Durch ein paar Ritzen der heruntergelassenen Rollläden schimmerte noch Licht, als Butcher den Wagen vor der großen Garage abstellte und ihn mit der Funkfernbedienung abschloss, auch wenn dies eigentlich nicht nötig war. Hier kannte jeder jeden, und Fremde durchquerten kaum einmal diesen Ort, höchstens im Sommer, aber es war kein Touristenmekka wie die Städte und Dörfer entlang der Nord- und Ostsee. Hier wehte der Wind fast das ganze Jahr über den Geruch aus den Ställen und von den Viehweiden und den mit Gülle gedüngten Feldern durch die Straßen, ein Geruch, an den er sich nach nunmehr fast zehn Jahren gewöhnt hatte.
Vor dem Eingang standen die Gummistiefel der Mädchen, im Flur ein langgezogenes Schuhregal mit Abteilungen für jedes Familienmitglied. Für seine Frau Monika, seine Töchter Laura und Sophie und seine Mutter. Nur für seine Schuhe war kein Platz mehr. Er musste sie immer daneben abstellen, und wenn sie dreckig waren, draußen ausziehen und auf einen großen Lappen direkt neben der Tür stellen. Laura und Sophie lagen längst im Bett, genau wie seine Mutter, die nie später als einundzwanzig Uhr auf ihr Zimmer ging. Seit er denken konnte, hatte sie einen festen Lebensrhythmus, den zu durchbrechen sie keinem gestattete, nicht einmal sich selbst. Sogar als sein Vater im Sterben lag, behielt sie diesen Rhythmus bei, während er, neun Jahre alt, die Hand seines Vaters in der Stunde des Todes hielt.
Er warf einen Blick in die Küche, die wie abgeleckt aussah, kein Krümel auf der Arbeitsplatte oder dem Boden, das Ceranfeld des Herdes blitzte, ebenso die Schränke und das Fenster. Eine sterile, abweisende, fast feindliche Atmosphäre, die er kaum ertrug und an die er sich dennoch längst gewöhnt hatte. Und wie immer abends brannte das kleine Licht der Dunstabzugshaube, und es roch nicht nach Küche, sondern nach Putz- und Desinfektionsmitteln, und manchmal meinte er sich in einem Krankenhaus zu befinden. Wie oft hatte er sich eine Änderung herbeigewünscht, aber wie sollte sich etwas ändern, wenn es doch schon zum Alltag gehörte, seit er denken konnte? Seine Frau Monika und seine Mutter ergänzten sich hervorragend, und manchmal kam es ihm vor, als wären sie Geschwister und nicht Schwiegermutter und Schwiegertochter. Beide legten größten Wert auf Sauberkeit, Ordnung, Pünktlichkeit – und dass das getan wurde, was sie befahlen.
Er ging ins Wohnzimmer, wo Monika vor dem Fernseher saß und sich eine Serie auf RTL ansah. Sie war klein, sehr zierlich, aber wer dachte, sie wäre zerbrechlich, täuschte sich, denn sie hatte eine unglaubliche Energie, eine solche Energie, dass er sich manchmal winzig und schwach vorkam. Oft hatte er das Gefühl, von dieser enormen Energie erdrückt zu werden, obwohl er Monika leicht mit einer Hand hätte töten können, was er jedoch nie gewagt hätte.
Vor ziemlich genau elf Jahren hatten sie sich kennen gelernt.
Sie war die Tochter einer Bekannten seiner Mutter. Nur zwei Monate später fand die Hochzeit im engsten Familienkreis statt, er, Monika, ihre Mutter und seine Mutter, drei Frauen, die bestens miteinander harmonierten und in deren Umgebung er ein Fremdkörper war. Kurz nach der Eheschließung wurde Monika schwanger und wollte unbedingt in ihre Heimat Schleswig-Holstein zurückziehen, wo sie geboren war und wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Er tat ihr den Gefallen unmittelbar nach Sophies Geburt, auch wenn ihn immer wieder das Heimweh nach Marburg plagte. Und eigentlich hätte alles sehr harmonisch verlaufen können, wäre seine Mutter nicht auf die Idee gekommen, mit ihnen in den Norden zu ziehen, in das Haus, das er gekauft hatte, auch wenn sie einen erheblichen Teil zum Kaufpreis beisteuerte. Es war sein Alptraum, der wahr geworden war. War Monika schon dominant, seine Mutter übertraf sie noch bei weitem. Und doch konnte er sich keiner von beiden entziehen. Nur wenn es ihm zu viel wurde und er sich zu sehr von ihnen bedrängt fühlte, setzte er sich in seinen Wagen und fuhr wie heute Abend einfach übers Land und durch die Dörfer und kleinen Städte.
Monika wandte den Kopf und meinte mit gewohnt spitzer Zunge: »Ziemlich spät, was?«
»Hat länger gedauert, als geplant. Tut mir leid, Schatz. Ich hab noch was zu erledigen und geh dann bald schlafen.«
»Ohne mich?«, fragte sie mit Schmollmund und setzte sich aufrecht hin. Das eben noch Spöttische in ihrer Stimme war urplötzlich einer Sanftheit gewichen, doch Butcher ließ sich nicht täuschen, denn auch dies machte ihr Wesen aus.
»Warum?«
»Fragst du das im Ernst? Es ist schon so lange her, seit wir das letzte Mal so richtig miteinander gekuschelt haben. Ich meine, so richtig gekuschelt. Bestimmt drei oder vier Wochen.« Sie sah ihn mit einem mädchenhaften, etwas lasziven Blick an, den sie immer aufsetzte, wenn sie etwas von ihm wollte. Ein Blick, der ihn früher wild gemacht hatte. Aber das war eine Ewigkeit her, mindestens zehn Jahre. Er wollte schon lange nicht mehr, er hatte keine Lust mehr auf sie, auf eine gewisse Weise ekelte sie ihn sogar an. Und er sie, auch wenn sie gerade so tat, als würde sie sich nach ihm sehnen.
Aber es war keine Liebe, die er für sie empfand, es war nie Liebe gewesen, auch wenn seine Mutter und Monika es ihm einzureden versuchten.
»Ich weiß, Schatz«, sagte er und trat näher an den Sessel heran, »und ich verspreche dir auch, dass wir bald wieder kuscheln. Aber nicht heute, ich bin müde. Es war ein anstrengender Tag. Außerdem muss ich noch was in den Computer eingeben, ist sehr wichtig.«
»Ach ja?! Deine Tage sind wohl immer anstrengend, was? Immer die alte Leier. Wozu bin ich eigentlich deine Frau? Nur, damit du regelmäßig was zu essen hast und ich dir die Wohnung putze und bügle und den ganzen andern Kram mache?!«
Da war sie wieder, diese Schärfe, mit der sie ihn unter Druck setzen wollte, was jedoch in den letzten Jahren immer seltener funktionierte. Wenn ihm alles zu viel wurde, zog er sich zurück, entweder mit einer Ausrede oder wortlos.
»Tut mir wirklich leid, aber ich hab auch Kopfschmerzen.«
»Hast wohl deine Tage!«, rief sie ihm mit schriller Stimme hinterher, eine Stimme, die in seinen Ohren dröhnte. »Aber an den Computer kannst du dich jetzt noch setzen, dafür bist du nicht zu müde!«
Er machte erneut kehrt, ging zu ihr, nahm sie in den Arm, auch wenn es ihm schwer fiel, drückte sie an sich und gab ihr einen langen Kuss, den sie kaum erwiderte. »Nicht böse sein, bitte. Ich liebe dich, das weißt du, und du bist die beste Frau, die ich mir nur wünschen kann. Aber ich fühle mich heute einfach miserabel. Ich komm so schnell wie möglich ins Bett, versprochen, doch wenn ich das jetzt nicht erledige, gerät mein Zeitplan völlig durcheinander. Ich hab ja auch nicht geahnt, dass es so spät werden würde. Verzeih mir, Liebes.«
»Du wirst dich nie ändern. Aber das ist wohl mein Los, mit dem ich mich abfinden muss. Und jetzt geh, mir ist die Lust sowieso vergangen.«
Er drehte sich um und schlich mit langsamen Schritten nach draußen. Leck mich, du alte Fotze, dachte er und stieg die Treppe hinauf. Er warf einen Blick in die Zimmer seiner Töchter, die friedlich schliefen. Bei Laura, die an Silvester acht geworden war, brannte eine kleine Lampe mit einem Halbmond darauf, die spärliches Licht spendete, aber Laura hatte Angst vor der Dunkelheit, und auch wenn seine Mutter und seine Frau meinten, sie solle sich nicht so anstellen, so verstand er ihre Ängste nur zu gut. Er hatte sich als Kind auch lange Zeit vor dem Dunkeln gefürchtet, vor den Monstern, die überall gelauert hatten, im Schrank, unter dem Bett, hinter den Vorhängen. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und betrachtete sie noch einen Moment, seine kleine Süße, wie er sie nannte. Sie hatte lange braune Haare und große rehbraune Augen, und er würde alles dafür tun, sie vor den Gefahren dieser Welt zu beschützen. So wie Sophie, die übermorgen ihren zehnten Geburtstag feierte und allmählich zu einer jungen Dame heranwuchs. Er würde nie zulassen, dass ihnen etwas Böses passierte, denn er war ein guter Vater und wachte mit Argusaugen darüber, dass es ihnen gut ging. Auch wenn seine Frau oft anderer Meinung war, doch das interessierte ihn wenig. Wenn es überhaupt Menschen auf dieser Welt gab, die er liebte, dann waren es Laura und Sophie.
Er ging in den Keller, wo sein Arbeitszimmer lag, zu dem niemand außer ihm Zutritt hatte. Er tippte eine fünfstellige Ziffernkombination ein, ein leises Summen ertönte, er drückte die Tür auf. Seine Mutter und auch seine Frau hatten ihn schon oft gefragt, was er denn so Geheimnisvolles dort treibe, aber er hatte nur geantwortet, es sei eben sein Büro, und er möchte nicht, dass irgendjemand dort Unordnung mache.
Und auf die Frage, warum er es nicht mit einem ganz gewöhnlichen Schlüssel abschloss, sondern mit einer elektronischen Sicherung wie in Fort Knox, entgegnete er, die Elektronik sei lediglich eine Spielerei, sie würden ihn doch kennen. Aber er wusste, würde diese Tür mit einem Schlüssel zu öffnen sein, dann würden beide Frauen auch einen Weg finden, diesen Raum zu betreten. Nicht einmal Laura und Sophie waren je hier drin gewesen, und er würde sie auch nie hereinlassen, denn dies war sein Zimmer, in dem es Dinge gab, die kein anderer sehen durfte. Direkt an das fensterlose Arbeitszimmer grenzte ein kleines Fotolabor. Er ging hinein und machte auch diese Tür zu. Schon vor Jahren, noch bevor er nach Schleswig-Holstein zog, hatte er einen Kurs an der Volkshochschule in Marburg besucht, wo er unter anderem lernte, Filme zu entwickeln. Kurz darauf hatte er sich sein erstes Labor eingerichtet, später, als er hierher zog, dieses, von dem seine Frau und seine Mutter glaubten, er würde dort nur Familienfotos entwickeln. Familienfotos, auf denen alle lächelten, auf denen eine heile Welt vorgegaukelt wurde, die nicht existierte, die nie existiert hatte.
Er brauchte eine gute Stunde, bis er den Film, auf dem außer den Fotos von Miriam noch andere waren, entwickelt und von den Negativen Abzüge im Format 18x24 gemacht hatte.
Er hängte sie zum Trocknen an die Leine und verließ die Dunkelkammer, nicht ohne vorher noch einen ausgiebigen Blick auf die drei Fotos von Miriam zu werfen. Friedlich sah sie aus, so friedlich, als würde sie nur schlafen. Er lächelte und machte die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. In seinem gemütlich eingerichteten Arbeitszimmer, das auch sein Refugium war, schaltete er den Computer an und wartete, bis er hochgefahren war. Er öffnete ein spezielles Programm und sah sich ein paar Fotos an, von denen keiner etwas wusste oder ahnte. Er lehnte sich zurück, die Hände über dem Bauch gefaltet, und betrachtete mit verklärtem Blick ein vierzehnjähriges Mädchen. Schließlich schlug er ein Buch auf und tippte ein Gedicht ab. Er schaltete den PC aus, legte den BH von Miriam zu den andern Sachen in eine Kiste, sah sich noch einmal um und ging nach oben. Monika schlief bereits tief und fest und schnarchte leise. Er zog sich aus und legte sich neben sie.