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Es war noch Nachmittag, als sie heimkam, doch es wurde schon dunkel. Sie fror, es war noch kälter geworden. Die eisige Luft zwickte ihr im Gesicht. Überall waren die Fenster mit leuchtenden Sternen oder Schwibbögen geschmückt. Nur ihre nicht. Sie hatte null Bock, ihre Wohnung zu dekorieren. Null Bock auf Weihnachten. Auf nichts. Sie fand einen Parkplatz ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Dass sie den Dienst-BMW trotz Freistellung fuhr, war ihr gerade richtig egal. Sollten sie doch anrufen, wenn sie ihn brauchten.

Bruch hatte sich, nachdem er zu sich gekommen war, aus dem Präsidium in den Wagen und dann die Treppe hoch in seine schreckliche Plattenbauwohnung gequält, ohne ihre Hilfe anzunehmen. An der Tür war sie wortlos stehen geblieben, hatte nur zugesehen, wie er sich hineinschleppte, wie die Katze in der Wohnzimmertür erschien. Das Tier hatte sie angesehen, fast als fragte sie, ob sie nicht mit hineinkommen und ihr Gesellschaft leisten wollte. Dann aber hatte sie sich ganz loyal ihrem Besitzer angeschlossen. Schlaf dich aus, hatte Schauer den Rat von Buchholz weitergegeben. Bruch hatte sich auf die Couch gelegt. Danke für nichts, hatte sie noch gesagt und die Tür geschlossen.

Auf dem Weg nach Hause hatte sie nachgedacht. Es dauerte eine halbe Stunde vom Stadtteil Gorbitz nach Striesen. Genug Zeit jedenfalls, um sich klar zu werden, dass sie weg von hier musste. Einfach kündigen und verschwinden. Über nichts mehr nachdenken. An keinen hier mehr einen Gedanken verschwenden. Weder an Bruch noch an den toten Simon noch an Jasmin. Vielleicht sollte sie fragen, ob die Stelle in München, die sie vor ein paar Wochen angeboten bekommen und abgelehnt hatte, doch noch frei war, denn heim nach Hamburg wollte sie auch nicht. Das dritte Babyannouncement, die dritte Pullerparty, das dritte Genderreveal ihrer Schwester zu ertragen, dazu hatte sie keine Kraft. Was war daran, dass man diesen ganzen Mist feiern musste. Ihr habt gevögelt, Gratulation.

Schauer parkte das Auto, löste die Hände vom Lenkrad und betrachtete ihre Handinnenflächen. Sie wurde schon genauso sonderlich wie Bruch. Sie zog den Zündschlüssel raus, öffnete die Tür, und erst jetzt nahm sie eine Frau wahr, die auf der anderen Straßenseite auf dem Gehweg stand. Sie trug einen langen Mantel, wie einen Trenchcoat, hatte den Kragen hochgeschlagen, um den Hals noch einen dicken Schal. Schauer kannte die Frau, hatte sie vor wenigen Wochen kennengelernt, als sie das vermisste Kind in Goppeln suchen mussten. Sie war vom Fernsehen. Claudia Wondrak hieß sie. Was machte die hier? Wusste die etwa, dass sie hier wohnte?

«Wollen Sie zu mir?», rief Schauer rüber. Konnte die schon von Simon wissen? Noch gab es keine offizielle Mitteilung über seinen Tod.

«Können wir reden, ein Stück laufen vielleicht?», antwortete Wondrak.

Ein paar Autos rauschten durch. Inzwischen war es dunkel wie in der Nacht. Die hübschen, aber fast nutzlosen Laternen spendeten kaum Licht. Ihr war kalt, sie war müde. Und im Grunde hatte sie beschlossen, das alles hier sein zu lassen. Einzig ihre Neugier veranlasste sie zu nicken. Sie überquerte die Straße. Ohne sich abzusprechen, gingen sie nach links, weg von ihrem Wohnhaus.

«Wir hatten keinen so guten Start», sagte die Wondrak. Sie war neiderregend schön, auch wenn ihr Gesicht ganz hart erschien. Groß war sie, schlank, elegant vor allem. Die Stiefel, die Kleidung, auch die große Handtasche, alles aufeinander abgestimmt. Neben ihr kam Schauer sich wie eine Hinterwäldlerin vor, dabei kam sie aus der Millionenstadt, und hier war der Hinterwald. Was sie auf diesen Beginn erwidern sollte, wusste sie nicht.

«Wenn Sie mögen, sagen Sie Claudia.»

«Nicole.» Schauer zog die Schultern hoch. Selbst das hatte Stil, siezen, aber mit Vornamen ansprechen.

«Wie geht es ihm?», fragte Wondrak.

«Gerade schlecht. Schlechter als sonst. Wissen Sie etwas über ihn?» Sie wussten auch gleich beide, von wem sie sprachen.

«Sie meinen von früher? Wenig. Er ist als Waise aufgewachsen, bei seinen Großeltern wohl. Scheint nicht besonders schön gewesen zu sein. Und er scheint kein einfaches Kind gewesen zu sein.»

«Hatten Sie … na ja, hatten Sie was mit ihm?», fragte Schauer direkt.

«Eine Zeit lang war ich interessiert, wenn man das so sagen kann. Da war er schon von seiner Frau getrennt.»

Mehr sagte sie nicht, doch den Teil konnte man sich denken. Sie hatte festgestellt, wie abgedreht Bruch war, hatte seine kalte, trostlose Bude gesehen und eilig die Kurve gekratzt.

«Warum sind Sie hier? Bestimmt nicht, um über Bruch zu sprechen.»

Wondrak schüttelte den Kopf, stumm liefen sie bis zur nächsten Kreuzung. «Jasmin Mahler, haben Sie sie heute kennengelernt?», fragte sie dann.

«Allerdings.» Und wie zum Teufel konnte die Frau das wissen?

«Kennen Sie ihren Fall?», fragte die Wondrak.

«Nur einen Bruchteil, ich habe heute erst davon erfahren. Ich wollte gleich noch einmal im Internet schauen, was die Presse damals darüber berichtet hat.» Ihr blieb nichts anderes übrig, aufgrund der Beurlaubung konnte sie keine Akteneinsicht bekommen.

«Da werden Sie viel finden. Aber wenig, was stimmt.»

«Was wollen Sie denn, was interessiert Sie an Jasmin?»

«Sie tut mir leid. Ich glaube, ihr ist viel Unrecht geschehen.»

«Ja, und?»

Wondrak blieb stehen. «Ich weiß nicht. Ich … ich habe jedenfalls etwas mit, Unterlagen und einen USB -Stick, da finden Sie alles, was ich damals über den Fall zusammengetragen habe.»

Die Frau schien ehrlich besorgt, doch Schauer wollte ihr nicht trauen, immerhin war sie vom Fernsehen, also selber eine von denen, die sie gerade erst kritisiert hatte.

«Ich bin für den Fall nicht verantwortlich, das BKA ermittelt jetzt. Außerdem kann man nicht jedes Problem der Welt lösen. Mädchen wie Jasmin habe ich ausreichend kennengelernt, denen allen wurde Unrecht getan.»

«Ich versteh schon. Aber wenn Sie sich das ansehen würden. Da ist so vieles falsch gelaufen.»

«Kann sein, aber was soll ich dabei tun? Die Mutter wurde wegen Mord verurteilt, sitzt in Bautzen, soweit ich weiß. Im Prinzip bin ich völlig fremd hier, habe Kontakte zu niemandem. Ich werde eher gemieden, mit Felix zu arbeiten, wirkt wie eine ansteckende Krankheit.»

Wondrak ignorierte die letzten Sätze einfach. «Jasmins Mutter, Nora Mahler, behauptete von Anfang an, unschuldig zu sein. Schon bei ihrer Verurteilung vor zweieinhalb Jahren haben ihre Anwälte Revision beantragt, dem ist nun stattgegeben worden, morgen ist der erste Sitzungstag.»

«Morgen?»

Wondrak nickte. «Wenn der Prozess neu aufgerollt wird, heißt das, alle Zeugen werden wieder vorgeladen.» Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.

Schauer unterdrückte erfolgreich den ersten Impuls nachzufragen, nahm sich ein wenig Zeit, dachte einen Schritt weiter. «Bruch und Bartko waren die Ermittler?», sprach sie ihre Vermutung aus.

Wondrak nickte wieder.

«Und Simon logischerweise ihr Vorgesetzter in dem Fall», ergänzte Schauer noch.

«Bartko ist tot», sagte Wondrak, sah dann nach hinten über die Schulter. Das machte Schauer am meisten Angst. Denn die Wondrak wusste offenbar noch nicht einmal, dass auch Simon tot war.

Wondrak schüttelte knapp den Kopf. «Ich weiß nicht, was vor sich geht. Aber etwas ist da seit Jahren im Gange.»

«Ist das der Grund, warum wir nicht im Auto sitzen und nicht in einer Wohnung?»

Wondrak hob entschuldigend die Schultern und nickte wieder.

Nun griff sie in ihre Tasche, kramte eine Mappe heraus und einen USB -Stick. «Sehen Sie es sich wenigstens an. Bitte. Tun Sie wenigstens das.»

 

Wenigstens das. Diese beiden Worte, ob sie nun mit Bedacht ausgesprochen worden waren oder nicht, sie nagten an ihr. Als ob sie zu irgendetwas verpflichtet wäre. Als ob sie irgendjemandem etwas schuldig wäre. Schauer warf die beiden Sachen achtlos auf den Wohnzimmertisch, ging sich bequeme Kleidung anziehen. Ausgerechnet eine vom Fernsehen. Hatten sonst auch keine Probleme damit, Menschen zu zeigen, denen es schlecht ging, machten sogar ganze Sendereihen dazu. Problemfamilien, Hartz-IV -Leute, Fettleibige, Messies. Kosteten alles schön aus, bis auch der letzte Cent rausgequetscht war. Als ob Jasmin der einzige Mensch auf der Welt wäre, dem Unrecht geschah.

Schauer ertappte sich dabei, dass sie im Schlafzimmer stand, nur in Unterwäsche, die Jogginghose in der Hand, und vor sich hin schimpfte. Sie musste echt versuchen runterzukommen. Vielleicht war es wirklich diese Weihnachtszeit, in der man richtig zu spüren bekam, dass man allein dastand, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Mann. Vielleicht sollte sie nicht gleich in jedem einen Feind vermuten. Auch nicht in der Müslitante vom Aggressionskurs. Die war ja wirklich bemüht und hatte unheimliche Geduld mit diesen Typen da, in deren dumme Gesichter man manchmal wirklich gern einfach nur reinschlagen wollte.

Dass sie einen Hass auf die Welt hatte, wusste Schauer schon immer, und dass sie mit ihren Ausbrüchen schon oft großen Schaden angerichtet und vor allem häufig falsch gelegen hatte. Selbst ihre Schwester meinte es sicherlich nicht wirklich böse, war nur gefangen in altmodischen Schemata, und vielleicht war sie gar nicht so glücklich in ihrem Heim mit den Bälgern, die einem manchmal wirklich auf die Nerven gehen konnten. Doch manchmal kam ihr der Gedanke, dass ihre so offen gezeigte Ablehnung nur Neid auf ihre Schwester war. Warum wollte man immer gerade das haben, was man nicht bekam? Warum schätzte man nie wert, was man hatte?

Schauer zog sich an, streifte einen bequemen Pullover über. Ansehen konnte sie sich die Sachen ja mal, allein damit sie nicht dumm dastand, weil niemand sich bemüßigt fühlte, sie aufzuklären.

 

Eine Stunde später rieb sie sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, lehnte sich zurück. Es war stockfinster um sie herum, sie hatte ganz vergessen, die Lampen einzuschalten. Nur der Laptop spendete Licht.

Die Wondrak hatte sich wirklich Mühe gemacht. Hatte gewissenhaft alle Umstände aufgelistet, die ihr bekannt waren, ein ziemlich genaues Bild von der Lage gezeichnet, hatte die Prozesse von Jasmins Mutter beobachtet, wusste recht gut über die Ermittlungen Bescheid. In der Mappe fanden sich unzählige Zeitungsberichte, die sie ausgeschnitten und zusammengetragen hatte, außerdem einige Polizeiberichte, die sehr vertraulich wirkten und bei denen man sich fragen musste, wie die Wondrak an sie herangekommen war. Auf dem Stick waren Fernsehberichte und Gerichtsreportagen gespeichert. Alles in allem ergab sich für Schauer folgendes Bild:

An einem Apriltag vor vier Jahren war ein Notruf in der Zentrale eingegangen. In der Nacht um zwei Uhr bat eine Frau um Hilfe. Sie behauptete, eine Person wäre in ihr Haus eingedrungen, kämpfte mit ihrem Mann in der Küche und wäre gerade dabei, ihn umzubringen. Von diesem Anruf gab es eine Aufzeichnung, die jedoch verloren gegangen ist. Diesen Fakt hatte Wondrak mit drei Ausrufezeichen versehen. Schauer konnte sich auch nicht ausmalen, wie so etwas verloren gehen konnte. Notrufe wurden für neunzig Tage gespeichert, soweit sie wusste, und sicherlich wurde etwas Derartiges für die Prozessparteien auch vervielfältigt. Die Polizistin in der Zentrale, die den Notruf entgegennahm, sagte vor Gericht aus, Nora Mahler, Jasmins Mutter, hätte sehr teilnahmslos gewirkt, dafür, dass ihr Mann angeblich gerade um sein Leben kämpfte. Sie hätte weder geweint noch geschrien noch abgehetzt, panisch oder auf sonst irgendeine Art seelisch betroffen oder emotional gewirkt, noch hatte man im Hintergrund Kampfgeräusche vernehmen können.

Ein in der Nähe befindlicher Streifenwagen wurde zum Ort des Geschehens geschickt, ein Einfamilienhaus am Rande der Dresdner Heide. Schauer konnte mit dem Straßennamen nichts anfangen, musste erst noch nachsehen, wo das sein sollte. Eine ruhige Gegend, so die Aussage der Polizisten, schlecht ausgeleuchtet in der Nacht. Zur besagten Küche gab es einen Extra-Eingang, hieß es in der Beschreibung. Durch diesen soll der Täter ins Haus eingedrungen sein.

Als der Streifenwagen vor Ort eintraf, lagen das Haus und das gesamte Grundstück vollkommen still und dunkel, in keinem Fenster brannte Licht, niemand kam ihnen entgegen oder wartete am Haus auf sie.

Die beiden Polizisten entschieden, anstatt durch Klingeln oder Klopfen auf sich aufmerksam zu machen, das Haus von außen auf Einbruchsspuren zu untersuchen. Sie sagten nachher beide aus, da alles so still lag, vermuteten sie, jemand hätte sich mit dem Notruf nur einen Scherz erlaubt. Mit Taschenlampen und Pistolen in Vorhalte betraten sie das Grundstück, fanden auf der Rückseite des Gebäudes die Tür zu einem Anbau aufgebrochen. Genau genommen hatte jemand die Glaseinfassung der Tür eingeschlagen, die Tür selbst war noch geschlossen.

Zuerst riefen die Beamten hinein, fragten, ob sich jemand drinnen in einer Notlage befand, bekamen aber keine Antwort oder Reaktion. Als sie durch das kaputte Fenster in den Anbau leuchteten, der als Küche diente, sahen sie einen Mann am Boden liegen. Ein Tisch war beiseite gerückt, mehrere Stühle umgefallen, einige Schubladen standen offen, eine war heruntergerissen, zwei Schranktüren hingen schief an ihren Scharnieren. Der Mann am Boden lag regungslos, eine Blutlache hatte sich ausgebreitet. In der Verbindungstür zum ursprünglichen Haus stand eine Frau in einem Nachthemd und an ihrer Seite ein etwa zwölfjähriges Kind, ebenfalls im Nachthemd. Beide standen ganz stumm, bewegten sich nicht, reagierten zuerst nicht auf die Rufe der Polizisten.

Als Nächstes registrierten beide Polizisten einen Hammer, den die Frau in der Hand hielt. Vom Hammerkopf war Blut auf den Boden getropft, aber auch auf den Saum ihres Nachthemdes.

Nach mehrmaligem Rufen und nachdem die Frau von den Taschenlampen direkt angeleuchtet wurde, nahm diese nun die Polizisten wahr, legte auf Aufforderung den Hammer weg, kam zur Tür, entriegelte diese von innen, damit die Männer eintreten konnten. Von da an leistete sie jeden Anforderungen Folge und antwortete auf alle Fragen. Beide Polizisten gaben später an, dass sie dabei teilnahmslos erschien, sehr ruhig war und ohne Betonung sprach.

Zuerst hielten sie dies für eine Reaktion auf die Tat, einen Schockzustand. Das Kind in der Tür, Jasmin, blieb die ganze Zeit über stumm, weinte nicht, zeigte eine ähnlich teilnahmslose Miene wie ihre Mutter. Die anderen drei Kinder im Haus, damals sechs, drei und ein Jahr alt, schliefen in ihren Zimmern.

Dem Mann am Boden war nicht zu helfen, stellten die Polizisten fest, sein Schädel war zertrümmert, er zeigte keinerlei Lebenszeichen. Sie riefen trotzdem den Notarzt und meldeten der Zentrale die Tat.

Auf die erste Frage, was geschehen sei, sagte die Frau aus, jemand hätte die Scheibe in der Tür eingeschlagen, wäre durch die Öffnung geklettert und hätte unvermittelt ihren Mann, Thomas Mahler, angegriffen. Die Gestalt sei schwarz gekleidet gewesen, das Gesicht vollkommen verhüllt. Genau genommen sagte die Frau aus, die Gestalt hätte kein Gesicht gehabt. Jasmin bestätigte die Aussagen ihrer Mutter und wich auch später nie von diesen ab.

Die herbeigerufenen Ermittler, das mussten Bruch und Bartko gewesen sein, vermutete Schauer, zweifelten offenbar von der ersten Sekunde an der Aussage der Frau. Es gab eine Anzahl von Indizien, die dagegensprachen. Zum einen ergab eine Prüfung der Tür und ein später nachgestellter Versuch, dass es so gut wie unmöglich war, durch die kaum vierzig mal vierzig Zentimeter große Öffnung zu kriechen. Dass der Täter auf dem Weg nach draußen die Tür nicht einfach entriegelte, sondern wieder durch das Fenster geklettert sein sollte, schien ebenso unlogisch. Den Riegel zu lösen, hätte nur eines Handgriffes bedurft. Ebenso seltsam war der Umstand, dass Thomas, Nora und Jasmin Mahler sich in der Nacht um kurz vor zwei allesamt zufällig in der Küche aufgehalten haben sollten, als der Täter eindrang, und nicht vom Geräusch des brechenden Glases oder der Kampfgeräusche erwacht waren, wie eigentlich zu vermuten war. So jedenfalls haben es Jasmin und ihre Mutter ausgesagt. Ihre Tochter litt an Schlafstörungen, erklärte Nora später, und es wäre ganz üblich gewesen, dass sie sich mehrmals die Woche in der Nacht in der Küche einfanden, um etwas zu trinken. Die Schlafstörungen des Kindes waren jedoch durch keinerlei ärztliche Atteste belegt. Auf die Frage, warum sie ihrem Mann nicht geholfen hätte, antwortete die Frau wortwörtlich, es hätte keinen Zweck gehabt. Weder an ihr noch an Jasmin hatte der Täter irgendein Interesse gezeigt. Nachdem er Thomas Mahler sechs- oder siebenmal mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen hätte, wäre er einfach wieder verschwunden.

Zum genauen Vorgang der Tat sagte Nora Mahler aus, ihr Mann habe am Tisch gesessen, sie und Jasmin hätten an der Spüle gestanden, da sie meist Leitungswasser tranken. Das Licht hätten sie nicht angeschaltet gehabt. Als die Gestalt eindrang, hätten sie alle drei nur verwundert zur Tür geschaut.

Dies und der nächste Fakt überzeugte die Staatsanwaltschaft von ihrer Schuld, denn die Tatwaffe, der Hammer, stammte aus dem Haushalt der Mahlers. Er hatte sich in einer Werkzeugkiste befunden, die im Schrank unter der Spüle stand, genau dort also, wo Nora und Jasmin behaupteten gestanden zu haben. Nach Aussage Nora Mahlers soll der Täter sich zuerst das Werkzeug genommen und damit auf ihren Mann eingeschlagen haben. Nach dem ersten Schlag, der Thomas Mahler wohl nur am Hinterkopf streifte und die Schulter traf, entspann sich ein Kampf, in dessen Folge Tische und Stühle verrückten und umfielen, Schubladen und Schranktüren auf- und abgerissen wurden. Schließlich aber gelang es dem Täter, Mahler mehrmals am Kopf und auch einmal auf die Kehle zu treffen, was den Mann hilflos zu Boden gehen ließ. Der Täter hatte sich über ihn gebeugt und noch einige Male heftig zugeschlagen. Dann hatte er sich aufgerichtet, den Hammer einfach fallen gelassen, war zur Tür gegangen, um wieder hinauszuklettern.

In einer Randbemerkung hatte Wondrak notiert, dass beide Polizisten ihre Aussagen nach einer ersten Anhörung immer weniger konkret werden ließen. So waren sie sich schon bei ihren Auftritten beim ersten Prozess gegen Nora Mahler nicht mehr einig, wo und wie genau Jasmin mit ihrer Mutter in der Küche gestanden hatte, als sie eintrafen. Sie wurden sich auch uneins darüber, wie sie weiter vorgegangen waren. Sie nahmen immer mehr Details zurück, widersprachen sich zunehmend. Nora Mahler wurde bei diesem ersten Prozess aus Mangel an Beweisen freigesprochen, worauf die Staatsanwaltschaft sofort Revision einlegte. Bei einem zweiten Prozess gegen Nora Mahler, der knapp ein Jahr später stattfand, verweigerten beide Polizisten schließlich die Aussage, weshalb sich die Anklage auf ihre ersten Aussagen berufen musste. Das war, soweit Schauer wusste, gar nicht rechtens, sollten die Polizisten diese zurückgezogen haben. Warum die beiden Polizeiobermeister, Schubert und Piotrowski, ihre Aussagen nachträglich widerriefen, das ging aus den Unterlagen nicht hervor. Bei diesem zweiten Prozess wurde Nora Mahler schließlich, trotz der verweigerten Aussagen und einiger Ungereimtheiten, wegen Mordes und besonderer Heimtücke zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Schauer sichtete die gesammelten Zeitungsberichte, die Wondrak aus dem Internet kopiert oder vom Original abfotografiert hatte. Diese enthielten einen riesigen Wust an Mutmaßungen und Spekulationen. Sie enthielten aber auch konkretere Informationen zu den Gerichtsverfahren. So begann der erste Prozess gegen Nora Mahler schon sieben Wochen nach der Tat, scheiterte aber bereits nach wenigen Tagen aus Mangel an Beweisen. Nora Mahler wurde aus der Untersuchungshaft entlassen, kehrte zu ihren Kindern zurück, die bis dahin in einem Heim untergebracht worden waren. Vierzehn Monate nach der Tat, in denen Nora Mahler mit ihren Kindern weiter in dem Haus wohnte, wurde sie erneut angeklagt und nach mehreren Wochen, bei eigentlich unveränderter Beweislage, verurteilt. Diesmal hatte sich die Staatsanwaltschaft mehr Mühe gegeben. Man wies durch Versuchsanordnungen nach, dass es unmöglich war, durch das Küchentürfenster zu steigen. Als weiteres Indiz galt, dass man in der Küche keinerlei Hinweise auf eine fremde Person fand, weder Haare noch Blut noch Speichel oder Hautzellen. Noch dazu müsste der Täter exakt gewusst haben, wo sich der Hammer befand. Und wenn die Aussage stimmte, dass Nora und Jasmin an der Spüle gestanden haben, so hätten sie wegtreten müssen, um dem Eindringling Gelegenheit zu geben, den Hammer überhaupt an sich zu nehmen. Außerdem wurden Nora Mahler in verschiedenen psychologischen Gutachten Heimtücke, Gefühllosigkeit und ein Hang zur Grausamkeit unterstellt. Wie die Gutachter zu diesen Annahmen kamen, erschloss sich Schauer nicht.

Um das Motiv dieser Tat gab es Uneinigkeit. Der Staatsanwalt behauptete, Nora Mahler litte unter Verlustängsten und hätte befürchtet, ihr Mann könnte sich von ihr trennen. Außerdem hatte er erst kürzlich auf ihr Betreiben hin eine neue teure Lebensversicherung für sich abgeschlossen, weshalb ihr als Witwe jetzt fast zweihunderttausend Euro zustanden. Die Versicherung selbst hatte beantragt, eigene Sachverständige in dem Fall ermitteln zu lassen, das wurde jedoch durch richterlichen Beschluss verweigert. Nora Mahlers Verteidiger versuchten den Vorwurf des hinterhältigen Mordes zu mildern, indem sie Thomas Mahler unterstellten, seine Frau und möglicherweise auch Jasmin misshandelt zu haben, weshalb sie sich auch mitten in der Nacht in der Küche aufgehalten hätten. Sie hielten es für möglich, dass Thomas Mahler sich gerade an Jasmin vergriff, die Mutter zum Schutze des Kindes den Hammer aus dem Schrank nahm und auf ihren Mann einschlug. Die Legende vom Einbrecher hätte sie nur erfunden aus Angst, die Kinder zu verlieren. Diese Theorie wurde jedoch weder von Nora noch von Jasmin untermauert. Im Gegenteil, beide widersprachen dieser Vermutung, obwohl sie sich entlastend für sie ausgewirkt hätte. Anders als in den Vernehmungen direkt nach der Tat beantwortete Nora Mahler die Fragen des Richters nicht, sie wiederholte immer nur ihre erste Aussage und schien laut den Berichten der Prozessbeobachter den ganzen Prozess mit einem leicht amüsierten Blick zu betrachten, als wäre sie eine Außenstehende und nicht die Angeklagte. Noch dazu wies der Zustand der Kinder auf keine körperliche Misshandlung hin.

Die Aussagen der Ermittler Bruch und Bartko unterstützten die These der Staatsanwaltschaft, wobei sich Hauptkommissar Bruch in seinen Äußerungen sehr zurückhielt, sein Kollege Bartko hingegen unverhohlen seine Meinung zur Tatverdächtigen in diesem Tötungsdelikt kundtat. Er hielt sie für berechnend, niederträchtig und gewalttätig.

Erst das zweite Mal sah Schauer ein Bild von Bartko. Er war ein schöner Mann gewesen, mit dunklem Haar und gepflegtem Vollbart, sportlicher Kleidung, durchtrainiert und charismatisch. Wüsste sie nicht, wer er war und dass er seit einigen Monaten unter der Erde lag, sie hätte sich sicherlich in ihn verschossen, selbst mit dem Wissen, dass einer wie der Frauen nahm und ablegte wie Unterhemden. Aber Bruch, dachte sie beim Anblick der Bilder entsetzt, was war nur geschehen mit ihm in den letzten zwei, drei Jahren? Auf den Fotos sah er ganz anders aus, hatte keine Augenringe, kein ausgezehrtes Gesicht, eine gesunde Hautfarbe, unscheinbar zwar neben seinem strahlenden Kollegen, aber doch ansprechend. Dagegen wirkte er jetzt wie eine räudige Katze.

Schauer wandte sich wieder den Dateien zu. Klickte durch die Informationen, die Wondrak über Jasmin gesammelt hatte. Der Journalistin schien tatsächlich an dem Mädchen gelegen, sie hatte einige Informationen gesammelt und alles sorgfältig chronologisiert. Nach der Verurteilung ihrer Mutter hatte das Jugendamt zuerst bestimmt, dass alle vier Kinder bei ihrer Tante, der Schwester von Nora Mahler, blieben, um zusammenleben zu können. Doch Jasmin geriet mit ihrer Tante und ihrem Onkel immer wieder in Streit und riss aus. Ehe die Situation völlig eskalierte, nahm man das Mädchen aus der Familie, brachte sie in einem Heim unter, wo sich die Situation jedoch immer weiter zuspitzte. Jasmin, die vorher von ihrem Umfeld als still und manchmal etwas seltsam beschrieben wurde, veränderte sich und mutierte zu einem fast schon bösartigen Kind, riss immer wieder aus, schwänzte oft die Schule, bis sie irgendwann gar nicht mehr hinging. Manchmal blieb sie wochen-, später monatelang weg. In der Zwischenzeit wechselte sie von einem Heim ins nächste, bekam sogar einen Platz in einer geschlossenen Klinik, aus der es ihr noch am selben Tag gelang zu flüchten, indem sie einen Auszubildenden mit sexuellen Versprechungen in einen Nebenraum gelockt, ihn niedergeschlagen und ihm den Schlüssel entwendet hatte. Zweimal schon wurde sie wegen lebensbedrohlicher Zustände ins Krankenhaus eingeliefert, im Alter von vierzehn erlitt sie eine Alkoholvergiftung, vor einem halben Jahr wurde sie auf einer Bahnhofstoilette entdeckt, völlig apathisch, dehydriert, mit einer Blutvergiftung, die sie sich durch eine Verletzung zugezogen hatte. Inzwischen, so schien es, hatten die Behörden das Kind aufgegeben. Zwar war sie noch in einem Heim gemeldet, dort aber schon seit Wochen nicht mehr aufgetaucht.

Schauer musste innehalten. Das war wirklich schwerer Tobak. Der Vater vor ihren Augen ermordet, die Mutter im Gefängnis, von der Tante ins Heim gegeben, vermutlich ohne Kontakt zu den Geschwistern, und ab dann wurde sie immer nur weitergereicht, als Problem, mit dem sich andere abgeben sollten. Fast schämte sich Schauer, Jasmin so angegangen zu haben. Sie konnte wirklich nichts für ihre Situation. Schauer malte sich aus, wie es ihr in diesem Alter in dieser Situation ergangen wäre, und es war ihr kaum möglich, so ungeheuerlich und bedrückend waren die Vorgänge um Jasmin Mahler.

Endlich raffte sie sich auf weiterzulesen, und nun kam, was Claudia Wondrak angekündigt hatte. Die Anwälte Nora Mahlers hatten jetzt, nach fast zwei Jahren Haft, eine Neuverhandlung durchgesetzt, und wie es schien, standen die Chancen nicht schlecht, Nora Mahler freizubekommen. Zu offensichtlich hatte man im zweiten Prozess Hinweise übergangen, die Nora Mahlers Schuld infrage stellten. Viele Beweise gegen sie standen auf sehr wackeligen Füßen. Hauptsächlich warf man der Polizei eine sehr mangelhafte Beweisaufnahme vor, zu einseitige Ermittlungen. Von den Hunderten Blutspritzern wurden gerade mal zehn analysiert, auf der Tatwaffe, der Tür, an Tisch und Stühlen war von Anfang an nur nach Fingerabdrücken von Nora Mahler gesucht worden. Man hatte von vornherein jegliche Fremdeinwirkung ausgeschlossen und einzig nach Indizien gesucht, die Nora Mahler belasteten. War das ein Vorwurf, den Bruch sich gefallen lassen musste? Welche Rolle spielte er in dem Dreiergespann aus ihm, Bartko und Simon? Von den dreien schien er der am wenigsten dominante gewesen zu sein. Außerdem gehörten mehr dazu als diese drei Männer. Die Staatsanwaltschaft, der Richter, die Techniker, die Spurensicherung, die Forensik – eine ganze Maschinerie.

Schauer klickte zurück, öffnete ein Ordner mit Bilddateien. Sie betrachtete Nora Mahler auf verschiedenen Fotos. Dafür, dass sie vier Kinder hatte, war sie recht jung, sie hatte Jasmin mit neunzehn schon bekommen. Sie war schlank, wirkte auf allen Bildern sehr blass, ihr Haar war dunkel, gefärbt vielleicht, mit ihrem dunklen Lippenstift war sie eine Erscheinung wie Schneewittchen. Dabei hatte Schauer nicht das Gefühl, sie hätte es darauf angelegt. Eher schien sie eine der Frauen zu sein, die nichts Besseres mit sich anzustellen wussten.

Angenommen, dachte sich Schauer, angenommen, es stimmte, was Mahler sagte. Jemand dringt ins Haus ein, erschlägt ihren Mann. Sie, völlig im Schock, das Kind an ihrer Seite, kann kaum mehr tun, als die Polizei zu rufen, um dann ganz erstarrt zu sehen, wie der Vater ihrer Kinder stirbt. Dann kommt die Polizei, und der Albtraum endet nicht, sondern beginnt erst. Sie gerät unter Mordverdacht, was meistens schon ausreicht, um ein Leben zu zerstören, denn Menschen bildeten sich zu schnell ein Urteil und hatten eine zu kurze Geduldsspanne, um sich eine Geschichte bis ganz zum Ende anzuhören. Zuerst wird sie freigesprochen, bekommt ihre Kinder wieder. Doch welche Art von Freiheit sollte das sein, allein mit vier Kindern, mit dem Makel des Mordverdachts, mit dem Damoklesschwert der Revision über dem Haupt. Dann der zweite Prozess, sie wird schuldig gesprochen, trotz mangelnder Beweise. Wie musste es sich anfühlen, in die Mühlen der Justiz zu geraten, an einen Richter vielleicht, der sich sein Bild schon gemacht hatte? Wie musste es sein, sich von seinen Kindern zu verabschieden, ohne zu wissen, wie es ihnen ergehen wird, wie sie es aufnehmen, dass Vater und Mutter weg sind? Wie musste es sein, zu erfahren, dass das erstgeborene Kind so aus der Bahn geworfen wird, ohne etwas dagegen tun zu können? Und dann noch Jasmins Schicksal, hin und her gebeutelt, allein und verlassen. Himmel, das war kaum zu ertragen. Danke, ja danke dafür, werte Frau Wondrak. Als ob sie nicht schon genug Mist an der Backe hatte, musste sie sich nun darüber auch noch den Kopf zerbrechen.

 

Ganz unvermittelt knallte es auf der Straße wie ein Schuss, und Schauer zuckte zur Seite. Hastig sprang sie auf, lief leicht geduckt zum Fenster, sah vom dritten Stock hinab auf den Gehweg, wo zwei Kinder oder Jugendliche davonliefen. Vermutlich hatten sie nur einen Vorjahresböller gezündet.

«Gottverflucht!», zischte Schauer, und ein nicht kleiner Teil von ihr verlangte danach, den Burschen hinterherzusprinten, um ihnen für den Schreck eine reinzuhauen. Entspann dich, mahnte sie sich aufs Neue. Vollkommen verkrampft war sie, diese Story hatte sie wirklich verstört, zumal sie einige Protagonisten kannte, nein, mehr noch, sie steckte ja mit drin. Und sich vor allem die Frage stellte, ob es ein Zufall war, dass Simon ausgerechnet jetzt gestorben war, zwei Tage vor Prozessbeginn? Und Bartko, war sein Tod wirklich ein Unfall gewesen? Es wäre sicher nicht das erste Mal, dass man Zeugen aus dem Weg räumte. Einige große Fälle gab es, in denen kerngesunde junge Leute plötzlich an Herzinsuffizienz, bei Hausbränden oder bei Autounfällen ums Leben kamen. Musste man nur an diesen NSU -Fall denken, auch hier in Sachsen, da stimmte hinten und vorne nichts. Und war Bruch deshalb in Gefahr? Wer waren denn genau die Leute, die ihm die Tabletten gaben? Wie ging es ihm überhaupt? Schauer zog ihr Telefon aus der Hosentasche.

 

Bruch erwachte. Er öffnete die Augen. Es war dunkel. Durchs Fenster warfen die Straßenlaternen matte Lichtflecken an die Zimmerdecke. In seinem Mund hatte er den Geschmack von Metall, giftig, als oxidierte Kupfer. Die Katze saß mit erhobenem Kopf am anderen Ende der Couch. Sie sah nicht ihn an. Bruch hob den Kopf ein wenig, unter der Jacke glomm ein Licht. Er nahm sein Telefon heraus, musste das Display seitlich drehen, um nicht geblendet zu werden. Schauer rief an. Noch einmal sah Bruch zur Katze. Jetzt starrte sie ihn an, als erwartete sie eine Entscheidung von ihm. Doch die wurde ihm abgenommen. Der Anruf endete. Das Display erlosch.

Bruch wusste, dass Nicole enttäuscht sein würde. Er wusste, dass sie kurz davor war, alles aufzugeben. Nicht nur ihr Leben hier in Dresden. Sie war bereit, sich aufzugeben, all ihre Wünsche und Vorsätze. Obwohl sie wusste, dass sie nicht in ein übliches Schema passte, war sie bereit, sich in eines zu fügen, nur um nicht allein sein zu müssen. Er wusste, wenn er ihr nicht entgegenkam, wenn er ihr keine Zeichen gab, nichts, woran sie sich festhalten konnte, wäre es nur eine Frage von Tagen.

Warum rief er sie nicht zurück? Sie würde so tun, als täte sie ihm einen Gefallen, würde tun, als tangierte sie es nicht, als nervte er sie. Und doch wäre sie froh. Er wusste, dass er in ihr jemanden hatte, auf den er sich verlassen konnte. Geschwiegen hatte sie bisher. Hatte niemandem von Bartkos Waffe, von seinen Geldbündeln und der Tüte Stoff erzählt, die er beiseitegeschafft und in seiner Wohnung versteckt hatte, um noch nach dessen Tod Schaden von Michael abzuwenden. Schauer hatte all dies in seiner Wohnung entdeckt. Sie wusste, dass er Tabletten nahm, die er illegal bezog, und hatte auch darüber geschwiegen. Hatte, obwohl sie sonst unnachgiebig war, nicht wieder nach seiner Tochter gefragt, der er sich selbst entzogen hatte und seitdem ihr Zimmer hütete wie einen Heiligen Gral. Sie hatte nicht gefragt, warum seine Wohnung eine gesichtslose Hülle aus weiß gestrichenem Beton war, ohne jeden Reiz, ohne jede Ablenkung, hatte nie gefragt, warum er stundenlang vor dem Fernseher saß und im Sekundentakt durch die Kanäle zappte. Sie hatte sich seiner angenommen, ohne es zu wissen, ohne es eingestehen zu wollen, glaubte genau das Gegenteil zu tun. Sie hatte ihn aufgefangen, als er mit Lichtgeschwindigkeit aus dem flirrenden Stroboskoptunnel geschleudert worden war, hatte ihn nach Hause gebracht. Sie konnte ihm guttun. Er hatte auch nur sie. Er brauchte sie, doch gleichzeitig wusste er, war es wahrscheinlich, dass er sie dadurch mit in den Abgrund zerrte.

Bruch setzte sich auf, sah auf dem Telefon nach der Uhrzeit. Sollte es noch derselbe Tag sein, hatte er gerade fünf Stunden geschlafen, doch er fühlte sich, als wäre es eine Woche gewesen, oder ein ganzes Jahr. Die Katze streckte sich, betrachtete ihn. Er hatte noch nie mit ihr gesprochen, so wie Schauer es immer tat. Er wusste, es war absurd, doch er fürchtete sich vor dem, was geschehen konnte, wenn er es tat. Er konnte sich nicht trauen, seinem Gehirn konnte er nicht trauen.

Nun erhob er sich von der Couch, ging in die Küche, holte ein Fertiggericht aus dem Schrank, tat es in die Mikrowelle. Dann nahm er eine Büchse Katzenfutter und öffnete sie. Die Katze kam, lief gemächlich, roch am Futter. Bruch lehnte sich an die Anrichte, strich sich über die Wange. Drehte dann den Kopf seitlich, roch. Zwar trug er die Kleidung vom Vortag, doch er stank nicht. All die Mechanismen funktionierten. Als wäre er trainiert worden. Füttern, rasieren, waschen, essen, zur Toilette gehen. Er tat all das, selbst wenn er sich an nichts erinnern konnte. Welcher Mensch war er? Welcher Mensch war der richtige Felix Bruch? Der auf einem grellen Lichtstrahl durch den Tunnel ritt, oder der im dunklen Loch?

Die Mikrowellenglocke erklang hell, doch Bruch dachte nicht an sein Essen. Er hob die Hände, betrachtete die offenen Blasen und wunden Stellen. Wenigstens das war ihm bewusst. Er war auf der Suche gewesen. Auf der Suche nach dem Haus mit der lila Fassade. Das Haus von dem Bild aus dem Karton. Es hatte seinen Grund, dass es die Aufnahme gab und dass sie ihm zugeschickt worden war. Vielleicht war es ein Puzzle, ein Rätsel, das nur zu lösen war, wenn man einen Schritt nach dem anderen tat. Er musste das Haus finden, dort würde sich der nächste Schritt offenbaren, dort würde er erfahren, was es mit dem Ohrring, der Scherbe und dem versengten Plüschtier auf sich hatte.

Jetzt nahm Bruch sich das Essen aus der Mikrowelle und eine Gabel aus der Schublade. Selbst das tat er, sein Besteck aufwaschen. Essen und Katzenfutter kaufen. War er am Ende nur eine Marionette? Er entdeckte etwas, legte die Gabel ab. Ein Brief. Aus dem Umschlag gerissen, halb entfaltet. Eine Zeugenvorladung. Morgen sollte der Prozess beginnen, dann würde er sie wieder sehen.

Nora Mahler, diese Frau mit den toten Augen. Ihre Tochter Jasmin, die schon durch alle Abgründe gegangen war. Die Erzählung von der Gestalt, die in die Küche kam, indem sie durch das Fenster stieg, vielmehr glitt, den Mann mit einem Hammer erschlug, ganz gesichtslos, nur ein Schemen. Nora Mahler war kein normaler Mensch. Sie war wie er. Dieser Fall hatte ihm vor Augen geführt, dass etwas war mit ihm, sein vorheriges Leben mit Frau und Kind nur eine Illusion.

Im Wohnzimmer leuchtete sein Telefon auf. Die Katze hatte schon vorher den Kopf gehoben. Sicher Schauer, die es noch einmal versuchte. Bruch ging nachsehen. Nein, sie war es nicht. Er nahm den Anruf an.

«Sie hat mich angerufen heute», sagte die Frauenstimme leise.

Das wusste er nicht. Es musste geschehen sein, als alles Licht um ihn explodiert war.

«Sie wird alles wissen wollen», sprach die Frau weiter, «zwar denkt sie, dass sie das Gegenteil will, aber sie wird sicher zu einem Problem.»

Bruch schwieg weiter.

«Du kannst keine weiteren Probleme gebrauchen.»

Das wusste Bruch.

«Geht es dir besser?»

«Ja», antwortete er endlich.

«Was hast du getan die letzten Tage?»

War das ein Test, oder wusste sie es wirklich nicht?

«Das will ich herausfinden.» Das war gelogen, er wusste, was er getan hatte.

«Simon ist tot», sagte die Frau.

Das wusste er auch. Das und noch mehr.

«Simon war dein Freund», sagte sie.

Warum sagte sie das? Simon war nicht sein Freund gewesen, nie.

«Wer auch immer sein Nachfolger wird, er wird dir das Leben nicht so leicht machen», fuhr sie fort.

Auch das wusste er.

«Walter Juskat, ist der Mann von Bedeutung?», fragte sie nun.

Das war allerdings etwas, was er herausfinden musste. Nichts, was geschah, geschah ohne Grund. Er schwieg weiter.

«Man hat ihn operiert. Sein Zustand ist kritisch, aber stabil. Gute Chancen zu überleben», fuhr sie fort.

«Ich verstehe», sagte er jetzt.

«Wirst du vor Gericht erscheinen?»

«Ich muss.»

Nun schwieg sie einen Moment. Sie wusste so gut wie er, dass er nicht einfach wegbleiben konnte.

«Du wirst wissen, was du tust», sagte sie und legte auf.