»Da ist jemand im wahrsten Sinn des Wortes ausgetickt«, murmelte Sören Henning, Hauptkommissar und leitender Ermittler bei der Mordkommission Kiel, während der Regen gegen seine Kleidung peitschte, die Jeans und die Regenjacke, deren Kapuze er über den Kopf gezogen hatte. Obwohl sie für Delikte in und um Schleswig nicht zuständig waren, wurden sie gebeten, den Fall zu übernehmen, da die Kollegen vom K 1 in Flensburg bis auf zwei von einem Grippevirus befallen waren. »Wer richtet jemanden so zu?« Er begab sich in die Hocke und schaute auf das zertrümmerte Gesicht der Toten mit den Höhlen, in denen bis vor kurzem noch Augen waren.
»Welche verdammte Drecksau macht so was?« Er sagte es, ohne dabei seine Stimme zu erheben.
»Keine Ahnung, aber auf jeden Fall muss der Typ über eine gewaltige kriminelle Energie verfügen«, bemerkte Lisa Santos ratlos, angehende Oberkommissarin und Kollegin von Henning. »Weiß man schon, wer sie ist?«, fragte sie einen Beamten der Spurensicherung, die seit einer halben Stunde vergeblich den aufgeweichten Boden absuchten.
»Sabine Körner, Kleinburgwedel. Siebzehn Jahre alt.«
»Kleinburgwedel?«
»Gleich bei Hannover.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Ein Ehepaar, sitzt dort drüben im Streifenwagen. Waren hier spazieren und haben sie mehr zufällig entdeckt. Wie so oft war’s der Hund.«
»Wer geht denn bei diesem Schweinewetter spazieren? Was ist mit Spuren?«, fragte Henning.
»Es schüttet ja schon seit gestern Abend ununterbrochen, da ist alles weg. Tut mir leid«, erwiderte der Angesprochene.
»Das Einzige, was wir gefunden haben, ist dieser Stein. Lag direkt neben ihr. Da klebt auch noch ein bisschen Blut dran. Damit hat er aller Wahrscheinlichkeit nach zugeschlagen.«
Henning und Santos betrachteten den Stein. »Das ist doch kein normaler Stein. Wo kommt der her?«, fragte Lisa Santos verwundert.
»Da hinten sind ’ne ganze Menge davon. Scheint so, als ob am Parkplatz was gemacht werden soll«, sagte der Beamte der Spurensicherung und deutete auf den aufgeschichteten Steinhaufen, der in einiger Entfernung schemenhaft auszumachen war.
»Irgendwas in ihren Taschen, das uns weiterhelfen könnte?«
»Nur Klamotten, ein Buch und Schminkzeug.«
»Na dann, ab mit ihr in die Rechtsmedizin. Sie scheint aber nicht vergewaltigt worden zu sein. Sie ist vollständig bekleidet, bis auf …« Henning fasste mit einer Hand an sein Kinn und sagte weiter: »Wo ist die linke Socke?«
»Keine Ahnung. Wir suchen sie, aber es könnte sein, dass …«
»Dass was? Sie nicht hier umgebracht wurde? Na ja, auszuschließen ist es nicht, obwohl, sie wurde mit einem dieser Steine erschlagen, also wird es wohl doch hier passiert sein. Egal, sucht die Socke. Wenn ihr sie nicht findet, kann man nichts machen.«
Henning erhob sich wieder und wandte sich an den neben ihm stehenden Arzt. »Wie lange ist sie schon tot? Ungefähr.«
»Bei dem Wetter schwer zu beurteilen. Irgendwo zwischen acht und zwölf Stunden, würde ich mal schätzen. Genaueres kann aber erst nach der Autopsie gesagt werden.«
»Und wie lange dauert es, bis wir das Ergebnis kriegen?«
»Vielleicht morgen, aber eher am Sonntag. Wird ein langes Wochenende. Noch was?«
»Schickt mir das Ergebnis so schnell wie möglich. Und untersucht die Kleine auf Fremd-DNA, ihr wisst schon. Auch wenn’s nicht so aussieht, als ob sie vergewaltigt wurde.«
»Hätten wir sowieso gemacht.«
Henning sah seine Kollegin an und sagte: »Ich hoffe, die finden was. Ansonsten haben wir schlechte Karten.«
Lisa Santos entgegnete trocken: »Tja, sieht im Moment nicht gut aus. Fahren wir, für uns gibt’s hier nichts weiter zu tun.«
Sören Henning stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor seinem achtunddreißigsten Geburtstag. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, Elisabeth, acht, und Markus, zwölf Jahre alt. Seit knapp drei Jahren Hauptkommissar, bearbeitete er Mord- und Vermisstenfälle, wobei die Vermisstenfälle bei weitem überwogen, doch in der Regel recht schnell aufgeklärt werden konnten. Bei der Mehrzahl der Vermissten handelte es sich um Kinder und Jugendliche, die sich wegen häuslicher Differenzen abgesetzt hatten, aber meist schon bald wiedergefunden wurden.
Nur einige dieser Verschollenen blieben bis heute verschwunden, darunter drei junge Frauen und ein Mann, von denen angenommen wurde, dass sie sich vielleicht ins Ausland abgesetzt oder unter falschem Namen und mit falschen Papieren irgendwo in Deutschland untergetaucht waren, denn die Nachforschungen hatten ergeben, dass alle vier massive private und zum Teil auch berufliche Probleme hatten. Am meisten Sorge bereiteten ihm jedoch drei Kinder im Alter zwischen acht und elf Jahren, zwei Mädchen und ein Junge, von denen seit vier beziehungsweise sechs Jahren ebenfalls jede Spur fehlte. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Doch Henning gab die Hoffnung nicht auf, sie wiederzufinden, auch wenn die Wahrscheinlichkeit mit jedem Tag ein wenig mehr schwand.
Henning war einsachtzig groß, schlank und hatte hellbraunes, ins Rötliche gehendes, sehr kurz geschnittenes Haar und strahlend blaue Augen, die jeden sofort an Terence Hill erinnerten, auch wenn Henning keinerlei sonstige Ähnlichkeit mit dem Schauspieler aufwies. Sein Vorgesetzter schätzte ihn wegen seines Einsatzes, einige Kollegen standen ihm jedoch reserviert gegenüber, weil er mitunter recht dominant war und ungern andere Meinungen zuließ.
Auch mit Lisa Santos geriet er hin und wieder aneinander, was vor allem an ihrem Temperament lag, das sie von ihrem spanischen Vater in die Wiege gelegt bekommen hatte. Sie war fast einen Kopf kleiner, hatte halblange dunkelbraune Haare und ausdrucksstarke haselnussbraune Augen und einen vollen Mund. Sie war gerade dreißig geworden und ausgesprochen hübsch, und kein Außenstehender hätte bei ihr vermutet, dass sie eine enorm durchsetzungsfähige und im Nahkampf erprobte Polizistin war. Doch jene Gauner, die bereits mit ihr Bekanntschaft gemacht hatten, hielten lieber Distanz zu ihr.
Sie hatte eine kleine Wohnung in der Innenstadt von Kiel. Ihre Eltern lebten in Schleswig, wo sie auch ein Restaurant mit vorwiegend spanischen Spezialitäten betrieben. Mindestens dreimal pro Woche besuchte sie ihren Heimatort, manchmal half sie im Lokal aus, einfach, weil es ihr Spaß machte, aber auch, weil sie gerne mit ihren Eltern zusammen war.
Und obwohl Sören Henning und Lisa Santos, die beiden so unterschiedlichen Charaktere, bisweilen ebenso unterschiedlicher Meinung waren, so bildeten sie doch ein hervorragendes Team, das zusammen mit den Kollegen eine überdurchschnittlich hohe Aufklärungsquote aufzuweisen hatte.
Der Regen, der für ein paar Minuten nachgelassen hatte, hatte wieder zugenommen, als sie sich auf die Fahrt zurück nach Kiel machten. Jetzt im Winter waren die Straßen fast leer, ganz anders als im Sommer, wenn die Touristen in Strömen über das Land zwischen den Meeren hereinbrachen, die Ferienzimmer und Hotels zwischen Juni und August zum größten Teil ausgebucht waren und auch die zahlreichen Campingplätze entlang der Ostsee sich großen Zuspruchs erfreuten.
»Was ist deine Meinung?«, fragte Henning, während sie an Ahrensberg vorbeikamen und die Scheibenwischer gegen den Regen ankämpften.
»Ich hab noch keine Meinung. Ich frag mich nur, was die Kleine hier gemacht hat. Ausgerissen?«
»Möglich. Oder sie wollte jemanden besuchen. Das heißt, sie könnte getrampt sein. Jemand nimmt sie mit und bringt sie um. Wäre ja nicht das erste Mal.«
»Das ergibt aber keinen Sinn, schließlich wurde sie nicht vergewaltigt. Zumindest müssen wir davon ausgehen. Sie war bekleidet, als sie gefunden wurde«, bemerkte Lisa Santos und sah aus dem Seitenfenster, wo die triste Landschaft an ihr vorüberzog. »Ich möchte nicht diejenige sein, die ihren Eltern die Nachricht überbringt. Siebzehn Jahre alt, das ganze Leben noch vor sich. Und dann kommt so ein Arschloch daher und macht alles kaputt. Ich hab so was zum Glück noch nie machen müssen. Und warum hat er ihr die Augen ausgestochen?«
»Manche Killer sind der irrigen Meinung, dass sich ihr Bild in den Augen der Opfer festgebrannt hat wie auf einem Film. Deshalb stechen sie sie aus. Andere tun’s, weil sie den Anblick der toten Augen nicht ertragen können. Egal, wir kriegen ihn. Irgendjemand hat ihn gesehen«, entgegnete Henning mit stoischer Ruhe, die Lisa Santos manchmal in Rage brachte, auch wenn sie es nicht zeigte. Er wusste, was jetzt in ihr vorging, und er konnte es ihr nicht verdenken. Auch er war aufgewühlt von dem Anblick der Leiche, aber er war ein Pragmatiker, der zwar des öfteren mit dem Kopf durch die Wand wollte, doch wenn es darauf ankam, kühl und nüchtern an die Fälle heranging, während Lisa sich gerne auf ihre Intuition und ihr Gespür verließ, ohne dabei den Verstand außen vor zu lassen. Aber vielleicht war diese Gegensätzlichkeit genau das, was sie und ihn so unschlagbar machte.
»Wenn sie seit acht bis zwölf Stunden tot ist, ist die Wahrscheinlichkeit gleich null, dass irgendwer die Tat beobachtet hat. Es war dunkel, es hat die ganze Nacht geschüttet wie aus Kübeln … Lass den Mord heute früh um sechs geschehen sein, da ist keine Sau in der Gegend. Wir können froh sein, dass sie jetzt schon gefunden wurde und nicht erst in ein paar Tagen oder Wochen.«
Sören Henning erwiderte nichts darauf. Insgeheim musste er Lisa Recht geben, auch wenn er die Hoffnung hatte, dass wenigstens die rechtsmedizinische Untersuchung ein verwertbares Ergebnis erbrachte.
Von Kiel aus informierten sie die zuständigen Kollegen in Hannover, die den Eltern von Sabine Körner die grausame Mitteilung überbringen mussten, dass ihre Tochter einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Noch am selben Abend wurde in mehreren Radio- und TV-Sendern um Hinweise gebeten, die zur Aufklärung des Mordes dienlich sein könnten.
Doch nicht ein einziger Anruf ging bei der Polizei ein.
Um halb zehn fuhren Henning und Santos nach Hause, er zu seiner Familie, die ihn bereits erwartete, weil seine Tochter Elisabeth ihren achten Geburtstag feierte, Lisa Santos in ihre kleine, aber gemütliche Zweizimmerwohnung, wo sie sich als Erstes ein heißes Bad einließ, denn ihre Kleidung war nass, sie hatte kalte Füße, und überhaupt fror sie. Sie drehte die Heizung auf, zündete Kerzen an und machte sich, bevor sie ins Wasser stieg, eine große Tasse heißen Tee. Während sie badete, dachte sie an das Mädchen, das so bestialisch ermordet worden war.
Und sie hoffte, dass der Autopsiebericht ein brauchbares Ergebnis brachte, auch wenn sie dies für eher unwahrscheinlich hielt. Ein Gefühl sagte ihr, wer immer das gemacht hatte, hatte es nicht zum ersten Mal getan. Sie schloss die Augen und dachte an das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten Volker Harms, der sie heute Morgen um halb neun in sein Büro zitiert hatte, um ihr zu sagen, dass er sie zur Beförderung vorgeschlagen hatte.
Oberkommissarin sollte sie werden, und das mit dreißig. Sie hatte sich riesig gefreut, doch diese Freude hatte durch den Mord an Sabine Körner einen kräftigen Dämpfer erhalten.