«Kommst du mit?», fragte sie, als sie bei dem Haus angelangt waren, in dem Bartkos Witwe wohnte.
Bruch schüttelte knapp den Kopf.
«Hast du eigentlich deine Tabletten genommen?» Sie musste sich auch immer wieder daran erinnern, dass Bartkos Tod nicht Jahre zurücklag, sondern Monate, eigentlich nur ein paar Wochen.
Er nickte.
«Und hat dich diese Frau angerufen? Diese Psychologin?»
Bruch verneinte wieder mit einem Kopfschütteln. Schauer ließ ihren Blick auf ihm ruhen. «Du weißt, ich bin auf deiner Seite», sagte sie. Doch auch das war nur eine Floskel. Was hieß das schon. Sie deutete zu dem Haus, vor dem sie standen. «Ist das seins gewesen?» Seins, kommentierte sie ihre eigene Frage, als ob das Haus immer automatisch dem Mann gehören musste.
«Nein. Sie wohnt seit seinem Tod bei ihren Eltern», erklärte Bruch. «Versprich dir nicht zu viel.»
«Bist du noch da, wenn ich wiederkomme?»
Bruch nickte.
Schauer stieg aus, warf die Tür zu und überquerte die Straße. Sie fand das Gartentor verschlossen, drückte die einzige Klingel. Wenig später öffnete sich die Hauseingangstür ein Stück. Eine kleine Frau von etwa siebzig Jahren steckte den Kopf hinaus.
«Guten Tag, Hauptkommissarin Schauer, ich möchte gern Helen Bartko sprechen.»
Die Frau lächelte. «Kommen Sie rein!»
Das Schloss vom Tor summte. Schauer öffnete es, betrat das Grundstück, stieg die drei Stufen zur Tür hinauf. Inzwischen war die Frau wieder hineingegangen, weiter geschah nichts. «Weiler» stand an der Klingel. Sicher Helen Bartkos Mädchenname.
Schauer trat in den Flur. Unentschlossen blieb sie stehen. Es roch unangenehm, nach Kaffee zwar und Gekochtem, aber über allem lag eine Note, die es ihr unmöglich machen würde, hier etwas zu sich zu nehmen. Sie konnte in einen Wohnraum sehen, mit einer abgenutzten Sofagarnitur und altmodischen Möbeln. Die ältere Frau blieb verschwunden.
«Hallo?», rief sie nun, weil gar nichts geschah.
Schritte näherten sich, kamen von oben herab.
«Frau Bartko?», fragte Schauer.
Eine Frau erschien in der Flurtür. Sie war nicht sehr groß, trug ihr halblanges Haar zu einem pragmatischen Zopf. Mochte sie früher einmal sehr schön gewesen sein, zeigte ihr Gesicht nun tiefe Spuren von Erschöpfung und Leid.
«Helen Bartko?», fragte Schauer.
«Wer hat Sie reingelassen?»
«Eine ältere Frau», erwiderte Schauer.
Die Frau schloss einen Moment die Augen und senkte den Kopf in stiller Verzweiflung. «Meine Mutter. Das soll sie gar nicht, die ist dement, mein Vater auch.»
«Das wusste ich nicht, entschuldigen Sie.»
«Und wer sind Sie?»
«Schauer mein Name, ich bin Kriminalpolizistin.»
Helen Bartko schloss die Augen noch einmal. «Was wollen Sie?», fragte sie dann barsch.
Ja, was? Jetzt im Angesicht der Frau schien alles nicht mehr wichtig. Sie lebte offenbar hier, um ihre Eltern zu pflegen. Hatte keine Aussicht auf Besserung, denn für Demenz gab es keine Heilung, aber es hieß lang noch nicht, dass man bald starb. Ihr Mann Michael war seit ein paar Monaten tot, und wer weiß, was sie seitdem über ihn erfahren haben mochte. Noch dazu musste sie wissen, dass auch sie zur Demenz veranlagt war, wenn beide Eltern schon daran erkrankt waren.
«Ich bin die neue Kollegin von Felix Bruch», sagte Schauer, weil ihr in diesem Moment nichts Besseres einfallen wollte.
Helen zeigte keine Reaktion. «Was wollen Sie?», fragte sie nur noch einmal.
«Hauptsächlich hatte ich gehofft, etwas über den Fall Mahler zu erfahren.»
«Da kommen Sie zu mir?» Helen schien ehrlich erstaunt.
Schauer zuckte mit den Achseln. «Es ist nicht leicht, Informationen darüber zu bekommen. Ich erfahre nicht die Unterstützung, die ich gern hätte.»
Helen Bartko blickte in Richtung der Wohnungstür. «Sitzt er draußen? Im Auto?»
Schauer nickte. «Er sagt, es wäre nicht gut, mit Ihnen zu sprechen.»
«Ist es auch nicht. Es gibt nichts zu sagen. Nicht für mich. Ich muss damit abschließen, nein, ich habe damit schon abgeschlossen. Hab genug andere Probleme. Hat Simon Sie geschickt?»
«Nein.»
«Natürlich hat er das. Wenn Sie jetzt bitte gehen wollen!» Bartko langte an ihr vorbei zur Haustür.
Schauer legte ihr die Hand auf den Unterarm, sagte leise: «Simon schickt niemanden mehr!»
Helen Bartko sah sie fragend an, dann verstand sie. «Was ist passiert?»
«Jemand hat ihn in seinem Büro erschossen.»
Die Witwe ließ die Türklinke los. «Hat das mit dem Fall zu tun?»
Geschockt war sie nicht. Aber hieß das, sie hatte schon mit etwas Derartigem gerechnet?
«Das hoffe ich herauszufinden.»
«Und Sie haben Michaels Platz eingenommen? Sie sind aber nicht von hier.»
«Aus Hamburg. Seit ein paar Wochen bei der Dresdner Kripo.»
«Setzen wir uns in die Küche!»
«Mutter, lass das, geh ins Wohnzimmer!» Helen Bartko nahm ihre Mutter bei den Schultern, schob sie weg vom Herd, wo die Frau die Kartoffeln im Topf mit dem Messer anstach. «Die müssen noch», sagte sie. Die Herdplatte war noch nicht einmal angestellt.
«Geh jetzt.» Bartko schob sie unsanft aus der Tür, zeigte auf einen Platz, wo Schauer sich setzen sollte.
«Michael war ziemlich beeindruckt damals. Das geschah nicht oft. Er hatte ja schon einiges gesehen, und selbst war er auch nicht zimperlich. Aber das hatte ihn getroffen.»
«Wegen der Brutalität?»
«Nein, eher wegen der Umstände. Wir waren ja im Urlaub, als es geschah. Aber was er danach erfuhr. Der Mann tot in der Küche. Die Frau steht da, das Kind an der Hand. Mitten in der Nacht. Die hat den Hammer in der Hand. Das Kind redet dummes Zeug.»
«Dummes Zeug?»
«Wissen Sie nicht? Fragen Sie den Polizisten, der zuerst vor Ort war, Schulze oder so.»
«Schubert? Was hat Jasmin zu ihm gesagt?»
«Genau weiß ich es nicht, der Mann hat es ja später relativiert, hat gesagt, er wüsste es nicht mehr so genau, weil er selbst geschockt war. Der Teufel wär’s gewesen, oder so. Jedenfalls hat die von Anfang an gesagt, ihre Mutter war es nicht.»
«Wussten Sie … also wussten Sie, was Ihr Mann vorhatte? Sich mit Frau Mahler …» Schauer sprach es nicht aus.
Helen Bartko schürzte die Lippen, sah auf den Tisch. Dann blickte sie auf, Schauer in die Augen. «Michael war schon immer … also, ich wusste schon, worauf ich mich einlasse. Er konnte nichts auslassen. Aber ich wusste das. Ich war da sehr … na ja, dumm oder eben naiv. Ich dachte, ich lass ihn und komme damit klar. Er war attraktiv, hatte so ein Charisma. Konnte jeden von sich überzeugen, war erfolgreich. Hatte auch Geld. Mehr jedenfalls, als ein Polizist haben sollte. Ich fand es sogar reizvoll. Nicht allein das Geld, sondern der Gedanke, mein Mann wäre so ein … korrupter Bulle, ein harter Hund, dem sich niemand in den Weg stellt.» Sie lächelte zynisch. «Ich fand das reizvoll, ja. Weiter habe ich nicht gedacht. Nach dem Mord an Mahler, sagte er irgendwann, dass er jetzt längere Zeit wegmuss. Auch darüber habe ich nicht nachgedacht. Ist halt so, als Frau von einem Bullen.»
«Sie erfuhren es durch ihn?»
«Nein, ich habe es von Jasmin Mahler erfahren. Sie stand eines Tages vor der Tür. Es ist noch nicht lang her. Wenige Wochen vor seinem Tod. Ich will die Worte nicht wiedergeben, die sie verwendete, aber sie hat sich sehr deutlich ausgedrückt. Bis dahin wusste ich nichts davon.»
Schauer zögerte, die nächste Frage auszusprechen. «Glauben Sie, der Tod Ihres Mannes steht in einem Zusammenhang mit dem Fall der Familie Mahler?»
Helen Bartko schwieg lang. «Ich habe aufgehört, darüber nachzudenken», antwortete sie schließlich. Dann merkte sie auf. «Hat man Ihnen von dem anderen Mann erzählt?»
Schauer seufzte. «Man erzählt mir gar nichts. Welcher andere Mann?» Sie vernahm Geräusche. Jemand kam die Treppe hinab, schnaufte und grunzte.
Helen Bartko erhob sich, um von der Tür aus nachzusehen, stöhnte dann leise. «Vater, du hast keine Hose an, hörst du? Du musst eine Hose anziehen.» Dann winkte sie ab, kam zum Tisch zurück. «Thomas Mahler hat sich vor seinem Tod mit einem Mann getroffen. Das sagten die Nachbarn aus, die Alten, die direkt neben den Mahlers wohnen. Sie sagten, der Mann wäre einmal da gewesen. Kam mit einem Auto. Mahler hätte ihn so empfangen, wie man einem Fremden das erste Mal begegnet. Es wäre ihnen nur aufgefallen, weil sonst überhaupt niemand kam, höchstens Noras Schwester, einmal im Jahr, oder alle zwei Jahre. Ach, und es war an dem Tag außer Thomas Mahler niemand weiter da. Die Frau war mit den Kindern weg, sie gingen wohl einmal die Woche schwimmen.»
«Und wer war dieser Mann?»
«Das ist der Punkt. Es hat niemanden interessiert. Niemanden, weder die Kripo noch den Staatsanwalt noch den Richter. Michael hat es abgetan, es wäre nicht wichtig, sagte er damals. Mit Felix zu reden, war sowieso zwecklos. Damals schon.»
«Und woher wussten Sie davon?»
«Michael brachte oft Zeug nach Hause, Unterlagen. Ließ es mich auch lesen. Ich wies ihn auf die Aussage des Nachbarn hin, der den anderen Mann gesehen hatte, aber Michael winkte nur ab. Wer weiß, was die Alten gesehen haben?, sagte er.»
«Vielleicht war es wirklich nicht wichtig», wandte Schauer ein. «Dieser unbekannte Mann könnte auch nur ein Versicherungsvertreter gewesen sein, oder ein Handwerker. Oder Thomas Mahler hatte etwas bei Ebay verkauft, und der Mann kam es abholen.»
Helen Bartko nickte, zog dann einen Mundwinkel hoch. «Könnte sein, nur ist Thomas Mahler eine Woche später auf der Autobahn geblitzt worden. Harmlos nur, sieben km/h zu schnell in der Baustelle, auf der A4, glaub ich, hinter Eisenach. Niemand weiß, was er da gemacht hat. Er muss am Abend losgefahren sein und war am nächsten Morgen wieder zu Hause, keine zehn Stunden später. Er müsste Nachtschicht schieben, hat er seiner Frau gesagt. Bis Eisenach sind es ja schon mal drei Stunden, zurück insgesamt sechs. Mal angenommen, er war noch ein Stück weiter unterwegs, bleibt nicht viel Zeit, für was auch immer.»
«Sie meinen, er könnte diesen anderen Mann besucht haben?»
«Den, oder irgendetwas anderes war. Seltsam genug, dass er mitten in der Nacht durchs halbe Land hin- und zurückfährt und seine Frau noch dazu belügt.»
«Vielleicht hatte es mit dem Fremden nichts zu tun, vielleicht war es ein Seitensprung?»
«Das könnte er heutzutage auch leichter in der Nähe haben. Aber nicht unwahrscheinlich, stimmt. Wäre da nicht der andere Mann.»
«Konnten die Nachbarn das Kennzeichen sehen?»
Helen Bartko schnaubte leise. «Haben Sie die Nachbarn mal gesehen? Die redeten ja auch schon wirr. Aber in diesem Falle dachte ich mir, warum sollten sich die Alten das ausdenken mit dem Mann. Ich habe damals auch Michael gefragt, warum sie bei der Arbeit von Mahler nicht genauer nachforschen. Er sagte, das hätten sie, aber richtig sicher bin ich mir nicht, nicht mehr.»
«Thomas Mahler arbeitete in einem Institut, soweit ich weiß, als Laborassistent?»
«Ja, und ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich eine Rolle spielt, aber die arbeiten da mit Tieren, also betreiben Medikamentenforschung.»
In der Tür raschelte es. Schauer sah sich um. Da stand ein alter Mann, ein Greis fast, gebückt und ausgezehrt, in einem abgewetzten Pullover und nur mit Unterhosen an. Seine dürren Beine waren nackt, die Haut faltig und grau.
«Vater, was machst du hier, geh an deinen Platz.»
«Bumm», sagte der Mann, sah Schauer an, hob die Augenbrauen und lachte zahnlos.
«Du hast ja nicht mal deine Zähne drin.»
«Bumsfallera», lachte der Alte, und es war eindeutig anzüglich, was er dachte.
«Das ist bestimmt, weil Sie da sind, sonst geht er immer an seinen Platz.» Helen Bartko stand auf, drehte den Mann an den Schultern herum, schob ihn aus der Tür. «Geh, sieh dir eine Zeitung an.»
Sie kam an den Tisch zurück, rieb sich über das Gesicht, legte dann mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken, sah dann wieder Schauer an. «Wo waren wir stehen geblieben?»
«Sie müssen sich ganz allein um die beiden kümmern?», fragte Schauer.
«Ich habe Pflege beantragt, es kommt auch jemand, einmal am Tag. Aber den Rest des Tages bin ich hier. Es ist, als hätte man zwei Kleinkinder, die unkontrolliert durch das Haus ziehen. Ständig muss man ihnen was wegnehmen, ständig geht was kaputt, die Tür muss man zuschließen, und ständig vergessen sie, aufs Klo zu gehen. Aber was soll’s, nützt ja nichts.» Sie lächelte, wollte sich fatalistisch geben, doch im nächsten Augenblick schlug das in Verzweiflung um. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Schauer wartete ein paar Sekunden, erhob sich dann, nahm ihren Stuhl und setzte sich neben Bartkos Witwe, um ihr den Arm um die Schulter zu legen. Die Frau nahm die Berührung dankbar an, lehnte sich leicht gegen Schauer.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte.
«Ich nehme an, es hat sich seit seinem Tod keiner um Sie gekümmert?», fragte Schauer leise.
«Einen Brief vom Polizeipräsidenten habe ich bekommen, vorgedruckt und nur unterschrieben.» Helen Bartko wischte sich mit den flachen Händen über das Gesicht. «Es geht wieder.» Sie lächelte Schauer an.
«Können wir darüber sprechen?»
Helen Bartko nickte. «Felix stand einmal vor meinem Haus, eine Woche nach dem Unfall. Ich sah ihn, ich habe gewartet. Er stand wie erstarrt an der Pforte. Es schien, als wollte er zu mir und als ob ihn etwas davon abhielt. Eine innere Stimme. Und dann, als er sich entschloss, auf die Klingel zu drücken, da klingelte sein Telefon. Er ging ran, wandte sich ab und ging fort.»
«Und früher, konnten Sie mit ihm sprechen?»
«Er war schon immer seltsam. Meistens still. Der war wie so ein Klotz an Michaels Bein. Im guten Sinne, er bremste ihn sozusagen. Ich wusste, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Schlimme Geschichte. Er wurde seinen Eltern wohl weggenommen.»
«Ich denke, er war Waise?»
«Genau weiß ich das auch nicht. Vielleicht sind das alles auch nur Gerüchte. Als ich ihn kennenlernte, also da kannten er und Michael sich schon lange, schien er ganz normal, nur still und verschlossen. Und eines Tages geschah etwas mit ihm, vielleicht auch schleichend. Was auch immer, es führte dazu, dass Conny, also seine Frau, sich von ihm trennte. Dann war er kurz mit dieser Claudia zusammen, die vom Fernsehen, doch seit dem Fall Mahler war er wie ausgewechselt. Ja, und dann der Unfall mit Michael, das hat ihm wohl völlig den Boden unter den Füßen weggerissen. Aber seitdem habe ich genug mit mir zu tun und will von alldem nichts mehr wissen.» Helen Bartko holte tief Luft.
«Erzählte Ihr Mann mal etwas darüber, also über Felix?»
Helen schüttelte den Kopf. «Nichts Negatives, der hielt die Hand über ihn. Er wusste, auf Felix konnte er sich hundertpro verlassen. Felix hat nie jemandem irgendwas verraten. Der schien auch irgendwie von Michael abhängig zu sein. Er war nicht unterwürfig oder so, kein bisschen, aber wenn Michael etwas sagte, dann machte Felix das. Als wäre Michael der große Bruder oder so.»
«Und Ihr Mann, der hat nie etwas von früher erzählt, wie er und Felix sich kennenlernten?»
«Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, nein, nie.»
Unvermittelt schepperte etwas im Haus. «Oh Mann, ich komme gleich wieder!» Helen Bartko stand auf und lief aus der Küche. «Mensch, Mutti, ich hab doch gesagt, du solltest das nicht machen. Jetzt ist es kaputt, siehst du?»
Schauer kratzte sich am Kopf. Dann bemerkte sie eine Bewegung, drehte sich zur Tür. Dort stand der Alte.
«Molche», sagte er.
«Bitte?» Schauer war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
«Molche. Schwarze. Widerliche kleine Dinger. Fragen Sie!»
«Fragen?»
«Ja, fragen Sie!»
«Ach, Vater, hier, deine Hose!» Helen war zurück, bückte sich. «Hier, Vater, steig rein.»
Der Alte stützte sich auf die Schultern seiner Tochter, hob ein Bein gerade so hoch, dass sie die Jogginghose über seinen Fuß fädeln konnte, genauso verfuhren sie mit dem anderen. Dabei sah der Alte Schauer an und grinste.
Bartko zog ihm die Hose hoch. «So, und jetzt setz dich da hin, ich komm gleich zu euch.»
«Hab acht!», rief der Mann. «Der Zug kommt! Tschuff, tschuff.»
«Bei ihm ist es weiter fortgeschritten?», fragte Schauer, als Helen sich wieder gesetzt hatte.
«Ja, bei ihm wissen wir es seit fünf Jahren, und zuerst hat Mutter sich gekümmert. Aber die bekam es auch. Ist wirklich schlimm, wenn man dem Verfall so zusehen muss.»
«Und Ihr Vater …»
«Der weiß nicht mal mehr seinen Namen, der weiß nicht, wer ich bin oder wer Mutter ist. In letzter Zeit will er immer heim. Nach Freiberg, da kommt er ursprünglich her.»
Schauer sah sich zur Tür um, doch Helens Vater stand nicht mehr da. «Gerade sagte er, ich solle nach den Molchen fragen.»
Helen Bartko erstarrte, ihre gerade noch aufgeschlossene Miene versteinerte.
«Eben, als Sie nach Ihrer Mutter sehen waren, kam er zu mir und sagte, ich solle nach den schwarzen Molchen fragen», beteuerte Schauer.
«Mein Vater pisst sich dreimal am Tag voll und weiß nicht einmal, wo sein Bett ist. Woher wissen Sie von den Molchen?»
«Ich weiß überhaupt nicht, wovon hier gesprochen wird. Gerade kam er in die Küche, kleine widerliche Dinger, sagte er.»
Helen Bartko sah sich nun ebenfalls nach der Tür um. «Kommen Sie», sagte sie dann schroff und stand wieder auf. «Kommen Sie!»
Schauer folgte ihr ins Wohnzimmer zu einem Esstisch, an dem der Alte nun saß, ihm gegenüber seine Frau. Beide schienen sie gegenseitig nicht wahrzunehmen.
«Vater!», sagte Helen laut, stieß ihn sanft an, da er nicht verstand, dass er gemeint war. «Vater, was ist mit den Molchen?»
Der Mann sah sie nur verständnislos an. Dann begann er zu lächeln. «Ah», sagte er. «Achtung, Zug fährt ein.»
«Molche, Vater, sag, hast du Frau Schauer irgendwas von Molchen erzählt?»
«Haha, der Zug. Tschuu-tschuuuu.»
Helen sah Schauer mit hochgezogenen Augenbrauen an. Es war müßig weiterzubeteuern, dass er es wirklich gesagt hätte. Schauer versuchte es erst gar nicht.
«Aber Sie wissen von Molchen?», hakte sie stattdessen nach.
Helen tat es mit einer Handbewegung ab. «Fragen Sie jemand anderes, fragen Sie Felix. Der weiß mehr als ich. Ich weiß alles nur aus zweiter Hand. Und ich kann Ihnen sagen, es ist wohl besser, Sie halten sich da raus.»
«Wo soll ich mich raushalten?»
«Aus allem. Sie scheinen mir echt eine nette Person zu sein. Also nicht nett wie blöd, sondern … ich weiß nicht, unverbraucht. Mit Felix zu arbeiten, schlaucht.»
«Haben Sie sich je gefragt, wieso Felix unversehrt aus dem Auto kam?»
«Habe ich, tausendmal. Wie kann es sein, dass Michael stirbt und Felix ohne einen Kratzer dasteht? Aber ich bin zu einem Schluss gekommen, es ist wie mit Besoffenen. Die stürzen, fallen um, werden angefahren, und ihnen passiert nichts. Als ob der Körper weich wird. Wie Gummi, wissen Sie? Dasselbe, glaube ich, ist mit Felix geschehen.»
«Es heißt, er hätte tatenlos zugesehen, wie …» Wieder wagte sie nicht, bis zum Ende zu sprechen.
Helen Bartko hatte dazu aber auch schon ihre Meinung. «Felix hat manchmal solche Phasen, da ist er weg, geistig. Wie das ausgelöst wird, weiß ich nicht. Aber wer weiß schon, wie man reagiert, in solch einer Situation. Mir ist mal auf der Autobahn ein Reifen abgegangen. Das Auto drehte sich und schleuderte gegen die Leitplanke. Mir ist nichts passiert, aber ich habe in dem Moment nicht kapiert, was passiert, dachte nur, nanu, warum dreht sich alles. Die Leute tratschen, wissen Sie? Die finden es geil, sich Geschichten auszudenken, je schräger, desto besser. Damit man sich schön gruseln kann. Dabei gibt das echte Leben genug her, um sich zu gruseln.» Mit den Augen deutete sie auf ihre Eltern.
Sie sah ihn nachdenklich an, als sie ins Auto stieg. Sie hatte länger mit Helen Bartko gesprochen, als er vermutet hatte. Etwas war geschehen da drinnen, er sah es in ihrem Blick. Wahrscheinlich hatte sie der Anblick der beiden völlig verwirrten Alten deprimiert, möglicherweise hatte sie begonnen auszurechnen, wie viele Jahre ihr blieben, bis ihr das Schicksal so eine Krankheit bescheren mochte.
Inzwischen war ihm kalt geworden, richtig kalt. Er hatte den Motor nicht laufen lassen, der Wagen war schnell ausgekühlt. Seine Füße fühlten sich an, als steckten sie in Eisblöcken, die Kälte zog seine Beine hoch, war längst den Rücken hinaufgekrochen und machte sich in seinen Schultern breit. Lange schon hatte er das nicht mehr fühlen können, weder eisige Kälte noch Wärme noch sonst etwas.
Es reizte ihn, auch alles andere auszukosten.
«Was ist mit dem Mann, den die Nachbarn gesehen haben wollen, wenige Tage bevor Mahler umgebracht wurde?», fragte Schauer ihn.
Sie startete den Motor, und sogleich kam wärmere Luft aus dem Gebläse. Ein Haar begann sich zu bewegen. Es hatte sich in der Düse verfangen, die auf das Beifahrerfenster gerichtet war. Er hatte es schon beim Einsteigen gesehen. Es war recht lang. Viel länger als sein und Schauers Haar.
«Niemand anderes hat diesen Mann gesehen. Wir glauben, Nora Mahler hat die Nachbarn instruiert, das zu sagen.»
«Warum sollten sie das für sie tun?»
«Sie hat sie auf irgendeine Art unter Druck gesetzt. Sie waren immer sehr angespannt, wenn wir sie nach den Mahlers fragten.»
«Und das Blitzerfoto von Mahler auf der A4?»
Sie hatte wirklich einiges in Erfahrung gebracht. Bruch fragte sich, ob Helen ihr viel erzählt hat, und plötzlich auch, ob sie sich um Helen hätten kümmern müssen. Er kannte sie anders, sie redete nie viel. Nie hatte sie hinterfragt, was geschah. Niemals hatte Michael an ihr gezweifelt. Sie war seine Frau, und sie nahm die Dinge, wie sie kamen. Jetzt aber war Michael tot, Schauer hatte einiges über ihn erfahren, von dem sie noch nicht gewusst hatte, und nun gab es keinen Grund mehr, Michael zu schützen oder wenigstens zu schweigen.
«Wir glauben, Thomas Mahler hatte eine Affäre. Nora erfuhr es. Vielleicht wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung. Sie war immer daheim. Sie könnte den Brief empfangen und geöffnet haben. Sie stellte ihn eines Tages zur Rede, dann eskalierte die Sache. Jasmin hörte den Streit, kam dazu. Sie sah, wie ihre Mutter den Vater erschlug. Nora nahm sie beiseite, machte ihr deutlich, dass sie das der Polizei niemals erzählen dürfte, weil sie dann nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter verlieren würde.»
Er sah, seine Worte erzielten Wirkung bei Schauer. Es war logisch. Es war schlicht.
«Warum sollte er so was tun, Hunderte Kilometer fahren, für ein paar Stunden mit einer anderen Frau?»
«Männer tun noch ganz andere Dinge dafür.»
«Und warum sollte Jasmin noch immer für ihre Mutter lügen? Es hat sich doch gezeigt, dass es nicht geholfen hat.»
«Sie wird die Lüge zu ihrer Wahrheit gemacht haben. Menschen machen das andauernd. Manche täglich, stellen sich vor den Spiegel und sehen etwas ganz anderes, als die Realität aufzeigt. Manche glauben sich in einem schönen Leben, dabei vertreiben sie nur die Zeit.»
«Felix, weißt du etwas über Molche?», fragte sie unvermittelt, und es war ihm in diesem Augenblick, als schüttete jemand schwarze Tinte in ein Glas, so trübte sich sein Blick in einer dunklen Wolke, die sich in sich selbst drehte, sich wälzte, und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich auflöste und nur der Eindruck blieb, ein leichter grauer Schleier bliebe zurück. Schwarze Molche. In seinem Bett. In seinem Schrank.
«Nein», sagte er tonlos.
Schauer hatte nichts anderes erwartet. Ihr Telefon begann zu summen. Sie nahm es aus der Jacke. Es war Simons Nummer.
«Schauer», nahm sie das Gespräch an, stellte es in die Lautsprecheranlage.
«Wenzel hier», sagte ihr neuer Chef. «Haben Sie heute Jasmin Mahler vernommen?»
«Mit Sie meinen Sie wen?»
«Sie!»
«Wir haben sie nicht vernommen, nur ein Gespräch mit ihr geführt», versuchte sie erstens zu relativieren und zweitens klarzumachen, dass sie es nicht allein gewesen war.
Wenzel ging darauf gar nicht ein. «Ist dieses Gespräch auf irgendeine Art so eskaliert, dass ein Rettungswagen kommen musste?»
«Nein, eskaliert ist es nicht. Wir gaben ihr etwas zu essen, und offenbar aß sie zu schnell und zu viel. Sie bekam Krämpfe, vielleicht waren es auch Unterleibsschmerzen, die auf ihre sexuellen Aktivitäten zurückzuführen sind …»
«Sexuelle Aktivitäten?», wiederholte Wenzel fast abschätzig. «Das ist doch noch ein Kind!»
Dass Wenzel so naiv war! «Lassen Sie sich von ihrem Äußeren nicht täuschen …»
«Kollegin», unterbrach Wenzel scharf, «sie hat ausgesagt, Sie hätten sie geschlagen, in den Bauch geboxt, mit dem Knie in den Unterleib getreten. Sie hätten ihr absichtlich nicht ins Gesicht geschlagen, damit man nichts sieht.»
Schauer blieb der Atem weg, als hätte man ihr in den Magen getreten. Sie sah Bruch an, der nicht einmal reagierte, der sie einfach nur anstarrte.
«Das ist eine Lüge», keuchte sie, «das Kind ist verschlagen …»
«Laut Ihrer Akte wird Ihnen eine nicht unerhebliche Anzahl von Gewaltausbrüchen im Dienst vorgeworfen, wovon die meisten aus Mangel an Beweisen ungeahndet blieben.»
Gewaltausbrüche, erhebliche Anzahl, die meisten, Mangel an Beweisen.
«Noch dazu gibt es offenbar einige Vorfälle im privaten Bereich.»
Einen! Einen Vorfall! Weil Sebastian, ihre große Liebe, wegen der sie nach Dresden gekommen war, Schluss mit ihr gemacht hatte, nachdem sie vom Krebs geheilt war, weil er, er!, der arme Kerl, so viel gelitten hatte und das nicht noch einmal würde aushalten können. Was hieß, er war während ihrer Behandlung nur mit ihr zusammengeblieben, um nicht als Schwein dazustehen, und dass er wohl schon davon ausging, dass der Krebs wiederkommen wird. Wie sollten einem da nicht die Sicherungen durchbrennen?
«Sie besuchen schließlich nicht ohne Grund einen Antiaggressionskurs», fuhr Wenzel fort, «Frau Hauptkommissarin, mir wird nichts anderes übrig bleiben, als eine Untersuchung dieses Vorfalls anzuordnen, noch dazu, da Sie sich trotz Ihrer Beurlaubung Zutritt verschafften und das Personal genötigt haben, Ihnen Jasmin Mahler vorzuführen.»
Rote Blitze vor ihren Augen, wie ein Sandsturm wurde sie umhüllt, wohin sie sah, war nur Rot, machte sie blind.
«Das sind Lügen!», keuchte sie und war auf einmal wieder das Mädchen in der Schule, auf das sich die ganze Klasse eingeschossen hatte, das für jede kaputte Fensterscheibe, für jedes Geräusch im Unterricht, für jedes verletzte Kind auf dem Schulhof verantwortlich gemacht wurde. Die da war’s, die Nicole, die hat’s getan.
«Ich will Sie außerdem informieren», sprach Wenzel weiter, so wie auch damals ihre Versuche, sich zu verteidigen, meist einfach ignoriert wurden, «dass es Jasmin Mahler gelungen ist zu entkommen, trotz Handschellen und Überwachung. Sie ist aus dem Krankenhaus geflüchtet. Kollegin, das haben wir Ihrem eigenmächtigen Handeln zu verdanken, und Sie werden sich verantworten müssen!» Wenzel legte auf.
«Warum sagst du nichts!», fuhr sie Bruch an.
«Es ist nicht wichtig», erwiderte er.
«Ja, für dich, du bist ja nicht einmal erwähnt worden von Wenzel. Ich bin ja hier die Dumme!»
«Es ist nicht wichtig!»
«Diese Jasmin. Wir suchen sie jetzt!»
«Wir werden sie nicht finden!»
«Felix, ich fahr zu ihrem Haus, sie wird da hinkommen.»
«Wird sie nicht.»
«Was macht dich so sicher?»
«Sie wird wissen, dass sie dort als Erstes gesucht wird.»
Schauer sah ihn an, völlig erstaunt darüber, wie ungerührt er war. Doch auch wenn sein Gleichmut sie oft zur Weißglut brachte, so wirkte er jetzt ganz anders auf sie. Er hatte recht. Sie lehnte sich zurück, atmete durch. Warum kümmerte sie das alles, warum versuchte sie nicht cool zu bleiben wie Bruch? Sie war Polizistin, und sie musste handeln. Was hatte sie schon groß zu verlieren. Ihren Job? Das wollten sie doch erst mal sehen. Sollte doch Wenzel untersuchen, was er wollte.
«Los!», sagte sie kurz entschlossen. «Finde du raus, wo Jasmin gemeldet ist. Dort fahren wir zuerst hin, und wenn sie da nicht ist», kam sie einem Einwand von Bruch zuvor, «dann klappern wir die ganzen Drogenecken der Stadt ab. Das lass ich mir nicht gefallen!»
«Es hat keinen Zweck», sagte er.
Doch auch er sollte sich die Zähne an ihr ausbeißen. «Hast du irgendeine bessere Idee? Nein? Also?»
Einmal mehr gab er sich schnell geschlagen. «Fahr los, ich weiß, wo sie gemeldet ist.»
Frau Schindler war Leiterin des Kinder- und Jugendnotdienstes in Reick. Ihr Äußeres vereinte eine seltsame Mischung aus einem Hippie und einer Büroangestellten. Ihr Haar war zu Hunderten Rastazöpfen geflochten, und diese waren mit einem Gummi zusammengebunden, sie trug Ohrschmuck aus Holz, ein Nasenpiercing, einen leicht altmodischen Hosenanzug und Mokassins aus dem Dritte-Welt-Laden. Ihr Alter war schwer zu schätzen, sie schien jung, doch der Umgang mit diesen vielen Existenzen, schon ganz am Anfang des Lebens gescheitert, ließ sie im Gesicht viel älter wirken. Besuch von der Polizei war sie gewohnt.
Einrichtungen wie diese kannte Schauer zur Genüge. Sie kannte den Geruch, eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, Kaffee, billigen Reinigungsmitteln und ungewaschenen Kindern. Die Wände waren bunt gestrichen, der Versuch, durch Farbe ein wenig Freude ins Leben zu bringen. Dies wurde jedoch nicht gewürdigt. Überall waren Schmierereien, die Tapete abgerissen oder achtlos zerschrammt, wo immer eine Tür anschlug, ein Stuhl stand oder einer der Rollwagen dagegenknallte, mit denen das Essen aus der Küche geholt wurde.
«Normalerweise sind wir ja nur für kurzfristige Aufenthalte ausgelegt. Wenn Kinder akut aus ihren Familien geholt oder von der Polizei aufgegriffen werden. Aber ein paar Kandidaten haben wir schon, die mal ein paar Wochen bleiben oder immer wieder hierherkommen. Und Jasmin, die ist ein Sonderfall», erklärte Frau Schindler.
«Wie viele Kinder haben Sie denn hier?»
«Unterschiedlich, manchmal nur drei, manchmal zwanzig oder mehr. Die meisten sind aber jünger als Jasmin.» Die Frau sah Bruch an, der außer einem knappen Nicken zur Begrüßung bisher noch gar nichts beigetragen hatte.
«Wann war sie das letzte Mal hier?», fragte Schauer.
«Das ist schon lang her, sechs Wochen oder länger. Wir haben sie auch bei der Polizei als vermisst gemeldet. Das ist aber eher eine Formalität, es sucht ja nicht wirklich jemand nach ihr. Damit sind wir nur rechtlich abgesichert.»
«Hat sie die Schule noch besucht?»
«Angemeldet ist sie an der Schule zwei Straßen weiter, da war sie nur schon seit einem Jahr oder länger nicht mehr, und vorher nur sporadisch. Dort hatte man auch wenig Interesse an ihr gezeigt. Ist auch nachvollziehbar. Sie stört viel. Sie bringt alles durcheinander, macht die Kinder verrückt mit ihrem dummen Gerede.»
«Inwiefern?»
«Sie macht ihnen Angst.»
«Angst, womit?»
Frau Schindler hob die Schultern. «Ach, mit Geistergeschichten. Und sie ist vor allem aggressiv.»
«Können wir ihr Zimmer sehen?»
Frau Schindler erhob sich. «Ich zeig es Ihnen, aber wir müssen uns beeilen, die Kinder kommen bald aus der Schule, da wird erst mal jede Hand gebraucht.»
Jasmins Zimmer lag zwei Stockwerke weiter oben. Frau Schindler stieß die Tür auf, gab einen Raum preis, in dem ein Bett stand, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch. Sonst nichts. Die Fenster hatten allesamt keine Riegel, waren nicht zu öffnen. Es gab kein Bild, keine Pflanze, kein Buch. An der Decke eine einzige schlichte Lampe. Der Schalter dazu war zerschlagen. Die Steckdosen, sah Schauer, waren allesamt demontiert und verputzt. Es war kalt, da man in Jasmins Abwesenheit nicht heizte.
«Die Etage ist nicht weiter belegt. Sie ist zwar nicht da, aber falls sie kommt, halten wir hier oben so weit wie möglich alle Zimmer frei. Es kommt unweigerlich zu Auseinandersetzungen, wenn sie da ist. Warten Sie mal, ich komme gleich wieder.» Frau Schindler, die etwas gehört hatte, lief den Gang hinab. Schauer betrat derweil das Zimmer. Bruch folgte, wirkte seltsam zögerlich, wo ihn doch sonst nichts anfocht.
«Ich glaub ja wohl, ich spinne!», hörten sie Frau Schindler schimpfen. «Hast du dich hier den ganzen Tag versteckt?»
«Hatte kein Bock auf Schule», maulte eine Mädchenstimme.
«Joline, darum geht es nicht, die rufen hier an und sagen, du bist nicht da, was, wenn ich die Polizei alarmiert hätte?»
«Mir doch egal!»
«Mensch, Joline, das ist jetzt schon das dritte Mal, die schmeißen dich von der Schule.»
«Mir doch egal, können die außerdem gar nicht!»
«Geh jetzt runter in dein Zimmer, ich komme gleich zu dir!»
Wenige Augenblicke später erschien sie wieder in der Tür. «Wie gesagt, Jasmin war schon lang nicht mehr hier. Hier ist auch nichts von ihr. Höchstens ein paar Klamotten.»
«Hier ins Haus kommt niemand einfach so rein oder raus?», fragte Schauer.
Schindler zog einen Mundwinkel und beide Schultern hoch. «Normalerweise nicht, aber wenn ein Kind am Tor klingelt, schlüpft sie mit rein. Und genauso kommt sie wieder raus. Und grundsätzlich, wer wirklich rauswill, schafft es auch über den Zaun, wir sind ja kein Gefängnis hier.»
Ihr Telefon begann zu klingeln. «Was ist denn?», ging sie entnervt ran. «Ja, wartet, ich komme runter.»
Sie steckte das Telefon weg. «Wenn Sie wollen, sehen Sie sich um. Ich muss ins Büro.» Sie hob entschuldigend die Hand und drehte sich auf dem Absatz um, eilte den Flur hinunter.
Schauer sah Bruch an. «Ist was mit dir?»
«Das Bett», sagte Bruch.
Was ist damit, wollte sie fragen, doch es gelang ihr, die Frage zu unterdrücken. Sie musste lernen, cool zu werden. Richtig cool, nicht nur die harte Tussi spielen, sondern auch sein. Deshalb ging sie zu dem Bett. Sie zog das Bettzeug weg, fand nichts Ungewöhnliches. Nun drehte sie sich doch zu Bruch um, der in der Tür stehen geblieben war. Statt aber zu fragen, folgte sie nur seinem Blick, ging in die Hocke und kniete sich schließlich hin, um sich dann noch mit den Händen auf dem Boden abzustützen, und sah unter das Bett.
Sie stand auf, fasste das Bett am Fußende und zerrte es beiseite. «Mach doch einfach den Mund auf!», murrte sie Bruch an, der herangekommen war und das Kopfende packte. Gemeinsam zogen sie das Bett ein ganzes Stück von der Wand weg, offenbarten ein ganzes Sammelsurium an Dingen und vor allem Schmierereien an der Wand.
«Das war in ihrem Zimmer in dem Haus auch an der Wand», stellte Schauer nach kurzer Prüfung fest. «Sind doch irgendwelche Teufelszeichen oder so?» Es waren Runen, Pentagramme, stilisierte Tierköpfe.
Bruch betrachtete die Bilder viel länger als nötig, seine Pupillen hüpften, als bewegten sich die Zeichen. Wie hatte er das eigentlich sehen können, fragte sie sich. Selbst von der Tür aus war der Weg eigentlich zu kurz, der Winkel zu groß, um so unters Bett zu blicken.
Schauer hockte sich hin, griff nach einer Fotografie, die ganz abgegriffen und vergilbt war. Sie zeigte Jasmin und ihre Mutter aus Tagen, in denen ihre Welt noch in Ordnung war. Sie standen vor einem Gartenzaun, Nora Mahlers Hände auf Jasmins Schultern. Schauer überlegte nicht lang, steckte das Bild ein. Dann langte sie nach ein paar Figuren aus Kinderüberraschungseiern, ein paar Stummel von Stiften lagen herum, ein paar Glasmurmeln, ein winziger Plüschteddy, der nur ein Schlüsselanhänger war. Eine Zigarettenschachtel lag noch da, doch keine Zigaretten waren drin, sondern irgendwelcher Stoff, in Alufolien portioniert. Das war hart. Sich auszumalen, welches Leben dieses Kind führte. Hart aber auch zu akzeptieren, dass Jasmin log und behauptete, sie wäre von ihr geschlagen worden. Hart, ihr zu verzeihen, trotz aller Umstände. Doch für Jasmin war sie nur eine von vielen, eine Feindin.
Schauer erhob sich, sah Bruch wieder an. «Schau mich nicht so an, ich flenne nicht!»
«Hat die Scheiße gebaut?», fragte jemand von der Tür, veranlasste beide Polizisten, sich umzudrehen.
«Du bist Joline?», fragte Schauer.
«Kommt die jetzt in Knast?» Das Mädchen war drall, ihr großer Busen in ein viel zu enges Top gequetscht. Ihr Gesicht war überschminkt, ihre Lippen sahen aus, als saugte sie sich jeden Tag stundenlang an einer Flasche fest, damit sie voller wirken.
«Kennst du Jasmin?»
«Heißt die so? Ich dachte, die heißt Psycho. Pennt unterm Bett, wenn die mal da ist. In der Schule hat sie voll den Lehrer angegriffen. Voll ’ne Flasche über den Kopf gehauen und ins Gesicht getreten.»
«Sie hat Schlimmes erlebt.»
«Ach nee. Die Arme. Was is’n nun, geht die in den Knast? Oder in die Klapsmühle. Wär besser. Die ist voll irre, sag ich Ihnen. Die hat mir voll gedroht, wollte mich umbringen. Sag ja nur.»
«Das sagt sie nur, um dir Angst zu machen!»
Joline schüttelte den Kopf. «Nee, Angst macht die ganz anders. Die geht zu den Kleinen und erzählt vom Satan und so. Die sagt, der kommt ins Haus und bringt ihre Väter um. Und man kann dem nicht entkommen, weil, der weiß immer, wo man ist, und dass man sich nicht mit ihr einlassen soll, weil die selbst von Satan bewacht wird, und wer ihr was antut, der legt sich auch mit Satan an. Ich hab die ausgelacht, aber die ist mich voll angegangen und hat das voll ernst gemeint.»
«Joline, das ist alles nur dummes Zeug. Geh wieder zu den anderen.»
Joline dachte nicht daran, sie kam sogar ins Zimmer. «Ich sag Ihnen, die alle denken, ihre Mutter hat ihren Vater totgeschlagen, aber ich sag Ihnen, die war das. Ich hab auch schon dran gedacht, meine Alten totzuschlagen, aber ich mach’s nicht. Aber die hat’s gemacht. Die ist nicht erst verrückt geworden, wie Sie jetzt alle denken, die war schon vorher irre, das weiß ich von Linda, die war früher bei der in der Schule.»
«Aha, und Linda, ist die hier?»
«Nee, die ist bei ihren Großeltern. Aber gehen Sie doch zu der Schule von Jasmin, dort wo die früher gewohnt hat. Sie sind doch Bull’n, Sie finden das raus.»
«Das ist nur Gerede», sagte Bruch, als Schauer den Wagen vor der Grundschule abstellte. Sie waren fast eine halbe Stunde durch die Stadt gefahren, Schneefall hatte eingesetzt, wenn auch nur ganz wenig. Obwohl es gerade drei Uhr am Nachmittag war, wurde es schon wieder düster. Ihm war nicht wohl, nichts von dem, was sie hier taten, nützte etwas, ganz im Gegenteil, er fühlte fast körperlich, dass es nicht gut war, sich weiter auf Jasmin einzulassen. So, als würde man immer mehr beschleunigen und sah in der Ferne schon die Wand, auf die man zuraste.
Er hatte während der Fahrt überlegt, was er zu dem sagen konnte, was das andere Mädchen über Jasmin erzählt hatte. Er wollte Schauer dazu bringen abzulassen, doch wusste er auch, dass sie sich davon nur noch mehr angespornt fühlen würde. Als er ihr sagen musste, dass es schon zu spät war auszusteigen, hatte sie das schnell akzeptiert, dabei hatte sie nie wirklich vorgehabt auszusteigen. Sie war neugierig, sie war trotzig, sie war stur. Ihm fehlte die Kraft, dagegen anzukämpfen. Sein Flug durch den leuchtenden Tunnel hatte ihn erschöpft. Jetzt war er kaum mehr als ein Passagier. Und obwohl er froh sein müsste, dass er momentan fühlte und spürte und dachte wie ein normaler Mensch, wünschte er sich, das hätte bald ein Ende, und er könnte zurück in seinen Kokon, der ihn mit geruchs- und geschmacksloser Gräue umhüllte. Denn etwas kam auf sie zu, und auch wenn er nicht wusste, was es war, wollte er dem in seinem Zustand nicht begegnen.
«Dieses andere Mädchen will sich nur wichtigmachen», fügte er hinzu. Noch fühlte er. Doch es schwand. Diese Zeit der Normalität, zumindest das, was er so bezeichnen konnte, war meistens die kürzeste. Er mochte Schauer, stellte er fest, und sosehr er sich in seinen Kokon zurückwünschte, fürchtete er, er könne es wieder vergessen, so wie er vergaß, was Kälte war und Hunger und Angst.
Schauer sagte nichts. Sie stieg aus. Er folgte ihr zur Eingangstür, wo sie klingelte, sich der Kamera als Polizisten vorstellte, ihren Ausweis zeigte. Dann öffnete sich die Tür, ins Schulleiterbüro sollten sie kommen. Schweigend liefen sie, und es gab nichts, womit er Schauer jetzt hätte aufhalten können.
Der Schulleiter war ein älterer Mann mit weißen Haaren, er musste kurz vor der Rente stehen. Er empfing sie freundlich.
«Wissen Sie, ich habe oft über Jasmin nachgedacht, nachdem ich diese ganze Geschichte mitbekommen habe», begann er auf Schauers Frage nach dem Mädchen zu erzählen.
«Man fragt sich ja oft, ob man etwas hätte bemerken müssen.»
«Was bemerken?», fragte Schauer ihn.
Der Geruch von Räucherkerzen stieg Bruch in die Nase, den hatte der Mann von zu Hause mitgebracht. Außerdem eine Note Männerparfüm, nicht von heute. Vermutlich war er gestern mit seiner Frau ausgegangen.
Der Schulleiter wiegte den Kopf. «Grundsätzlich. Das meine ich ja, ob man hätte etwas bemerken müssen.» Er wich aus, wusste Bruch, das war es nicht, was er hatte sagen wollen.
«Was glauben Sie denn, hätte man bemerken können?», hakte Schauer nach.
Sie übte sich in Geduld, das sah Bruch ihr an. Sie hatte die Witterung aufgenommen. Sie wollte jagen. Doch sie war auf der falschen Fährte. Jasmin war nicht die Lösung. Sie war ein Problem.
«Dass in der Familie etwas nicht stimmt.» Der Mann lächelte, doch er hatte schon die Lust verloren. Hatte er gerade noch geglaubt, das Gespräch wäre eine interessante Abwechslung, ein Small Talk über eine Person, die nicht mehr in seinem Verantwortungsbereich lag, musste er nun feststellen, es war ernst, und Schauer ließ nicht ab.
«Wie war Jasmin als Kind?»
«Da fragen wir lieber ihre ehemalige Klassenlehrerin, Frau Zirkow.» Er sah auf die Uhr. «Sie haben Glück, sie ist noch da. Heute ist eine kleine Konferenz.»
«Jasmin war ein sehr stilles Mädchen», sagte Frau Zirkow, sie war ein wenig jünger als der Schulleiter, klein, mit dunkelrot gefärbten Haaren. Sie mochte nicht über Jasmin sprechen, das sah Bruch ihr von der ersten Sekunde an. In ihrem Gesicht hatte sich jedoch keinerlei Überraschung gezeigt, als sie auf ihre ehemalige Schülerin angesprochen wurde.
«Die anderen Kinder mieden sie.» Sie hob die Schultern.
«Einfach so? Ist es nicht so, dass Kinder sich gerade auf die Außenseiter einschießen?» Schauer, vermutete Bruch, schwankte zwischen größtem Mitgefühl für Jasmin und einer schwerwiegenden Vermutung, von dieser Joline ausgelöst. Jetzt klingelte Schauers Handy. Sie nahm es heraus, sah auf das Display, schaltete den Klingelton stumm.
Frau Zirkow nickte. «Na ja, stimmt schon, Jasmin kam ja erst später in die Klasse. Nachdem ihre Eltern in das Haus eingezogen waren. Ihre Mutter war gerade mit dem zweiten Kind schwanger. Manche Kinder waren zuerst sehr nett zu ihr. Ich habe die Mädchen aufgefordert, sie freundlich zu behandeln und mitzunehmen. Aber es zeigte sich, dass Jasmin nicht besonders anschlussfreudig war. Sie wollte einfach nicht. Andersrum ähnlich. Manche Kinder waren gemein zu ihr, eben weil sie still war und auch nicht besonders gut angezogen. Ihre Eltern legten nicht so viel Wert darauf. Aber die Gemeinheiten hörten schnell auf. Ich glaube, Jasmin hat ein kleines Exempel statuiert.» Frau Zirkow lächelte unsicher. «Man ist ja nicht immer dabei. Und keines der Kinder hat mir je was erzählt davon. Aber ich glaube, Jasmin hatte sich einen der Jungen geschnappt, Jonas hieß der, glaube ich. Der war ganz verändert nachher.»
«Verändert?»
«Still, schüchtern, regelrecht verstockt. Ich gebe zu, mir war das ganz recht. Der war vorher ein ziemlicher Störfaktor, laut und frech. Aber Jasmin war schon seltsam. Sie schenkte mir zu Weihnachten mal etwas Gebasteltes, das war … nicht schön.»
«Was meinen Sie mit nicht schön?», fragte Schauer.
Schauer warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Ihr Blick traf ihn fast körperlich, wie ein Strahl heißer Luft. Es schien noch nicht vorbei, in ihm war ein Kampf, er wandelte auf einem schmalen Pfad, der das grelle Gleißen von dem dunklen Abgrund trennte. Kurz sah er zum Fenster, nach draußen, wo nicht einfach mehr nur Schnee zur Erde fiel, sondern weiße Funken.
Frau Zirkow bemerkte von alldem nichts. «Ein seltsames Gebilde. Zuerst dachte ich, das sei so was wie Indianerschmuck. Also, das sagt man ja nicht mehr, amerikanische Ureinwohner, aber Sie wissen sicher, diese Traumfänger, nennt man das so? Dann sah ich aber, es war aus Zweigen und Tierknochen gebaut. Also Knöchlein, ganz zierlich, wie von Vögeln, und ich meine, die Fäden waren Haare. Das sorgt für Sie, hatte Jasmin gesagt, als sie es mir gegeben hat.»
Schauer wich ganz unmerklich zurück. «Das sorgt für sie? Also für Sie?»
«Ja, für mich. Ich gestehe, ich hab es weggeworfen, das war mir zu eklig.»
«Sicher haben Sie ihre Eltern gesprochen?», fragte Bruch und erntete einen erstaunten und gleichzeitig ironischen Blick von Schauer. Warum er das gesagt hatte, wusste er nicht recht, es war einfach aus seinem Mund gekommen.
«Ihren Vater nur, bei einem Elterngespräch, ein netter Mann, sehr still, aber freundlich.»
«Hatten Sie das Gefühl, dass in Jasmins Familie etwas nicht mit rechten Dingen zuging?», fragte Schauer und warf ihm noch einmal einen ganz kurzen erstaunten Blick zu.
«Sie waren eben sehr schlicht, legten nicht viel Wert auf Äußeres.»
Bruch sah, dass Schauer auf mehr hinauswollte.
«Hatte Jasmin ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern?»
«Das ist ganz schwer zu sagen, die kam ja immer allein und ging nach der Schule auch allein heim. Dabei lief sie hier durch den Wald. Da gibt es einen Weg, der führt zu der Siedlung am Wald, wo sie wohnten. Das hat mich schon gewundert, uns alle, denn Sie sehen ja, gerade im Winter, da ist es schnell finster, und früh am Morgen, da ist es noch wie Nacht. Aber Jasmin schien das nicht gestört zu haben.»
«Aber sie hatte grundsätzlich keine Probleme mit ihren Eltern?»
Frau Zirkow sah zur Tür ihres Zimmers. «Ich weiß schon, es gibt Leute, die glauben, im Nachhinein in Jasmins Verhalten etwas hineininterpretieren zu müssen, oder dass nie jemand zum Elternabend kam. Aber nur weil ein Kind still ist und einen seltsamen Sinn für Kunst und Ästhetik hat, heißt das noch lange nichts. Vor allem geschah dieses Unheil zwei Jahre nach dem Wechsel in die Oberschule, da macht man sich in seiner Erinnerung auch schon mal was zurecht. Vor allem wenn man mit dem Kind gar nicht täglich zu tun hatte.»
Damit war der Schulleiter gemeint. Bruch beschloss, dass es hier nichts mehr zu holen gab. «Also gut», sagte er und erhob sich. Wie erhofft folgte Schauer seinem Beispiel, ihr Blick jedoch konnte kaum verwunderter sein.
«Was hast du erhofft zu erfahren?», überraschte Bruch sie mit seiner Frage, als sie wieder im Auto saßen. War das gerade der echte Felix Bruch, tat sich ihr hier gerade ein winziger Spalt auf, ließ sie in die Vergangenheit blicken, einen Bruch sehen, der sprechen konnte, denken und handeln wie ein Mensch? Gab es noch Hoffnung, dass an ihm etwas zu retten war. War das ihr Verdienst? Oder wen sah sie da gerade?
«Gar nichts», log sie. «Aber als Kriminalist, vor allem in einem solchen Fall, sollte man doch alle Faktoren betrachten. Was hältst du davon, dass sie allein durch den Wald lief? Als Grundschülerin.»
«Sie hat eben keine Angst in der Dunkelheit», erwiderte Bruch. «Hattest du nicht einen Anruf?»
«Stimmt.» Schauer nahm das Telefon heraus, sah, dass es der Anrufer noch zwei weitere Male probiert hatte, und drückte Wiederwahl.
«Voss hier», meldete sich ein Mann. Schauer benötigte einen Moment, dann wusste sie, wer das war. Ein Kollege, Oberkommissar. Spezialisiert auf Bildauswertung und andere technische Angelegenheiten. «Sind Sie grad allein?»
«Ja», sagte Schauer und realisierte erst zu spät, dass das ja gar nicht stimmte. Einen Moment überlegte sie auszusteigen, doch Bruch sollte nicht so offensichtlich mitbekommen, dass er nicht mithören sollte.
Voss tat ihr ungefragt den Gefallen, dass er leise sprach. «Ich habe jetzt den gestrigen und heutigen Tag fast ausschließlich damit verbracht, mir mit anderen Kollegen die Aufnahmen der Überwachungskameras im Präsidium anzusehen. Von den verschiedenen Eingängen, von der Straße, vom Foyer, Sie wissen schon. Es ist unmöglich, irgendeine Person auszumachen, die sich auf eine Art verdächtig verhält oder irgendwie relevant erscheint.»
Das wusste sie im Prinzip schon. Doch sie hielt sich zurück. Er würde nicht umsonst angerufen haben. Dreimal.
«Mir ist aber etwas aufgefallen.» Er hatte die Stimme gesenkt, und es schien, als hätte er sich während des Telefonats nach draußen bewegt. Schauer reagierte schnell, stieg nun doch aus und warf die Autotür zu. «Ich würde es Ihnen gern zeigen. Allein!»
Das war deutlich, Bruch sollte nicht dabei sein.
«Ja, wo, auf der Schießgasse?», fragte sie und drehte sich noch weg dabei, denn es mochte ja sein, Bruch konnte Lippen lesen.
«Nein, ich habe es auf einem Stick gespeichert. Soll ich zu Ihnen kommen, oder …?»
«Nein», sagte Schauer, «neutral irgendwo, senden Sie mir eine Nachricht.»
Voss verstand. «Geht klar.» Er legte auf.
Schauer stieg wieder ein. «Nichts Besonderes», sagte sie ungefragt.
«Voss?», fragte Bruch.
«Wollte wissen, ob wir wissen, wie lang die Beurlaubung gilt», log Schauer und fand keine schnelle Erklärung, warum sie ausgestiegen war. «Dienstschluss, oder?», versuchte sie abzulenken.
«Wir sind beurlaubt», erwiderte Bruch nur.
«Gut, dann fahr ich dich heim.»
Gerade als er das Haus betrat, erhob sich weiter oben wildes Geschrei. Er schaltete kein Licht an, stieg die Stufen hinauf, hörte aus der Wohnung des jungen Mannes wie immer Schieß- und Explosionsgeräusche von Computerspielen, von der nächsten Etage dumpfe Musik, nebenan hustete der alte Mann. Bruch zögerte, blieb auf dem Halbpodest stehen, lauschte ins Dunkle. Etwas war anders. Etwas hatte sich unter all die Gerüche im Haus gemischt. Unter all den Gewürzen, dem Urin, dem Schweiß, dem Zigarettendunst, dem Haschgeruch lag etwas Bedrohliches. Bruch bewegte sich weiter. Er hatte seine Pistole dabei, doch glaubte er, die würde ihm in diesem Fall nichts nützen. Aus seiner Nachbarwohnung drang das Geräusch vieler Stimmen, die arabisch sprachen. Es roch süßlich, nach Baklava und Tee.
Ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte, hielt er noch einmal kurz inne. Die Lichter der Stadt, aus dem Treppenhausfenster gut zu sehen, wurden heller, zu kleinen, grellen Punkten, der Schnee begann zu funkeln, all die Weihnachtsbeleuchtungen der umliegenden Häuser wurden zu einer Kaskade aus buntem Licht. Er schloss die Augen, und es dauerte einige Augenblicke, bis das grelle Glitzern auch in seinem Kopf erlosch. Dann öffnete er die Wohnungstür. Als sie einen Spalt offen stand, hielt er wieder inne. Vom oberen Treppenabsatz erhob sich jemand, der dort gesessen hatte, ging drei, vier Stufen hinab.
Er drehte sich um. «Was willst du hier?», fragte er.