer das Beste. Meine Beine sind frei und den Revolver hält er nicht in der Hand, da kann sich kein Schuss lösen. Mist! Ich habe zu lange gewartet. Er bückt sich, nimmt die Kamera und zerrt mich über die Schwelle in die staubige Atmosphäre unserer Schule, um gleich darauf die Tür wieder hinter sich zuzuschließen. Selbst wenn ich mich befreien könnte, wäre mir doch der Ausgang versperrt.

Hier drinnen ist es fast dunkel, die Gänge müssen selbst bei hellem Sonnenschein immer mit elektrischem Licht beleuchtet werden. Nico schleicht sich mit mir durch die Gänge, wie ein Kater durch sein Revier. Die Kamera stellt er im Foyer ab und zerrt mich weiter. Er wirkt jetzt nervöser als zuvor, er murmelt etwas vor sich hin, ich verstehe nur einzelne Worte wie »König, heimkommen, das Ende, der Anfang«. Wenn ich selbst nicht dabei gewesen wäre, ich hätte nicht geglaubt, dass er vor fünf Minuten noch völlig überzeugend ein Filmprojekt unserer Schule vorgetäuscht hat. Ich muss jetzt etwas tun. Muss, muss, muss. Selbst wenn Brigitte hier irgendwo sein sollte, dann bin ich ihr so keine Hilfe. Wo will er hin? Er zwingt mich, jetzt wieder mit dem Revolver in der Hand, weiterzugehen. Wir nehmen die Flurtür, die zur Treppe führt. Treppe? Das ist meine Chance, ich bleibe abrupt stehen, bücke mich in der Hoffnung, dass er über mich stolpert, und tatsächlich: Er strauchelt für einen Moment! Ein Schuss löst sich, klingt ohrenbetäubend laut und gleichzeitig schneidet ein entsetzlicher Schmerz durch meinen rechten Oberschenkel, als würde jemand einen Fleischerhaken hineinjagen. Instinktiv greife ich zu der Stelle, und als ich meine Hand zurückziehe, ist sie klebrig von Blut, meinem Blut! Er liegt am Boden, die Leine hat er losgelassen, ich schlage mit den Fäusten auf ihn ein, trete ihn in den Bauch und renne weg, renne um mein Leben. Ich drehe mich nicht um, reiße mir den Klebstreifen vom Mund, will den Knebel ausspucken, aber mein Mund ist so trocken, dass ich es nicht schaffe. Im Laufen versuche ich mit den Händen das Sockenknäuel zu entfernen, renne. Alles an mir zittert, die Hundeleine, ich muss diese beschissene Leine noch abkriegen, ich will sie wegwerfen, nein, das machst du besser nicht, vielleicht hört er dann, wo du bist. Ich stecke die Leine mit den Socken in meine Hosentasche und bleibe mit rasendem Herzen stehen. Nichts. Da ist nichts, nur mein tobender Puls. Ruhig, Lissie! Ruhiger atmen. Da, ein winziges Geräusch. Ist er das oder sind das Mäuse? Ich atme ganz flach, um besser zu hören, aber jetzt ist es wieder still. Ich drücke mit der Hand auf meinen Oberschenkel, es blutet stark und der Schmerz wird mit jedem Augenblick stärker. Aber ich zwinge mich weiterzulaufen. Was kann ich tun? Ich muss die Polizei rufen, auf der Stelle, bevor er völlig ausflippt. Aber ich habe kein Handy dabei. Das Sekretariat wird abgeschlossen sein, genauso wie das Lehrerzimmer. Die Aula! Dort ist ein Telefon. Wie komme ich von hier am schnellsten dorthin? Ich versuche mich zu konzentrieren, denk, arbeite Scheißgehirn, wir sind seitlich hereingekommen, neben der Turnhalle, dann nach links gegangen, am Foyer vorbei, die Treppe hoch, nein, ich bin ja wieder runtergerannt. Ich muss mich also rechts halten. Ich ziehe meine Schuhe aus und gehe barfuß weiter, weil es mir vorkommt, als würden meine Schritte in der ganzen Schule zu hören sein. Wo kann er sein? Hinter mir? Ich lausche, aber da ist immer noch nichts. Egal, ich muss zum Telefon.

Also weiter. Wie entsetzlich lang diese Gänge sind. Das ist mir noch nie aufgefallen. Dauernd drehe ich mich um, dann wieder bleibe ich stehen, weil ich denke, dass er dort um eine Kurve biegen und plötzlich vor mir stehen wird. An jeder Ecke halte ich inne, taste mich ganz vorsichtig voran, hoffe, bete, dass niemand dort ist, und renne dann erst weiter. Es pocht in meinem lädierten Bein und dazu habe ich noch so scharfes Seitenstechen, dass das Rennen zur Qual wird. Was, wenn er auf die Idee kommt, das Hauptlicht einzuschalten? Dann kann er leicht entdecken, wo ich bin, er braucht nur den Blutspuren zu folgen. Mein Bein schmerzt höllenmäßig, ich brauche dringend eine Pause. Aber ich muss zu diesem Telefon. Habe ich überhaupt Geld dabei? Hektisch durchsuche ich meine Jeanstasche in der Hoffnung auf ein Ein-Euro-Stück. Aber nein, nichts. Der Pausenkiosk fällt mir ein, der elfte Jahrgang muss den Verkauf organisieren, ich war vorletzen Monat dran, zusammen mit Bernadette. Die Einnahmen werden jeden Tag ins Sekretariat gebracht, aber in einer Schublade haben wir immer ein paar Münzen Wechselgeld. Wird das immer noch so gemacht? Ich habe keine Ahnung. Egal, das ist meine einzige Möglichkeit, um an Geld zu kommen. Aber das heißt, ich muss zurück durch die Gänge zum Kiosk und dann wieder in die Aula. Ob ich das schaffe? Was für eine Frage! Du kannst auch einfach stehen bleiben und verbluten oder dich von Nico umbringen lassen. Also los jetzt!

Ich ziehe mein Shirt aus und reiße mit den Zähnen einen Fetzen herunter, den ich um den Oberschenkel binde. Dann zerre ich das Shirt wieder über meinen Kopf und schleiche in Richtung Kiosk. Der wird zwar auch abgeschlossen sein, aber er hat eine Glasscheibe, die zum Verkauf hochgeschoben wird. Die kann ich einschlagen. Wenn man das Geräusch auch weithin hören wird. Egal. Los jetzt, mach, mach, mach! Plötzlich knackst es laut. Ich presse mich an die Wand, um Halt zu finden und nicht zusammenzusacken. Was ist das? Es knackst wieder, von überall her, dann ein schriller Misston, ein Pfeifen und dann: »Achtung, Achtung, liebe Schüler, das ist eine Durchsage für die kleine Lissie, die unbedingt zu ihrem König zurückkommen muss! Gottes auserwählten König zu beleidigen, muss bestraft werden.« Es ist nur die Sprechanlage, versuche ich mich zu beruhigen. Das bedeutet, er ist im Sekretariat im ersten Stock. Der Pausenkiosk liegt hier im Erdgeschoss, wenn ich mich beeile, kann ich es vielleicht schaffen. Der Schmerz im Bein ist jetzt so grauenhaft, als hätte ein Hund seine Zähne hineingeschlagen und würde nicht mehr loslassen. Ich sollte den Knebel wieder in den Mund stecken, um mein Wimmern zu unterdrücken, aber ich habe keine Zeit, ich muss vorwärtskommen, schneller. Von Weitem sehe ich die Scheibe schimmern. Nie hätte ich gedacht, wie erleichtert ich einmal angesichts eines normalen Kiosks sein könnte. Ich schleiche mich näher heran. Okay, jetzt muss ich nur noch hinter die Scheibe kommen. Ich setze mich auf den Ausgabetresen und rüttele vorsichtig am Glas.

Es klappert, ich fühle mit den Händen, ob irgendwo am unteren Rand ein Schloss ist, so wie an den Türen der Ladengeschäfte in der Fußgängerzone. Nichts. Ich taste die Scheibe ab, sie bewegt sich keinen Millimeter. Da kommt mir ein Gedanke. Ich nehme den Knebel, glätte die beiden dicken Frotteesocken und stülpe sie über meine rechte Hand. Nein, schlechte Idee. Was, wenn das schiefgeht? Lieber die linke. Zwei übereinander, dann schlage ich zu. Dein Leben, Lissie, es geht um dein Leben, los! Lächerlich. Beim ersten Mal passiert gar nichts. Wie blöd, dass ich die Schuhe ausgezogen habe. Mit denen wäre es ein Kinderspiel gewesen. Noch mal! Doch als ich die Hand hebe, halte ich inne. Ist da nicht ein Schleichen im Gang? Kommt er schon? Es knackst wieder. Gut. Er ist immer noch im Sekretariat, also gib Gas, Lissie! Ich schlage, so fest ich kann, es scheppert, als hätten zwei Laster ein Schaufenster gerammt, deshalb höre ich erst nach einem kurzen Moment, wer da spricht. Es ist nicht Nico, sondern Brigitte. »Lissie«, stammelt sie, »Lissie, mach, was er sagt. Alles andere wäre Wahnsinn, glaub mir!« Fast hätte ich aufgeschrien. Insgeheim habe ich immer noch gehofft, dass er blufft. Aber er hat tatsächlich Brigitte. Es geht nicht mehr nur um mich. Ich denke nicht groß nach, sondern schiebe die Scherben zur Seite und greife über die Theke nach unten, in die Schublade mit dem Wechselgeld.

Bitte, bitte. Die Schublade geht auf. Ich greife hinein, taste in der Schublade herum, und als meine Fingerspitzen etwas hartes Kaltes berühren, könnte ich heulen, so erleichtert bin ich. Jetzt muss ich nur noch zum Telefon. Ich stopfe alles, was ich greifen kann, zur Hundeleine in meine Hosentasche, dann klettere ich von dem Ausgabetresen und trete...oh nein, ich unterdrücke einen Schmerzensschrei, ich bin mit dem linken Fuß in Scherben getreten. Wie konnte ich nur so blöd sein und meine Schuhe ausziehen! Um mich herum glitzern die Glassplitter. Vorsichtig lasse ich mich auf die Knie nieder, ziehe an jede Hand eine Socke und schiebe damit die Scherben weg, krieche dann über die freie Fläche, bis meine Hände keine Scherben mehr fühlen. Dort richte ich mich auf und humpele los. Links kann ich nur auf der Außenkante vom Fuß gehen, weil der Druck die Scherbe im Fuß weiter hineintreibt. Mein rechtes Bein strahlt eine unglaubliche Hitze aus, überhaupt ist mir heiß. Am liebsten würde ich mich auf den kalten Linoleumboden legen und schlafen. Weiter, Lissie, weiter. Der Flur erscheint mir endlos lang, alle paar Meter bleibe ich stehen, lehne mich an die Wand, um kurz auszuruhen. Es ist ganz nah, gleich Lissie, gleich hast du es geschafft! Da, die Treppe unter der Aula. Der altmodische Fernsprecher, den eigentlich nie jemand benutzt. Alle haben Handys. Ich verharre kurz, schaue mich um. Nico ist sehr schlau, in der Zwischenzeit hat er sich bestimmt zusammengereimt, wo ich hinwill. Ich hole die Münzen aus der Hosentasche, meine Hände zittern derart, dass sie durch meine schweißnassen Finger durchrutschen.

Konzentrier dich, Lissie, du musst die Dinger doch nur noch einwerfen. Und dann, wen rufst du denn an? Papa, ja, am liebsten Papa. Spinn nicht rum, Lissie, los, wen rufst du an? Tabea? Welche Handynummer hat die noch einmal? Nein die Polizei, 112 oder 110. Und da sehe ich verschwommen die Notrufinfo. Ich habe wertvolle Zeit damit verschwendet, Münzen zu suchen! Mein Hirn muss etwas abgekriegt haben. Mit zitternden Fingern tippe ich die 110. Ja, jemand nimmt ab, sagt etwas, redet, redet, redet, endlich bin ich dran, ich stammele: » Bitte, Sie müssen, bitte, Schule«, stottere ich, weil mir die Worte fehlen, ich bin nur noch Schmerz. »Sie müssen sofort...« In diesem Augenblick legt sich ein Arm um meinen Hals und drückt zu. »Schön auflegen, und zwar schnell. Ganz schnell! Verstanden?« Ich lasse mich fallen. Ich kann nicht mehr. Nico legt den Hörer zurück, dann hebt er mich auf. »Dafür wirst du bezahlen«, knurrt er. Inzwischen ist er nicht mehr so gelassen wie noch zuvor. Schweiß steht auf seiner Stirn. »Ich kann nicht mehr laufen. Du hast mich angeschossen.« »Du hast es bis hierher geschafft. Also wird’s auch noch ein Stück weiter gehen.« Er zerrt mich hinter sich her. »Nico, bitte, wir haben uns doch mal etwas bedeutet. Warum tust du das? Lass mich frei und alles wird gut werden.« Wie albern und kleinmädchenhaft ich klinge. Aber es muss doch etwas geben, das sein Herz rührt, was durch diesen Wahnsinn dringt. Er nimmt mich auf seine Basketballerarme und trägt mich. »Spar dir das Geschwätz! Ich habe tatsächlich gedacht, du würdest mich lieben. Aber deine Gefühle waren ungefähr so labberig wie lauwarmer Haferbrei, flüchtig wie Heliumgas, ein Nichts. Deshalb werde ich dich morgen auch nicht mitnehmen, bei meinem letzten Auftritt, meinem Feuerwerk, damit du endlich kapierst, welchen Mann du verlassen hast, was für ein Genie. Ich werde dich zurücklassen, als Einzige wirst du überleben, das wird deine Strafe sein, inmitten all der Toten wirst nur du vom Leben umgeben sein. Du wirst es nie vergessen.« Ich verstehe von dem, was er sagt, nur die Worte, aber nicht ihre Bedeutung. Mein Schädel fühlt sich an, als wäre er mit Luftfolie ausgestopft, alles dringt nur mit Rauschen oder Knistern zu mir durch. Und ich bin so müde. Ich möchte schlafen, es fühlt sich angenehm an, wie er mich so selbstverständlich trägt, als wäre ich eine Puppe. Vielleicht bringt er mich in ein Bett, ein warmes, weiches, kuscheliges Bett, wo ich schlafen kann, einfach nur schlafen. Ich achte nicht auf unseren Weg, nehme nur verschwommen wahr, dass es dunkler wird. Wir sind im Keller. Das alte Sprachlabor taucht am Ende des Ganges auf. Ach so, denke ich. Da hätte ich auch früher draufkommen können. Ich träume den Traum, den ich schon einmal gehabt habe. Deswegen bin ich auch so müde. Ich muss einfach nur aufwachen, dann wird alles gut. Plötzlich schießt ein Blitz auf mich zu, ich zucke zusammen, doch er hat nur das Licht eingeschaltet. Instinktiv presse ich meine Lider zusammen, doch trotzdem explodieren Feuer-blitze hinter meinen Lidern. Bitte, ich möchte schlafen. Eine Frau schreit. Nico stellt mich auf dem Boden ab. Ich taumele, der Schmerz in meinen Beinen durchjagt mein Herz, lässt mich für einen Moment zu mir kommen, nimmt mir den Atem, es dreht sich alles, gleichzeitig wird mir übel, dann wird es schwarz um mich herum.