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Es war nicht verboten, was sie tat, als sie am nächsten Morgen mit dem Dienstwagen losfuhr. Schlau war es vielleicht nicht, aber sie hatte das Gefühl, es tun zu müssen. Sie hatte nicht richtig schlafen können, hatte sich den Kopf über diesen Mord zerbrochen. Welchen Grund es überhaupt gegeben haben mochte, dass sich Vater, Mutter und Kind unter der Woche mitten in der Nacht in der Küche aufhielten, obwohl er früh am Morgen zur Arbeit musste und Jasmin in die Schule. Das Mädchen ging ihr nicht aus dem Kopf. Es würde unweigerlich eines Tages tot aufgefunden werden, wenn sich nicht augenblicklich jemand um sie kümmerte. Es war wohl das Beste, man verurteilte sie, wegen versuchtem Totschlag an Walter Juskat. Im Gefängnis konnte sie ausnüchtern, sauber werden, dort konnte sie untersucht und geheilt oder wenigstens behandelt werden. Denn es war beinahe zwangsläufig, dass sie irgendwelche Krankheiten in sich trug, Syphilis, HIV , Herpes, Hepatitis, Hunderte andere Viren, die den Körper zerfraßen. Dann konnte man sie vielleicht therapieren. Konnte ihre Traumata lösen, konnte vielleicht einen Menschen aus ihr machen, der zwar nicht normal war, aber wenigstens keine Gefahr mehr für sich oder andere.

Schauer parkte den BMW am Straßenrand und stieg aus. Sie hatte per Handy nach dem Weg suchen müssen, war in einer Gegend von Dresden, die sie bisher gar nicht kannte, Klotzsche hieß der Ortsteil. Es war noch dunkel am frühen Morgen, nur im Osten glomm ein heller Schein. Der wenige Schnee, der von den Tagen zuvor noch liegen geblieben war, machte alles noch ein wenig heller. Sie sah sich um, gab sich, als wäre sie jemand, dessen Job sie hierhergeführt hatte, sollte jemand aus dem Fenster sehen.

Das Grundstück der Mahlers wirkte zugewachsen und unübersichtlich, große Rhododendren nahmen viel Platz ein, eine Lärche stand kahl, dunkle Tannen vor dem Haus. Dahinter, am Ende des Grundstücks, begann der Wald. Dazwischen hohes Gras, von Schnee und Nässe niedergedrückt. Eine Schaukel und eine Rutsche aus rotem und gelbem Plastik standen neben dem Haus, spröde und verblichen. Und so schäbig war auch das Haus. Ein zweistöckiges Gebäude, mit schwarzem Satteldach, zu klein eigentlich für sechs Personen, bestimmt achtzig oder hundert Jahre alt. Rauer, graubrauner Putz, alte Kastenfenster. Frühere Umbauten zeichneten sich durch helleren Putz ab, niemand hatte sich je die Mühe gemacht, das durch einen Anstrich anzugleichen. Niemand hatte sich während Nora Mahlers Haft um das Grundstück gekümmert, Wein und Efeu waren wild am Haus hinaufgewachsen, die Fensterscheiben waren blind, von den Rahmen platzte der Lack ab. Aus den Dachrinnen hingen Laub und Lärchennadeln der letzten vier, fünf Jahre, das Wasser war an verschiedenen Stellen an der Hauswand hinabgelaufen, hatte sie ausgeblichen und Moos und Algen wachsen lassen, das Gartentor hing schief, aus den Ritzen der Gehwegplatten zum Haus wuchs Unkraut, hatte einige sogar nach oben gedrückt. Es war nichts Schönes hier in diesem Moment und würde es wohl noch nie gewesen sein. Selbst bei Sonnenschein im Frühling wäre es ein düsteres Gebilde, das seinen Zweck erfüllte, indem es ein paar armen Seelen ein Obdach gab.

Schauer atmete noch einmal durch, dann betrat sie das Grundstück, als hätte sie die Erlaubnis dazu. Sie steuerte direkt auf die Haustür zu, zog am Knauf, versuchte durch das kleine Zierfenster zu erkennen, wie es drinnen aussah. Doch es war einfach nur finster.

Und weil sich bisher noch niemand bemerkbar gemacht hatte und auch auf der ruhigen Nebenstraße so gut wie gar kein Verkehr war, lief sie wie die beiden Polizisten damals vor vier Jahren ums Haus herum. Durch das hohe Gras voller nassem Schnee machte sie große Schritte. Die Spuren, die sie hinterließ, würden heute noch abtauen, wenn die Sonne aufging.

Die Seite des Gebäudes war nichtssagend, die Fenster gerade so hoch, dass sie auf Zehenspitzen hineinsehen konnte. Doch auch von hier waren drinnen nur Schemen und Umrisse zu erkennen. Den Versuch ihres Gehirns, ihr irgendwelche Bewegungen vorzugaukeln, ihr Angst zu machen, indem es sie daran denken ließ, wie es wäre, wenn ihr plötzlich von innen ein Gesicht begegnete, ignorierte sie. Das war einfach nur ein altes Haus.

Nachdem sie den tristen, verwilderten Spielplatz der Kinder passiert hatte, erreichte sie auf der Rückseite des Hauses den Anbau, in dem der Mord geschehen war. Thomas Mahler hatte wirklich kein Geld oder Sinn für Ästhetik gehabt, dieser Gebäudeteil wirkte viel zu massig, die Fenster zur linken und zur Rückseite schienen vom Sperrmüll, sie waren verschieden groß und aus unterschiedlichen Materialien. Der Anbau unverputzt, die Ziegel eine wilde Mischung aus allem, was man von Abbruchhäusern bekommen konnte. Gelbe, rote, braune, auch Gasbetonsteine, waren wild durcheinander gemauert, ziemlich sicher war dieser Bau nie genehmigt worden. Immerhin konnte man selbst aus den Nachbargrundstücken die Rückseite des Hauses kaum einblicken. Das Dach des Anbaus war flach, einfach mit Teerpappe gedeckt, die an den Seiten ausfranste. Für eine Dachrinne hatte es an dieser Stelle noch nicht gereicht.

Schauer war verblüfft, die besagte Hintertür nur angelehnt zu sehen. Soviel sie gelesen hatte, wohnte Nora Mahler nach dem ersten Freispruch noch einige Monate in dem Haus, doch bei ihrem Haftantritt nach dem zweiten Prozess würde man das Haus nicht offen gelassen haben. Auch bei den Nachuntersuchungen sollte eigentlich sichergestellt worden sein, dass alles verschlossen und versiegelt war.

Schauer sah sich nun doch verstohlen um. Ihr war unbehaglich. Den Wald im Rücken, was im Sommer vielleicht idyllisch erschien, wirkte es jetzt einfach nur bedrohlich, als lauerten dort Wesen, die das Haus beäugten.

Einfach mal Schnauze halten, mahnte Schauer ihr Gehirn. Noch einmal würde sie weder auf sich noch auf irgendwelchen Hexenkram reinfallen. Sie trat an die Tür heran, drückte mit dem Ellbogen dagegen.

«Hallo», rief sie leise. «Polizei!»

Es blieb vollkommen still. Kalt schien es in dem Haus zu sein. Kälter als draußen.

«Jemand da?», rief Schauer noch einmal. Die Tür war nicht aufgebrochen, sie hatte einfach nur offen gestanden. Es war eine Tür aus weißem Kunststoff mit einer kleinen Fensteröffnung, eigentlich nicht als Außentür gedacht, vielleicht aus dem Schutt gerettet oder das Billigangebot eines Baumarktes, sie hatte auch auf der Außenseite eine Klinke. Das vom Täter eingeschlagene Fenster war mit einem Brett verschlossen worden, das jemand von außen einfach angeschraubt hatte. Die Öffnung schien wirklich zu klein, als dass jemand hindurchklettern könnte, höchstens vierzig Zentimeter im Quadrat. Auszuschließen aber war es nicht. Doch warum sollte derjenige nicht gleich eines der größeren Fenster eingeschlagen haben? Und womit eigentlich? Den Hammer hatte der Täter nach Noras Aussage erst aus der Werkzeugkiste genommen, nachdem er hineingekommen war.

Die Tür hatte außen eine Klinke, vielleicht war sie nach den letzten Ermittlungen einfach nur zugeworfen worden, und ein Zufall hatte sie geöffnet. Recht große Äste lagen hier vor der Tür, vielleicht war einer bei einem Sturm im Herbst abgebrochen und auf die Klinke gefallen. Vielleicht war es ein Marder oder ein Waschbär gewesen, die sich inzwischen auch hier herumtrieben, sie galten als sehr geschickt. Vielleicht waren es aber auch neugierige Kinder gewesen.

Nach einem letzten Blick nach hinten trat sie ein. Zuerst inspizierte sie den Riegel an der Innenseite, ein einfacher Griff, den man drehte, schon war die Tür offen. Es gab wirklich keinen plausiblen Grund, warum der Täter das nicht genutzt haben sollte, anstatt wieder nach draußen zu klettern.

Inzwischen war es ein wenig heller geworden, im diffusen Licht erkannte sie Laub, das durch den Türspalt geweht worden war, betrachtete die Küche. Genau wie der Anbau selbst, war sie aus allem zusammengestückelt, was man vermutlich billig aus dem Internet bekam. Mindestens drei kleine Küchen schienen hier verbaut, die Möbelfronten ganz verschieden, selbst die Höhen der Arbeitsplatten variierten. Der Herd stand frei, der Spülschrank war scheinbar selbst konstruiert, ein dauerhaftes Provisorium, das Abflussrohr war durch eine laienhaft gesägte Öffnung an der Seitenwand geführt. Ein zusätzlicher Schubladenschrank und ein Tisch mit sechs verschiedenen Stühlen komplettierten das Bild. Hier hatte man keinen Wert auf Schönheit gelegt, das hier erfüllte alles lediglich seinen Zweck. Schauer ging langsam herum, versuchte sich darauf einzustellen, dass möglicherweise ein Tier von ihr aufgeschreckt wurde. Kein Kinderbild hing hier, was ungewöhnlich war, dafür, dass es vier Kinder in dem Haushalt gegeben hatte. In der Küche ihrer Schwester hing jede Kritzelei, die je von einem ihrer Kinder gemalt worden war. Aber es konnte ja sein, dass die jemand alle entfernt hatte. Dann aber stellte sie fest, dass zwei Schranktüren schräg hingen und beinahe abfielen, als Schauer sie öffnete. Ebenso ließ sich eine Schublade nicht richtig schließen. Konnte es sein, dass dies noch die Spuren des Kampfes waren, hatte Nora Mahler sie in den Monaten, in denen sie hier noch gelebt hatte, nicht reparieren lassen?

Schauer fröstelte. Die Frau war offensichtlich nicht mit Reichtum gesegnet, außerdem war ihr Mann tot, sicher hatte sie andere Probleme gehabt. Sie ging zur Spüle, öffnete die Tür des selbst gezimmerten Schranks und fand eine Werkzeugkiste vor, ein Blechkasten, der offen stand, der Einlegekasten mit Kleinwerkzeug, den man herausnehmen konnte, lag quer darauf. Im Dunkeln war das schwerere Werkzeug nicht auseinanderzuhalten. Schauer hockte sich hin, nahm ihr Handy, um hineinzuleuchten. Der Hammer lag nicht darin, wie auch, als Beweisstück. Aber müsste nicht die ganze Kiste konfisziert und auf Spuren untersucht worden sein? Hatte man sie zurückgegeben? War das eine neue Kiste, eine andere? Schauer war sich da nicht sicher. Wondrak hatte in ihren Aufzeichnungen deutlich gemacht, dass die Ermittlungen nicht sehr gründlich geführt wurden, ganz im Gegenteil. Aber konnte das heißen, dass der Kasten so stand, wie der Täter ihn zurückgelassen hatte?

Schauer klappte die Tür zu und richtete den Lichtstrahl auf den Boden aus billigem PVC -Belag. Was sie jetzt erkannte, entsetzte sie einigermaßen, denn unter dem Tisch schien es, als zeichneten sich die Umrisse eines großen dunklen Flecks ab. Nach einem kurzen Zögern überwand sie alle Skrupel. Sie schob den Tisch beiseite und betrachtete den unregelmäßigen Ring genauer, er war im Umfang groß wie ein aufgespannter Regenschirm. Sie kratzte vorsichtig mit dem Fingernagel am Rand, er war hartnäckiger, als es ein Kaffeefleck wäre oder sonst ein Lebensmittel. Das hier war das Blut des toten Mannes, und jetzt, da sie aufmerksam geworden war, erkannte sie größere Blutspritzer und sogar ganz schwach noch Schuhabdrücke der Polizisten, die in die Lache getreten waren.

«Leck mich doch!», flüsterte Schauer. Das war zu viel, dachte sie. Armut hin oder her. Der Boden war ein bisschen gewischt worden, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn gründlich zu reinigen oder auszuwechseln. Stattdessen hatte die Frau Tische und Stühle zurechtgerückt und mit ihren Kindern hier gesessen und gegessen, unter ihnen buchstäblich das Blut ihres toten Vaters. Kein Wunder, dass Jasmin einen an der Waffel hatte.

Aber was bedeutete das alles? Sagte das irgendetwas über die Frau aus? Machte es sie schuldig? Oder stand sie nur unter Schock, hatte sie das Vertrauen ins Leben verloren, Vertrauen in die Konstanz? Das Gefühl, es lohnte sich gar nicht, zu viel Aufwand zu betreiben, da das Leben sowieso endlich war und mit einem Schlag vorbei sein konnte? Schauer selbst hatte so gefühlt, während ihrer Krebserkrankung und auch danach, als sie genesen war. Wieso alle paar Tage das Bad schrubben, wieso zweimal im Jahr die Fenster putzen, wieso ständig staubsaugen, wenn es dich eines Tages sowieso umschmeißt? Dann war das doch alles umsonst. Schauer spürte, dass sie sich gern mit jemandem darüber ausgetauscht hätte. Mit Bruch hätte sie gern gesprochen, mit einem vernünftigen Bruch. So konnte sie genauso mit einem Baumstamm reden.

Musste sie ihm und Bartko einen Vorwurf machen, schlecht ermittelt zu haben? Wäre sie nicht auch voreingenommen gewesen, angesichts der Situation, die sich ihnen hier geboten hatte? Stimmte überhaupt, was die Wondrak behauptete? Es war immer leicht gesagt, die Polizei hätte nicht richtig gearbeitet.

Schauer zog den Tisch wieder zurecht und hielt erneut kurz inne. Angenommen, sie würden Nora Mahler bei diesem dritten Prozess wieder freisprechen, würde sie hier wieder einziehen? Würde sie das Haus wieder nutzen, als wäre nichts geschehen? Schauer trat in die Verbindungstür, ein offener Durchgang, dort wo Jasmin mit ihrer Mutter gestanden haben soll, als die Streifenpolizisten kamen. Dahinter befand sich ein Wohnzimmer, altmodisch eingerichtet, als hätten die Mahlers das Haus von einem alten Menschen gekauft und alles so belassen, wie es war. Die Couch mit geschwungenen Lehnen und dunklem Stoff wirkte wenig einladend, der niedrige Tisch davor war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, die Möbel waren allesamt dunkel, der ganze Raum wirkte extrem düster. Vielleicht wurde er kaum genutzt und diente nur als Durchgang zum restlichen Haus, denn hier musste man durch, um ins Treppenhaus zu gelangen.

Schauer zwang sich, den Raum zu betreten, obwohl es noch gar nicht lang her war, dass sie sich geschworen hatte, sich nie wieder allein in finstere verlassene Häuser zu wagen. Sie leuchtete den Flur aus, soweit es ging, machte ein paar Schritte bis hin zu einer Tür, hinter der sich eine Toilette befand. Alles hier war locker fünfzig Jahre alt, Fliesen, Waschbecken, selbst die Klobrille. Einen Spülkasten wie diesen hatte Schauer ewig nicht mehr gesehen, knapp unter der Decke, mit einer Kette dran. Auch hier war alles staubig, und es gab nichts, was irgendwie daran erinnerte, dass hier einst Kinder gelebt hatten.

Jetzt betrat sie den nächsten Raum, der wohl ursprünglich als Küche diente. Dieser war umgebaut, wurde als Arbeitsraum und Abstellkammer zugleich genutzt. Ein Computerarbeitsplatz war vorhanden, wenn auch die Geräte veraltet wirkten. Der Boden war mit billigstem Baumarktteppich belegt, Holzregale standen voll mit Lebensmittelkonserven und allem, was sonst in einem Haushalt anfiel und gebraucht wurde. Ein Bügeleisen, Staubsaugerbeutel, Aufbewahrungsboxen mit Kleidung, Toilettenpapier, Windelpakete. Ein Ventilator stand hier, ein Bügelbrett, ein Schaukelpferd, ein Kinderhochstuhl, alles sah aus wie aus dem Sperrmüll geklaubt.

Schauer verließ den Raum, stieg langsam die Treppe hinauf. Sie leuchtete die Stufen an, obwohl es inzwischen heller geworden war, sodass sie auch ohne Licht ausgekommen wäre. Sie wollte sehen, ob hier vor ihr jemand gewesen war, und es hatte den Anschein, dass es auch so war. Im Staub auf den Stufen zeichneten sich Spuren von Schuhen ab, die recht neu sein mussten, zumindest keine zwei Jahre alt.

«Hallo?», rief Schauer nach oben. «Jemand da? Polizei!»

Nichts regte sich. Vielleicht knisterte etwas. Mäuse. Oder es knisterte nur in ihren Ohren. Oben im Flur waren alle Türen geschlossen. Vier Stück waren es und eine Dachbodentür. Schauer langte nach der ersten in ihrer Nähe, klinkte, öffnete die Tür mit einem leichten Stoß. Es war ein Schlafzimmer, hier mussten Nora und ihr Mann geschlafen haben. Bett, Schränke und Kommoden passten nicht zusammen. Die Schiebetüren der großen Kleiderschränke standen offen, die Fächer waren vollgestopft mit zusammengelegter Kleidung, das meiste dunkel oder schwarz. Auch hier stand überall etwas herum, Dinge, die eigentlich nicht in ein Schlafzimmer gehörten. Zeitungsbündel, eine Kabeltrommel, Kartons, ein weiterer Ventilator mit geöffnetem Gehäuse, als hätte sich jemand vorgenommen, den Motor zu reparieren, und dann aufgegeben, so auch ein Radio und ein alter Fernseher. Es roch muffig, nicht nur nach altem Haus, sondern nach einem Feuchtigkeitsproblem. Schauer wagte einen Schritt ins Zimmer, sah das Bettzeug auf einer Seite zerwühlt, als hätte Nora Mahler gestern hier noch geschlafen.

Das nächste Zimmer war ein größeres Bad. Hier entdeckte sie nur Zweckmäßiges, keine Gummiente, keine Kerze, kein Aufkleber auf den alten Fliesen, dafür billiges Shampoo und Handseife, die Wanne und die Toilette waren viele Jahrzehnte alt.

Das dritte Zimmer war das größte, doch weil hier drei Kinderbetten standen, gab es gerade genug Platz für schmale Wege. In den wenigen Regalen lag kaum Spielzeug, wenige Bücher, hauptsächlich Kleidung, und ganz sicher war selbst diese schon zehn Jahre alt oder älter, und jedes Kind trug die Kleidung seiner älteren Geschwister, sobald diese herausgewachsen waren.

Ein wirklich kleines Haus für ein Ehepaar mit vier Kindern, der Küchenanbau war dringend notwendig gewesen, und vermutlich war dieser eine, größte Raum der Sammelpunkt der Familie gewesen, während der Rest des Hauses nur als Schlafstatt diente.

Thomas Mahler war eigentlich kein armer Mensch, wusste Schauer, laut den Unterlagen hatte er studiert, arbeitete seit Jahren in einem Institut. Mit seinem Gehalt und dem Kindergeld sollte ein höherer Lebensstandard zu erwarten sein. Doch vielleicht wollten sie es ja genau so. Vielleicht war es ihre Einstellung gewesen, mit dem Nötigsten auszukommen. Vielleicht war es ja schön für sie, und vielleicht hatten sie einfach keinen Bock, Kindergekritzel an die Wand zu pinnen. Und vielleicht waren es die Kinder gewöhnt, draußen zu spielen und genügsam zu sein. Es gab solche Menschen, wusste Schauer, Leute, die sogar noch spartanischer lebten, und sie waren glücklich mit diesem Leben. Sah man ja an ihr, dass man mit einer gemütlichen Wohnung, hellen Wänden und hübschen Möbeln längst nicht automatisch glücklich war. Und vielleicht lagen ja auf einem Konto der Mahlers zigtausend Euro.

Ob Nora Mahler das Versicherungsgeld nun doch bekam, wenn sie freigesprochen wurde, fragte sich Schauer und öffnete die letzte Zimmertür.

Sie fuhr zurück. Der Raum war komplett finster, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie schaltete die Lampe ihres Handys wieder an, leuchtete hinein. Es war eigentlich ein ganz normaler Raum, mit Teppichboden, einem Bett und ein paar anderen Möbeln, doch offenbar hatte jemand das Fenster völlig lichtdicht verhängt. Auf einer Anrichte, aber auch auf dem Fußboden standen Kerzen oder was von ihnen übrig geblieben war, außerdem lagen hier leere Packungen von Käse, Wurst und Brötchen. Hier hatte es sich doch ab und an mal jemand gemütlich gemacht.

Schauer trat ans Fenster, griff nach der Decke, die davor hing, und schon bei der ersten Berührung fiel sie zu Boden. Unter ihr befand sich eine weitere Decke, die ebenso halb von der Gardinenstange rutschte, hinter die sie nur geklemmt war. Kissen auf dem Fensterbrett hatten noch die letzten Lichtstrahlen abgeschirmt. Offenbar sollte der Lichtschein der Kerzen die Nachbarn und Passanten nicht aufmerksam machen. Schauer riss die zweite Decke ganz hinunter. Nun konnte sie die Lampe ihres Telefons ausschalten, und was Schauer jetzt sah, machte es ihr nicht behaglicher. Die Wände waren mit Zeichen übersät. Kreise, Runen, geometrische Figuren waren großflächig an die Tapete geschmiert. Schauer trat näher, versuchte zu erkennen, ob es Farbe war, kratzte daran, es schien Ruß zu sein. Was die Zeichen darstellen sollten, war ihr nicht klar. Doch ihre Art ließ auf irgendwelchen Satansquatsch schließen oder was auch immer Jugendliche sich so ausdachten. Nicht ganz ungefährlich, was sie da getan hatten, die Kerzen auf dem Teppich und die Rußspuren an der Raufasertapete, das hätte leicht zu einem Brand führen können.

In diesem Zimmer stand nur ein Bett in normaler Größe, es ließ darauf schließen, dass es Jasmins Zimmer gewesen war, wenn auch es hier keinerlei Zeichen dafür gab, dass ein Teenager hier gelebt haben sollte. Keine Bücher, kein Laptop, kein Schmuck, keine Poster oder irgendetwas, das zur Zierde oder Verschönerung diente.

Schauer sah aus dem Fenster, über das Grundstück hinweg, über die kleinen krüppeligen Obstbäume, die Tannenreihe, die wie eine dunkle Wand schien, raus auf den Wald. Warum dieser Aufwand wegen des Lichts, hier kam sowieso niemand vorbei, dachte sie sich. Wäre das Fenster vorn zur Straße gerichtet, wäre es angebrachter gewesen. Sie drehte sich um, und das Bett rückte wieder in ihr Sichtfeld. Auch dieses war zerwühlt, als hätte kürzlich jemand drin geschlafen.

«Oh nein», flüsterte Schauer, als sie endlich verstand. Hier waren keine Jugendlichen eingedrungen. Jasmin war hier gewesen, hatte hier geschlafen, gegessen, sich die Kerzen angezündet. «Oh nein», flüsterte Schauer noch einmal, bückte sich nach der Brötchentüte, die Jasmin vermutlich in einer Kaufhalle gestohlen oder von erbetteltem Geld gekauft hatte. Jetzt erst wurde ihr bewusst, was die Wondrak wirklich fühlte. Dieses Kind war allein, ganz allein, hatte niemanden, konnte keinem trauen. Lieber schlief sie hier, in dem Haus, das einst Heimstatt ihrer Familie gewesen war, bis zu dieser einen furchtbaren Nacht. Hier in dem kalten, stromlosen Gebäude, ohne fließend Wasser, ohne Geschwister und Eltern hockte sie, aß Brötchen, die hätten fertig gebacken werden müssen, schlief in der Bettwäsche, die schon seit Jahren aufgezogen war. Schauer konnte sich kaum dagegen wehren, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb, dass sie schlucken musste, so sehr nahm sie das mit. Doch nicht allein Jasmins Schicksal war es, was sie bewegte, ihr eigenes Schicksal war es, auch sie war allein, hatte niemanden, dem sie trauen konnte, ihre Familie, wenn man sie so nennen konnte, war so weit weg, Freunde gab es nicht, nicht einmal in Hamburg, weil sie immer alles mit sich ausgemacht hatte. Einmal hatte sie sich geöffnet, für Sebastian, ihren Ex-Fastverlobten, hatte die Bastionen geschleift, hatte sich auf etwas eingelassen, das dem Leben nahekam, von dem immer alle sprachen. Und was war dabei rausgekommen? Sie war in einer fremden Stadt gestrandet, mit einem irren Kollegen, einem toten Chef, und Stunden nach Dienstschluss, die sich ewig langzogen, und Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte, weil sie den Sand rieseln hörte.

«Schluss jetzt», sagte sie wütend, warf die Packung weg. Das dumme Geheule nützt auch nichts. Komm damit klar oder jag dir eine Kugel in den Kopf. Sie wollte klarkommen, wollte nicht aufgeben, wenn sogar einer wie Bruch nicht aufgab, der ja offensichtlich noch viel mehr verloren hatte. Wie stünde sie da? Keiner würde Mitleid haben oder sich nach seiner Schuld fragen. Sie war schon immer eine Loserin gewesen, würden die Leute sagen. Hat es eben nicht hingekriegt.

Schauer verließ das Zimmer. Wondrak hatte erreicht, was sie wollte. Sie war dabei. Sie würde sehen, was sich machen ließe, auch wenn sie beurlaubt war. Sie konnte sich umsehen, konnte Leute befragen. Simons Witwe vielleicht, Bruchs Ex-Frau, Felix selbst und viele andere. Sie würde sich den Prozess ansehen. Konnte herausfinden, wie Bruch und Bartko gearbeitet hatten, und vielleicht auch, ob wirklich ein Zusammenhang bestand, dass der Fall neu aufgerollt wurde und Simon starb.

Schauer war schon halb die Treppe hinab, als sie innehielt, weil ihr etwas eingefallen war. Sie ging wieder hinauf, sah sich suchend um, fand im Bad über einem Eimer hängend einen Putzlappen. Mit diesem lief sie herum und bemühte sich, alle Klinken und alles, was sie berührt haben mochte, abzuwischen. Das würde denen passen, hier noch ihre Fingerabdrücke zu finden. Selbst auf den Stufen schlug sie hinter sich mit dem Lappen die Abdrücke ihrer Sohlen im Staub weg. Zwar widersprach das jedem Grundsatz eines Kriminalpolizisten, denn sollte es zu einer neuen gründlichen Beweisaufnahme kommen, konnten selbst jahrealte Fingerabdrücke auf Türklinken von Relevanz sein. Aber nach all dem, was Schauer hier schon erlebt hatte, war es besser, sie dachte erst mal an sich.

 

Wieder auf der Straße, fühlte sie sich befreit, mehr, als es eigentlich nötig schien. Ein wenig war es, als übte dieses Haus einen Druck auf sie aus. Selbst jetzt noch, aus der Distanz, schien es eine gewisse Präsenz zu besitzen.

Ein Stück die Straße hinab nahm sie jetzt eine Bewegung wahr. Ein Mann mittleren Alters ging zu seinem Wagen, hatte vermutlich gesehen, wie sie aus dem Grundstück kam.

«Entschuldigen Sie», sagte Schauer, ging auf ihn zu. «Müller», stellte sie sich vor, «Müller Immobilien. Sagen Sie, haben Sie in letzter Zeit jemanden das Haus betreten sehen?»

Der Mann schien freundlich, aber reserviert. Das Haus, aus dem er kam, war vermutlich dem der Mahlers ganz ähnlich gewesen, nur war es aufwendig renoviert. Er war kein direkter Nachbar, wohnte über die Straße etwa fünfzig Meter entfernt. «Es soll wohl verkauft werden?», fragte er.

«Ich will es erst mal bewerten. Ich dachte, es stünde leer, aber es scheint, als ob da jemand ein und aus geht.»

«Also, eigentlich kann das nicht sein. Die da gewohnt haben, sind seit zwei Jahren weg. Da ist wohl etwas geschehen, ein Mord, deshalb verkauft es sich wohl nicht.»

«Ein Mord? Hat schon mal jemand versucht, es zu verkaufen?»

«Offenbar ja, aber wie gesagt …» Er hob die Schultern.

«Jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht», gab sich Schauer jovial. «Kennen Sie die Leute?»

«Ich war damals gerade hergezogen. Ich weiß nicht genau, was vor sich ging. Die Leute hier sagten nur, dass in der Zeitung immer nur die Hälfte stand.»

Schauer gab sich naiv. «Verstehe ich nicht.»

«Die da wohnten, müssen sehr seltsam gewesen sein. Aber wissen Sie, ich muss zur Arbeit!»

Schauer trat beiseite. «Aber seltsam ist ja ein weiter Begriff. Religiös, oder wie?»

«Nein, das meine ich nicht, oder vielleicht doch, ich weiß nicht. Aber die Frau soll, gleich nachdem ihr Mann gestorben war, also gleich als sie aus der Untersuchungshaft kam, einen Neuen gehabt haben.»

«Gleich danach? Was heißt denn das?»

«Zwei, drei Wochen später. Das ist schon sehr seltsam, oder? Also abgesehen davon, ob sie den wirklich umgebracht hat oder nicht. Aber fragen Sie mal die Nachbarn da, die wohnen schon ganz lange hier», nur mit den Augen deutete er auf das Nachbargrundstück links von dem der Mahlers. «Aber ich sag es Ihnen gleich, die sind auch seltsam. Die grüßen keinen, und meine Frau sagt, sie hat sie manchmal schreien hören in der Nacht.»

«Im Streit?»

«Nee, eher nur so ein Schrei. Es scheint, die wohnen alle zu nahe am Wald.» Jetzt grinste er und stieg ein. Ehe er die Tür schloss, wandte er sich noch mal an Schauer. «Sie sehen übrigens kein bisschen wie eine Immobilienmaklerin aus.»

Schauer sah ihm nach, wie er davonfuhr, wartete, bis er abgebogen war. Dann drehte sie sich um. Wenn sie schon einmal dabei war, konnte sie durchziehen, jetzt war es kurz vor acht, alte Leute waren da sicherlich schon wach.

Am Tor und am Klingelschild stand kein Name. Die Klingel schien auch gar nicht zu funktionieren. Schauer öffnete das niedrige Tor, dessen Holzlatten ganz und gar mit Flechten und Moos überwachsen war. Das Haus schien noch viel älter, grauer und geduckter. Rings ums Haus waren Wacholderbüsche zu richtigen Bäumen gewachsen, saugten alles Licht auf, ließen keinen anderen Pflanzen Raum.

Mangels einer Klingel an der alten verzogenen Haustür klopfte Schauer fest. Sie wartete, klopfte noch einmal, noch heftiger. Dann trat sie ein Stück zurück. Hatte sie sich geirrt, war es noch zu früh? Licht brannte nirgendwo. Dann kam ihr die Idee, dass man früher, zumindest auf dem Dorf, ein Haus so gut wie nie durch den Vordereingang betrat, sondern durch das Waschhaus.

Sie ging am Haus vorbei nach hinten, vom Grundstück der Mahlers zu ihrer Rechten war wirklich kaum etwas zu sehen, die Wacholderbüsche waren auch hier hoch und vollkommen blickdicht. Hinter dem Haus gab es eine kleine Terrasse, neben einem niedrigen Anbau. Dort befand sich auch eine Tür, auf einem uralten Campingtisch standen zwei Emailleschüsseln mit Kartoffelschalen, Körnern und anderem Futter. Sie klopfte an der Tür, lauschte, klopfte noch einmal, griff dann zur Klinke. Dann kam ihr eine bessere Idee. Sie nahm die Schüsseln, ging noch ein Stück weiter ums Haus, sah am Anbau die Tür offen stehen.

«Hallo», rief sie hinein.

Drinnen rumorte und klapperte es. Schauer schob die Schuhspitze in den Spalt der Tür, drückte sie ein wenig weiter auf. In dem Anbau, der kaum mehr war als ein niedriger Verschlag mit winzigen Fenstern, war es fast völlig finster. Es roch nach Heu und Tieren. Es raschelte heftig, als sie eintrat.

«Guten Morgen», sagte sie. Ein kleiner, ganz alter Mann drehte sich nach ihr um, schien nicht ein bisschen überrascht.

«Stellen Sie es dahin!», sagte er und zeigte auf eine Hobelbank aus massivem Holz. Schauer stellte die Schüsseln neben zwei leeren ab, musste noch ein wenig warten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erkannte sie an der Rückwand die Karnickelställe, kleine vergitterte Boxen, in denen die Tiere ihr Dasein fristeten. Es war ganz sicher, dass sie hier drinnen geboren wurden und nicht einmal rauskamen, bis sie schließlich groß genug waren, um geschlachtet zu werden. So was ging heute im Prinzip gar nicht mehr. Aber früher war das eben so, wusste Schauer. An einem Balken unter der Decke hingen zwei Felle aufgespannt.

Der alte Mann wollte nicht wissen, wer sie war oder was sie wollte. Er nahm jetzt eine der vollen Schüsseln, öffnete eine Box, tat von dem Futter hinein, klapste einem Karnickel auf die Nase, das seinen Kopf allzu weit hinausgesteckt hatte. Den Rest des Futters gab er in die nächste Box. Schauer wartete geduldig, bis der ganze Vorgang beendet war.

«Gehen wir ins Haus.» Der alte Mann ging mit ganz kurzen Tippelschritten voran. Stumm folgte ihm Schauer, betrat nach ihm das Haus durch die Hintertür.

Im Waschhaus stellte der Alte die Schüsseln ab, stieg mühevoll zwei Stufen hinauf. Schauer folgte ihm in einen Flur, der zu einer Küche führte. Es verschlug Schauer den Atem, so sehr roch es hier nach alten Leuten, faulem Essen und ewiger Feuchtigkeit.

«Ihre Frau ist auch da?», fragte Schauer laut, um sich bei dem Alten in Erinnerung zu rufen und gleichsam bei seiner Frau anzumelden. Der Alte reagierte gar nicht.

In der Küche stand seine Frau an einem Gasherd, nahm einen Topf kochendes Wasser herunter. Als sie Schauer erblickte, stutzte sie kurz, dann ging sie mit ebenso winzigen Schritten zum Tisch, schüttete vom kochenden Wasser in zwei Blechtassen, vergoss dabei eine nicht unerhebliche Menge. Dann stellte sie den Topf ab.

«Ja bitte?», sagte sie dann, wischte sich die Hände an einer gänzlich verdreckten Schürze ab.

«Guten Tag, Schauer mein Name, ich bin Polizistin.» Jetzt war es auch egal, die beiden würden ihren Namen vergessen haben, sobald sie aus der Tür ging. «Darf ich Sie zu Ihren Nachbarn befragen? Der Familie Mahler.»

Der Alte grunzte, schien also doch verstanden zu haben, obwohl es gerade noch den Eindruck gemacht hatte, als wäre er taub. Er setzte sich an den Tisch, über den eine Wachstuchdecke gespannt war, nahm seine Tasse.

«Wir sprechen nicht gern über diese Leute», sagte die Frau.

«Ich möchte Sie auch nicht belästigen, aber es gibt verschiedene Umstände, die müssen geklärt werden.»

Die Frau ging ebenfalls zum Tisch und setzte sich. Ein Vorgang, der ewig dauerte. «Wir sind beide neunzig Jahre alt, wir wollen an unseren letzten Tagen nur unsere Ruhe haben.»

«Aber haben Sie die nicht? Herr Mahler ist tot, Frau Mahler ist im Gefängnis, die Kinder sind weg …»

«Wir wissen nicht, was vor sich ging!», unterbrach die Alte sie sehr schroff.

«Das wollte ich auch gar nicht wissen.» Doch, das wollte sie schon, nur ein alter Reflex hatte sie so trotzig reagieren lassen. «Ich wollte nur fragen, haben Sie in den letzten Wochen und Monaten da drüben gelegentlich mal etwas gesehen? Ging jemand in das Haus? Die Tochter vielleicht? Jasmin?»

Unvermittelt schlug der Alte mit der Faust auf den Tisch, sagte jedoch nichts.

«Geben Sie sich nicht mit dem Kind ab!», sagte die Alte stattdessen.

«Aber sie …»

«Hören Sie, was meine Frau sagt!», fuhr der Alte auf. «Was immer da drüben vor sich ging, das wollen wir gar nicht wissen. So viele Jahre haben wir friedlich hier gelebt, dann zog diese Familie da ein.»

«Wann war das?»

«Vor zehn Jahren vielleicht», der Alte bemerkte nicht, dass er nun doch in das Gespräch eingestiegen war. «Nein, weniger, fünf vielleicht, oder sechs.»

«Waren sie laut?»

«Laut? Nein.» Der Alte schüttelte den Kopf und wurde nun mahnend von seiner Frau angesehen, sah es nicht oder wollte nicht zurückstecken.

«Die Hasen haben sie uns gestohlen.»

«Das weißt du nicht, Alfred.»

«Und ob ich’s weiß.» Mürrisch starrte er zum Fenster, aus dem man wegen der Büsche so gut wie nichts sehen konnte. «Da war was drüben, sag ich Ihnen!»

«Aber was denn?»

«Alfred, wir wollten nicht darüber reden!»

«Nun, was nützt es uns denn? Sag, was nützt es, nichts. Es klopft nachts an der Tür!»

«Aber nun schon lang nicht mehr!», widersprach die Frau.

«Wirst sehen, es geht wieder los!»

«Red nicht so, Alfred.»

Der Mann sah nun ein, dass es genug war. Er zeigte zur Tür. «Gehen Sie jetzt!»

«Was heißt denn, es klopft an der Tür? Wer denn?», fragte Schauer.

«Das wollen Sie gar nicht wissen! Und jetzt gehen Sie, und ich sage Ihnen, hören Sie auf den Rat alter Leute. Wenn Ihnen Ihr Seelenheil lieb ist, lassen Sie von diesen Leuten ab. Die haben noch keinem gutgetan!»

 

Wenn mir mein Seelenheil lieb ist, wiederholte Schauer draußen auf der Straße. Ziemlich verschroben, die alten Piepels, gehörten schon längst ins Altersheim. Sie zückte ihr Telefon. Die Wondrak hatte ihre Nummer hinterlassen, sollte sie sich ihren hübschen Kopf ruhig mit zerbrechen.

Schon nach kurzem Klingeln ging die Fernsehfrau ans Telefon.

«Also erstens», begann Schauer ohne Gruß, «Jasmin muss gelegentlich in dem Haus übernachtet haben, das hat wohl nie jemand überprüft?»

«Waren Sie da drin?», fragte Wondrak leise, als säße sie in einer Sitzung.

«Ja, hab es mir angesehen.»

Nun blieb die Fernsehfrau stumm, Schauer hörte sie nur atmen.

«Was ist denn?», fragte Schauer.

«Nichts, ich denke nur nach. Ich denke, die Behörden haben keinerlei Interesse mehr an Jasmin. Außerdem betritt niemand gern das Haus, habe ich mitbekommen. Im Übrigen haben beide Polizisten gerade über ihre Anwälte ausrichten lassen, dass sie für den neuen Prozess jegliche Aussagen vor Gericht verweigern.»

«Die Streifenpolizisten, die damals zuerst vor Ort waren?»

«Schubert und Piotrowski. Schubert hat schon vor zwei Jahren den Dienst quittiert, obwohl der noch ein paar Jahre gehabt hätte.»

Schauer fragte sich, ob das ging, dass Polizisten die Aussage verweigerten. «Warum wollen sie nichts sagen?»

«Beide sagen unabhängig voneinander, sie könnten sich inzwischen an nichts mehr erinnern.»

«Ob die unter Druck gesetzt werden?»

Wondrak schwieg wieder. Glaubte die, ihr Telefon würde abgehört?

«Woher wissen Sie das alles?», sprang Schauer eine Frage weiter.

«Ich bin Journalistin, da hat man seine Quellen.»

«Ist es wahr, dass Nora Mahler gleich wieder einen neuen Mann hatte, kaum dass ihr Mann beerdigt war?»

«Ich dachte, das hätten Sie in den Unterlagen gelesen?»

Daran konnte sich Schauer nicht erinnern. «Kann sein, dass ich nicht jedes PDF durchgelesen habe.»

«Nicht diese Mitteilungen, in meinem Bericht zu den Ermittlungen stand es. Nora Mahler hatte einen neuen Freund, hat ihn ein paar Wochen nach dem Tod ihres Mannes kennengelernt, nachdem sie nach dem ersten Prozess freigesprochen worden war, eine Woche später zog er bei ihr ein. Er passte sogar auf die Kinder auf, wenn Nora Mahler mal nicht da war, und ging mit Jasmin zum Schwimmen.»

«Woher wissen Sie das denn alles so genau? Wurde die Frau beobachtet?»

«Nicole, das steht alles in den Unterlagen», Wondrak sprach noch leiser, als ob das etwas nützte, sollten sie wirklich abgehört werden.

«Ist es nicht ungewöhnlich, dass sie so früh nach dem Tod ihres Mannes gleich einen Neuen hat?»

«Nicole, dieser Neue war Michael Bartko!»

Für einen Moment war es Schauer nicht möglich, das alles auf die Reihe zu bekommen. «Bartko? Bruchs Kollege?»

«Ja, der.»

«Aber, ich verstehe nicht, haben die sich bei den Ermittlungen kennengelernt?» Sie war regelrecht blockiert, so absurd war das. Ein Ermittler durfte auf keinen Fall irgendeine Art Beziehung mit der Hauptverdächtigen oder irgendjemand Beteiligten in einem Tötungsdelikt eingehen.

«Nicole, das war keine wirkliche Beziehung, der war undercover. Die sind mit den Ermittlungen nicht vorangekommen, der erste Prozess endete mit einem Freispruch, obwohl sich alle sicher waren, dass Nora ihren Mann umgebracht, hat. Deshalb haben sie beschlossen, es auf diese Art zu versuchen. Nora Mahler kannte Michael Bartko bis dahin nicht. Die ersten Ermittler nach der Tat waren Bruch und Simon. Als ihr Mann umgebracht und sie die ersten Male verhört wurde, war Bartko im Urlaub gewesen. Als er zurück im Dienst und der erste Prozess vorbei war, kam jemand auf die Idee, er könnte sich an sie heranmachen, um auf diese Weise irgendetwas in Erfahrung zu bringen.»

«So was gibt es in unserem Land gar nicht, das ist komplett illegal!», keuchte Schauer. Wo zum Teufel war sie hier gelandet, es wurde ja jeden Tag schlimmer. «Und er ist da ein und aus gegangen? Hat auf die Kinder aufgepasst, ihnen Essen gemacht?» Schauer atmete aus: «Hat er mit ihr geschlafen?»

Was musste Jasmin denken, gerade wurde ihr Vater umgebracht, dann kam ein neuer Mann, mochte sein, dass sie ihn lieb gewann, Vertrauen aufbaute, und dann? Verließ er sie wieder? Fand sie heraus, dass es ein Polizist war? Wem sollte dieses Kind jemals noch vertrauen?

«Was hat er denn herausgefunden?»

«Nichts, rein gar nichts. Nach noch nicht einmal einem halben Jahr brach er ab.»

«Er brach ab? Einfach so? Wie wurde die Aktion denn genehmigt? Kam das vor Gericht zur Sprache?»

«Mahlers Anwälte bauten die Verteidigung beim zweiten Prozess darauf auf, dass die Ermittlungsmethoden illegal waren, doch das wurde komplett ignoriert. Der Staatsanwalt argumentierte, dass ihnen nur das Motiv fehlte, obwohl die Tat faktisch bewiesen wäre. Auf diese Art hätten sie nur sichergehen wollen. Und jetzt kommt der Witz: Gerade weil Bartko dabei nichts herausfand, argumentierte man, wäre die ganze Sache nicht relevant.»

«Noch mal kurz zurück: Bartko hat sich an sie rangemacht?»

«Er ist ihr beim Einkauf sozusagen zufällig über den Weg gelaufen.»

«Und sie war empfänglich dafür? Ich meine …» Man musste es gar nicht aussprechen. Ihr Mann war umgebracht worden, sie war tatverdächtig, und sie sollte andere Sorgen haben, als sogleich einen neuen Mann zu finden.

«Es ist nicht einfach zu erklären. Bartko sagte wohl einmal, ihm war gewesen, als fügte sie sich einfach.»

«Das verstehe ich nicht.»

Wondrak schwieg, suchte wohl nach Worten. «Ich weiß es nicht aus erster Hand, aber Bartko muss gesagt haben, Nora Mahler nahm es einfach hin. Er sprach sie an, sagte, er würde gern mit ihr essen gehen. Sie hätte genickt und gesagt, sie könnte aber nicht weg von daheim. Er sagte, gut, dann essen wir bei dir. Sie hätte wieder zugestimmt. Dann aßen sie da, einige Tage später, mit den Kindern.»

«Mit den Kindern?», entfuhr es Schauer entsetzt.

«Ja, und als die ins Bett gegangen waren, hat Bartko sein Programm abgezogen, hatte auch sexuellen Kontakt mit Nora Mahler, und als er einige Tage später sagte, er würde bei ihr einziehen, hat sie einfach so zugestimmt.»

«Claudia, ich versteh das nicht!», stöhnte Schauer. Das war alles vollkommen absurd. Und was war Bartko für ein Mensch, hatte er kein Gewissen, dass er sich für so etwas einspannen ließ? Wenigstens den Kindern gegenüber? Und Simon, der die Aktion mit genehmigte, und Bruch, der wenigstens davon wusste? Und hatte Bartko keine Angst, Nora könnte ihn im Schlaf erschlagen?

«Wenn Sie die Frau gesehen hätten, Sie wüssten, was ich meine», flüsterte Wondrak, «sie ist ganz … ganz anders als andere Menschen. Aber ich habe Zugang zum Gericht morgen, ich kann dafür sorgen, dass Sie mit reinkommen. Dann können Sie sehen, was ich meine.»