10

«Ist irgendwas mit dir?», fragte Schauer, als er aus seiner Haustür trat. Sie hatte ihn keine zwanzig Minuten zuvor angerufen. Es hatte Neuigkeiten aus der Zentrale gegeben. Ihre Beurlaubung war aufgehoben. Es gab zu tun für sie. Im Hechtviertel hatte es einen Toten gegeben. Ans Telefon war er nur gegangen, weil Jasmin den Anruf angenommen und ihm das Gerät gereicht hatte.

«Ich meine, ich wundere mich, dass du überhaupt ans Telefon gegangen bist», sprach sie weiter, in ihrer typisch ungeduldigen Art. «Also, was ist?»

Bruch wusste nichts zu sagen. Das Mädchen hatte ihr Versprechen gehalten und geredet. Sie hatte ihm in allen Einzelheiten berichtet von dieser Nacht, in der ihr Vater starb, und darüber hinaus. Sie hatte gesehen, welche Wirkung ihre Worte erzielten, und wollte nicht aufhören, auch, als er sie darum bat. Mit boshafter Freude hatte sie in ihm das letzte Feuer erstickt, das noch brannte. Jetzt war alles Licht erloschen. Ihre Worte hatten vage Erinnerungen hervorgebracht. An Furcht und Agonie. An Kälte und Finsternis, die selbst im schönsten Sonnenschein nicht weichen wollte.

«Felix?», drängte Schauer.

Nun saß Jasmin oben in seiner Wohnung. Er hatte ihr sein Bett überlassen, während er auf der Couch geschlafen hatte. Ihr Versprechen, alles an seinem Platz zu lassen, war reiner Hohn, das wusste er. Kein Wort war ihr etwas wert. Sie hatte keine Aussicht auf Erlösung. Keine Handlung verursachte ihr Reue. Sie tat, was immer sie wollte, in jedem Augenblick. Ihr Versprechen zu reden hatte sie nur eingelöst, weil sie wusste, dass sie ihn damit verletzen konnte.

«Mit mir ist nichts», log er, «aber mit dir ist etwas», sagte er. Irritiert sah sie aus, fast verstört.

«Ich habe sie heute früh gesehen. Nora Mahler. Ich war bei der Verhandlung. Sie ist vollkommen abwesend. Müsste man nicht meinen, sie würde alles tun, um die Richterin von ihrer Unschuld zu überzeugen? Hat sie es überhaupt je versucht?»

Das war es also, sie war Nora Mahler begegnet und hatte dasselbe Erlebnis gehabt wie fast alle Menschen, die dieser Frau das erste Mal begegneten. «Nie. Sie saß immer still und lächelte.» Auch sie hatte nichts Gutes zu erwarten, wusste er, ob sie im Gefängnis saß oder nicht.

«Sie hat mich angestarrt! Hat mich im Publikum entdeckt und hörte nicht mehr auf, mich anzustarren, bis die Richterin sie ermahnte.»

«Was hast du getan?»

«Nichts, Felix, das ist es ja. Sie kann mich gar nicht kennen. Ich saß da nur.»

«Nein, was hast du zuvor getan?»

Sie zuckte mit den Achseln. «Ich war noch einmal im Haus, heute Morgen.»

«Was hast du da gesehen?»

Verwundert und doch mit einer Spur Verzweiflung sah sie ihn an. Auch diesen Ausdruck kannte er aus den Gesichtern einiger Leute. Der Polizisten zum Beispiel, die zuerst am Tatort waren, die ihren Augen und Ohren nicht trauen wollten.

«Nichts, was denkst du denn, soll ich gesehen haben? Nur weil sie mich angestarrt hat, soll ich etwas gesehen haben?» Mit erzwungener Belustigung sah sie ihn an. «Du spinnst!», sagte sie entschieden.

Doch er wusste es besser. Vermutlich war es genau so, wie Jasmin sagte. Es gab keinen Ausweg und kein Entkommen.

«Weißte, worüber ich nachgedacht hab?», fragte sie, als sie im Auto saßen.

Natürlich wusste er es nicht, doch er ahnte, dass sie mit ihrem nächsten Satz ihren Finger in eine Wunde stoßen würde. Er erwiderte nichts, doch damit hatte sie wohl auch gar nicht gerechnet.

«Die Trennung von deiner Frau und, na ja, von deiner Tochter, das war doch auch vor vier Jahren … also wart ihr schon getrennt, als der Mord an Thomas Mahler geschah?»

Bruch schloss die Augen zwar nicht, doch alles um ihn herum verschwand, und er fand sich in der Küche der Mahlers wieder. Er vernahm diesen Geruch von Blut und Hirn, den Geruch von kaltem Essen, von zerstoßenen Kräutern, getrockneten Pflanzen, den Geruch Nora Mahlers. Dieses Gefühl kam zurück, das er spürte, als er Mahler am Boden liegen sah. Als hätte der Hammer ihn getroffen, war er wie betäubt, und alles um ihn herum wurde unwirklich. Nicht der Mord, der war so real, wie es nur ging. Der Leichnam, der zerschlagene Kopf, die Frau im Nachthemd, die beinahe zu grinsen schien. Das alles war real, unwirklich wurde ihm in diesem Moment das Leben, das er bis dahin führte. Wie ein Traum, der sich auflöste, sobald man erwachte. Er erinnerte sich, wie der Uniformierte an ihn herantrat, ihm zuraunte, sie behauptete, ein schwarzes Wesen wäre durch die Tür geklettert und hätte den Mann erschlagen. Er erinnerte sich an Simon, der Michael vertrat, Anweisungen gab. Natürlich war es absurd, was die Frau erzählte, es war offensichtlich, dass sie log.

«Felix?», hörte er Schauer fragen.

«Wir waren noch nicht getrennt», sagte er.

«Darf ich fragen, hatte das irgendwie damit zu tun?» Schauer sah kurz zu ihm herüber. Er konnte nicht sprechen in diesem Augenblick. Ja, das hatte es, wäre die Antwort gewesen. Denn im Haus der Mahlers, in dieser Nacht, da war etwas gewesen, das hatte Witterung aufgenommen, war ihm gefolgt ab diesem Moment, auf all seinen Wegen, war zu ihm nach Hause gekommen. Es hatte nachts an seine Fensterscheiben geklopft, hatte an seiner Tür gekratzt. Was ist das, hörte er Conny fragen und sah, wie sie angeekelt einen Schritt wegtrat vom Briefkasten. Es war ihnen nachgelaufen, beim Spaziergang im Winter, hatte sich immer in den Schatten versteckt, wenn er sich umdrehte. Nora Mahler log, das hatte er zu Beginn geglaubt, aber bald wusste er es besser. Denn er sah sie, dunkle Gestalten, die ihn besuchten. Die in der Finsternis darauf lauerten, dass er aus dem Fenster sah, um sich dann kurz zu zeigen. Damit er wusste, sie waren da. Bis er eines Tages verstand.

Jasmin hatte völlig recht. Er kannte sie schon, er kannte die ganze Wahrheit. Sie waren es, die ihn in seiner Kindheit besucht hatten. Die dafür gesorgt hatten, dass er ins Bett machte, dass er sich in der Nacht im Schrank versteckte, dass seine Eltern ihn zu Ärzten brachten. Zwar hatte er kein Bild von ihnen vor Augen, doch er erinnerte sich an ihre Verzweiflung, weil ihr Sohn sich so verändert hatte und wirre Geschichten von finsteren Gestalten erzählte.

Sie waren lange Zeit weg gewesen, doch in dieser Nacht in Nora Mahlers Küche, da hatten sie ihn wiederentdeckt. Hatten seine Fährte wieder aufgenommen, und es gab kein Entkommen vor ihnen.

Was ist?, hörte er Conny fragen, mitten in der Nacht. In meinem Zimmer ist ein schwarzer Mann, flüsterte seine Tochter, und während Conny dem Kind gut zuredete, sie tröstete und ihr erklärte, dass es nur ein schlechter Traum war und es keine schwarzen Männer gibt, da wusste er, dass es an der Zeit war zu gehen. Denn er wusste, sie würden mit ihm gehen.

«Nichts», sagte er. Allein dafür waren die Tabletten gut, dachte er, während sich eine graue dichte Wolkendecke über ihm herabsenkte, dass sie allen Schmerz abtöteten.

 

«Wo müssen wir jetzt hin?», fragte sie.

«Dort links.» Er zeigte auf die nächste Kreuzung. Auf der linken Straßenseite war ein Kino. Sie erkannte es wieder, hier war sie mit Sebastian mal gewesen. Kurz nach ihrer Krebsdiagnose. Sebastian hatte den Film ausgewählt: irgendein Independentfilm, eine Doku, irgendwelche jungen Leute, die ein paar Jahre lang um die Welt gereist waren. Sebastian war ganz geflasht davon gewesen, sie hingegen hatte die Gelegenheit genutzt und zwei Stunden lang leise geflennt. Er hatte es nicht bemerkt, oder so getan. Was hat er sich dabei nur gedacht? Sie glaubte, an Krebs verrecken zu müssen, auf der Leinwand erlebten zwei Leute das Abenteuer ihres Lebens, und er träumte vermutlich davon, dasselbe zu tun.

«Dann wieder rechts. Nach der Eisenbahnbrücke.»

Sie fuhr wie geheißen. Weiter vorn sah sie schon den Streifenwagen. Richtig Platz zum Parken gab’s hier nicht. Konnte ihr egal sein, sie stellte den Wagen einfach in der zweiten Reihe ab. Die Kollegen hatten den Gehweg um ein Tattoostudio weiträumig abgesperrt und damit Neugierige herbeigelockt. Innerhalb der Absperrung, aber einige Meter neben dem Eingang standen eine Frau und drei Männer, allesamt tätowiert an Hals, Händen und auch im Gesicht. Als Schauer und Bruch sich unter der Absperrung hindurchbückten, drehten sie sich um. Allen stand der Schock ins Gesicht geschrieben.

Der Uniformierte neben der Tür grüßte, eine weitere Kollegin kam aus dem Laden, steuerte auf Schauer zu. Für Bruch hatte sie nur ein knappes Nicken übrig. Auch sie kannte ihn wohl schon – Schauer hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, als Erste angesprochen zu werden. Im Grunde alle, die mit Bruch zu tun hatten, wussten, dass es leichter war, mit ihr zu kommunizieren, denn Bruch war im Prinzip in keinem Zustand kommunikativ. Er grüßte nie und sprach kein Wort zu viel. Legte keinerlei Wert darauf, was andere von ihm halten mochten.

«Die junge Frau da hat den Toten entdeckt. Der mit der karierten Jacke war ihr erster Kunde, sie haben gemeinsam den Laden betreten, um elf war das. Vorher war noch keiner da. Sie haben sich wohl zuerst in der Küche einen Kaffee gemacht, haben besprochen, was sie heute stechen wollen, dann sind sie in ihr Studio. Sie bemerkte, dass sie keine Folie mehr hatte, oder Klebeband, und wollte welches aus einem anderen Zimmer holen. Da sah sie ihn liegen.»

«Also war sie drin, ihr Kunde und Sie beide?», fragte Schauer, schaute ihn und seine Kollegin an.

«Genau so. Ich habe nachgesehen, Rettungsdienst ganz zwecklos. Werden Sie gleich selbst sehen.»

«Sie kennen das Opfer?», fragte Bruch, was immer ihn zu der Frage veranlasst hatte.

Die Polizistin griff sich in den Kragen, zog ihn runter, eine Tätowierung am Hals wurde ansatzweise sichtbar. «Ich war oft hier.»

«Gehen wir rein!», bestimmte Bruch.

Drinnen brannte helles Licht, es war warm. Schauer wusste, wie Tattoostudios heutzutage aussahen, saubere helle Räume, kein Vergleich zu den dunklen verrauchten Höhlen früher. Von den Wandbildern abgesehen, meist Werke der Tattookünstler, machte dieses Studio eher den Eindruck einer Arztpraxis.

«Jens Ollmann heißt der Tote», erklärte die Uniformierte, «der ist in der Branche ziemlich bekannt, arbeitet aber selbst kaum noch, lebt hauptsächlich von der Miete, die er kassiert.»

«Der vermietet die Räume an andere Tätowierer?»

«Ja, er hat da hinten sein kleines Refugium, so ein bisschen Büro, Lager, Wohnzimmer und Studio in einem. Aber genutzt wird es kaum, er selbst macht nur wenige Termine im Jahr. Inzwischen bezahlst du einen Haufen Knete, wenn der dir was sticht. Und ehrlich gesagt, war er gar nicht mehr so gut, das ist nur, weil er einen Namen in der Branche hat. Ich glaube aber, er hat den Raum nur, weil er Gesellschaft suchte. Wollte sichtbar bleiben, sozusagen. Da hinten ist sein Raum.» Die Polizistin zeigte auf die hinterste Tür, dann auf zwei andere. «Hier drin waren die beiden von draußen, und da ist die Küche.»

Schauer folgte der Polizistin, Bruch hatte ihnen den Vortritt gelassen. Sie bewegten sich am Rand, bemühten sich, nichts zu berühren.

«Personendaten sind aufgenommen von den Anwesenden?», fragte Schauer.

«Ja, ist erledigt», antwortete die Polizistin. Jetzt blieb sie stehen, ließ Schauer und Bruch vorbei. «Die Tür war zu, sagt die Frau draußen, sie hat die Klinke angefasst, sonst nichts. Licht brannte, sagte sie.»

Schauer sah durch die Tür und bemühte sich, den Schreck nicht zu zeigen, der ihr durch die Glieder fuhr. Trotzdem fuhr sie zurück. «Sie hätten uns ruhig warnen können!», murrte sie leise.

«Ja, Verzeihung», murmelte die Uniformierte.

Bruch schob sich an ihnen vorbei, machte einen großen Schritt nach links in den Raum. «So lag er? Niemand hat ihn angefasst?»

«Ich», sagte die Polizeimeisterin, «am Handgelenk. Ich hab Puls gesucht, der war aber schon kalt. Das da ist mein Fußabdruck!» Sie zeigte darauf.

Jens Ollmann lag am Boden. Er musste um die fünfzig Jahre alt sein. Ein riesiger Kerl, und ganz im Gegensatz zu seinem Laden entsprach er jedem altmodischen Klischee eines Tätowierers. Sein ergrautes Haar war lang und zu einem Zopf gebunden. Auch sein Bikerbart war grau, seine Arme, nackt bis zur Schulter, waren übersät mit alten Tattoos, bar jeglicher Ästhetik, nackte Frauen, Anker, Herzen, Gesichter. Er trug eine ärmellose Jeansweste und Jeanshosen. Auf seiner Stirn klaffte eine Platzwunde, Scherben einer braunen Bierflasche lagen um ihn herum verstreut, der abgebrochene Hals der Flasche lag auf dem Boden. Man hatte sie ihm offensichtlich in den Hals gerammt. Die scharfen Glasränder hatten vermutlich die Aorta getroffen, so wie es aussah, musste er innerhalb von Sekunden verblutet sein. Eine riesige Blutlache hatte sich auf seiner linken Seite ausgebreitet. Sein Hosenbund war geöffnet, die Hose war halb über den Hintern gerutscht, das Geschlechtsteil hing heraus. Schauer konnte eine Tätowierung darauf sehen, ohne zu erkennen, was sie bedeutete.

Bruch beugte sich über den Mann. «An seinen Händen ist kein Blut.»

«Du meinst, der Schlag hat ihn vorher bewusstlos gemacht?», fragte Schauer. «Deshalb hat er sich nicht an den Hals gegriffen?»

Bruch nickte, nun beugte er sich über das Geschlechtsteil des Mannes, betrachtete es aus einem Meter Höhe. «Möglich, dass er Geschlechtsverkehr hatte.»

«Dazu müssen Sie eines wissen», mischte die Polizistin sich ein. «Der ist nicht ganz unbescholten. Hatte über die Jahre ein paar Anzeigen wegen sexueller Belästigung und Nötigung. Die letzte ist fünf Jahre alt. Ihm wurde auch vorgeworfen, Frauen mit K.-o.-Tropfen gefügig gemacht zu haben. Konnte bloß nie nachgewiesen werden. Und es weiß auch jeder hier, dass Ollmann sich mit ein paar Leuten aus einer Bikergang gut versteht, die als schwerkriminell gilt.»

«Also könnte das hier möglicherweise Selbstverteidigung gewesen sein?», mutmaßte Schauer, sah sich um. Das Zimmer war nicht ganz so klinisch und hell wie der Rest des Studios. Hier gab es eine Tätowierbank, ein paar Stühle, eine alte Couch in der Ecke. Bierflaschen standen herum, volle und leere, es roch auch leicht nach Zigarette, als hätte Ollmann gelegentlich eine geraucht. Auf einem niedrigen Schrank hatten sich angerissene Whiskyflaschen angesammelt, ein paar Zeitschriften waren verstreut. Die Wände waren voller Fotografien, Motivvorlagen, Zeichnungen, aber auch behängt mit Bildern von Menschen und Ereignissen aus seinem Leben, es waren Hunderte. Eine altmodische Hi-Fi-Anlage gab es auch, sie war noch eingeschaltet, nur die CD längst abgespielt. Ein ganzer Stapel CD -Hüllen lag da, hauptsächlich Gothic aus den Neunzigern.

Schauer sah sich in Ruhe um, wandte sich dann an Bruch. «Folgende These: Der hatte Besuch, sie haben getrunken, gequatscht, Musik gehört, hier auf der Couch. Er und eine Kundin, oder eine alte Freundin. Irgendwann haben sie sich angenähert, er hat zu viel auf einmal gewollt, oder zu schnell, oder sie wollte gar nicht. Er hat sie überwältigt, sie vergewaltigt. Nachdem er fertig war, ließ er ab, sie nahm eine Flasche und schlug ihn nieder.»

«Warum hat sie ihn getötet?», fragte Bruch.

«Warum …?» Schauer verstummte einen Moment, sah zu der Polizistin, in der sie in diesem Falle eine Verbündete vermutete, und meinte dann sarkastisch: «Ich könnte mir vorstellen, sie wird ein Motiv gehabt haben, oder was sagen Sie?»

«Affekthandlung, hätte ich vielleicht auch gemacht», bestätigte diese und relativierte sogleich «Oder es war gar keine Absicht gewesen. Falls es überhaupt so war. Feinde hatte der genug.»

Bruch war nicht zufrieden. Er blickte sich suchend um. «Wieso liegt er so?»

«Wie? Wo er liegt? Warum er nicht bei der Couch liegt, sondern so mitten im Raum?»

Er hatte recht, Schauer dachte nach.

«Vielleicht war sie auf Toilette», überlegte sie laut, «er hat ihr hinter der Tür aufgelauert. Sie kam rein, er riss sie zu Boden. Rufen wir Frau Doktor Rundweg an und die Spurensicherung. Sehen wir einfach mal in den Terminplaner, wer seine letzte Kundin war. Wissen Sie zufällig, wo er wohnte?»

Die Polizistin nickte und zeigte nach oben. «Dachgeschoss.»

Schauer sah auf die Uhr. «Schlüsseldienst?», fragte sie. «Oder Schlüssel suchen?»

Bruch gab Antwort, indem er in die Hocke ging und mit spitzen Fingern von einer Gürtelöse der Hose einen Karabiner löste, an dem ein Schlüsselbund hing. Die Polizistin kommentierte das, indem sie ihre Augenbrauen hochzog.

Bruch war das egal. «Weisen Sie die Spurensicherung ein, wenn die kommen. Wir sind oben.»

 

Die Wohnung war ein Loch. Nicht grundsätzlich. Eigentlich war es eine schöne Dreiraumwohnung, doch was das Studio unten gut kaschierte und sich nur in Ollmanns Refugium leicht andeutete, wurde hier sichtbar: Der Mann hatte die Kontrolle über sein Leben verloren. Er hatte sich glücklich schätzen können, dass er von seinem Ruf leben konnte und von der Arbeit seines früheren Ichs. Dieser Ollmann, der unten tot in seinem Blut lag, hatte längst aufgegeben, seine Wohnung zu putzen, gesund zu essen, aufzuräumen, sich zu organisieren. Wäre er nicht umgebracht worden, es hätte nicht mehr viel gefehlt, und er hätte sich selbst umgebracht. Er schien auf dem besten Wege dahin. Leere Bier- und Schnapsflaschen überall, wohin sie blickten, Briefe vom Finanzamt stapelten sich ungeöffnet. Die Toilette stank erbärmlich, Badewanne und Waschbecken waren verkeimt.

«Will gar nicht wissen, welches Schicksal dahintersteckt», murmelte Schauer und wusste gar nicht, wo anzufangen in diesem Chaos. Bruch erwiderte nichts, blickte sich um, berührte Dinge, als könnten sie sich ihm allein dadurch mitteilen. Er war wieder merklich wortkarger geworden, bewegte sich mit einer subtilen Trägheit. Wenn es so weiterging, würde er wieder der Bruch sein, den sie vor ein paar Wochen kennengelernt hatte. Der nur das Allernötigste sagte und jede hastige Bewegung vermied.

«Es sollte nicht so schwer sein, herauszufinden, wen der Mann erwartet hatte. Spricht man nicht über so etwas? Wollen wir erst mal wieder hinuntergehen und die Tätowierer befragen?»

Bruch nickte, aber ganz lösen wollte er sich nicht von der Wohnung. Schauer hatte inzwischen gelernt, ihn zu beobachten, es war nicht von der Hand zu weisen, dass er Dinge sah, die ihr vielleicht entgehen würden. Bruch stand eine Weile, ließ seinen Blick umherschweifen, fast war es, als nähme er Witterung auf. Er hatte Gedanken, die er ihr nicht mitteilen wollte. Schauer fragte nicht. Aber er hielt etwas zurück.

 

Der Rest des Tages verlief unbefriedigend. Nach ein paar Stunden am Tatort waren sie noch einmal ins Büro gefahren. Seltsam war es, als wären sie ewig weg gewesen, dabei waren es gerade einmal drei Tage. Auch Simons Bürotür zu passieren, die geschlossen und verplombt war, ein vages Gefühl, kaum greifbar. Jetzt schien sie doch etwas für ihn zu empfinden, auch wenn sie ihn nur ein paar Wochen gekannt hatte. Eine gewisse Fassungslosigkeit war es, dass er tot sein sollte, keine wirkliche Trauer. Und das dumpfe Empfinden, dass dasselbe Schicksal sie ereilen könnte. Die Tür öffnete sich, jemand trat ein, hob eine Waffe, drückte ab. Ob sie in dem Moment so geistesgegenwärtig wäre, nach ihrer Waffe zu greifen? Nicht auszuschließen, dass sie, wie Simon, nur fragend glotzte. Nun saßen sie im Halbdunkeln, nur ihr Computerbildschirm spendete Licht. Sie klickte sich durch Hunderte von Bildern, die sie am Tatort geschossen hatten.

Im Kalender Ollmanns fand sich kein Termin für den vorigen Abend. Von den Tätowierern wusste niemand, mit wem sich der Ladenbesitzer hatte treffen wollen. Sie wussten einzig zu berichten, dass Ollmann oft unten zu übernachten schien. Kein Wunder bei dem Zustand seiner Wohnung. In Ollmanns Telefon befanden sich zwar Tausende Nachrichten, aber keine, die einen Anhaltspunkt geben konnte. Sollte Frau Doktor Rundweg oder die Spurensicherung keinen entscheidenden Hinweis finden, würden sie alle Kontakte abtelefonieren oder besuchen müssen.

Die Gerichtsmedizinerin hatte schnell bestätigen können, dass Ollmann direkt vor seinem Tod oder noch währenddessen Geschlechtsverkehr vollzogen hatte. Zu einer Ejakulation war es nicht gekommen, was darauf hindeutete, dass es während des Aktes zu einem Kampf gekommen war, der in Ollmanns Tod mündete. Laut den Aussagen aller vernommenen Zeugen, was dessen bisherige Sexualpartner betraf, musste man davon ausgehen, dass es sich bei der anderen Person, mit der er Geschlechtsverkehr hatte, um eine Frau handelte. Doktor Rundweg hatte die Abstriche, die das bestätigen sollten, ins Labor geschickt. Eine DNA -Analyse würde ein paar Tage brauchen, doch war sie nur von Nutzen, wenn sie einen passenden Eintrag in einer Datenbank fanden. Ansonsten gab es kaum Spuren, die auf einen Kampf hindeuteten. Möglich, dass Ollmann allein durch seine riesige Statur und Masse nicht viel Schwierigkeiten hatte, sein Opfer zu überwältigen. Dieses hatte ihn jedoch durch den Schlag mit der Flasche überraschen und den Akt zumindest unterbrechen können.

Klemm, der Chef der Spurensicherung, hatte sich auch gemeldet, wies darauf hin, dass es Anzeichen dafür gab, dass Spuren beseitigt wurden. Einige Oberflächen waren frisch gereinigt, benutzte Flaschen abgewischt, einige der CD -Hüllen, der Tisch und die Bank ebenso, auch an der Tür gab es eindeutige Hinweise, dass sie jemand nachträglich abgewischt hatte, selbst der Flaschenhals wies kaum Spuren auf. Klemm machte sich nur Hoffnungen wegen der Scherben der Flasche, die es noch akribisch zu untersuchen galt.

Bruch hatte all diese Informationen schweigend aufgenommen. Schauer fragte sich, ob er in Gedanken schon wieder weiter war als sie.

«War sie so abgeklärt, dass sie daran dachte, Spuren zu beseitigen?», fragte sie ihn.

«Es wird keine neue Bekannte gewesen sein.»

«Du meinst, eine alte Bekannte kam vorbei, sie tranken etwas zusammen. Dann überkam ihn der Trieb?»

Bruch nickte knapp.

«Sie schlägt ihn nieder, sticht ihm in den Hals. Dann sieht sie, dass sie überreagiert hat. Aus Angst vor Konsequenzen wischt sie Tisch und Tür ab und alles, was sie noch so fand?»

Bruch nickte jetzt nur. Die knappste Bewegung.

«Du meinst also, es könnte eine selbst nicht ganz unbescholtene Person gewesen sein? Abgebrüht.»

«Wenn sie sich schon lange in den Kreisen aufhält.»

«Du meinst unter Tätowierern, oder Rockern?»

Bruch nickte.

«Mensch, Felix, kannst du mal Tacheles sprechen? Wenn diese Frau vielleicht selbst schon mal in Konflikt mit dem Gesetz geraten ist, ist es vielleicht sogar möglich, sie über einen DNA -Abgleich zu finden, meinst du das?»

Plötzlich erhob er sich, kam zu ihr. Das war noch ungewöhnlicher. Sie hatte das Bedürfnis, etwas zu tun, aber ihm auszuweichen, wäre ein zu großer Affront gewesen. Sie konnte ihr Misstrauen nicht ablegen. Als er bei ihr war, sog er Luft ein.

«Was ist denn? Riech ich?»

Bruch gab darauf keine Antwort. Er stellte sich rechts neben sie, nahm ihre Computermaus, klickte das offene Bild weg, suchte unter den unzähligen Bildern im Menü ein ganz bestimmtes heraus, eines, das die Rückwand hinter der Couch in Ollmanns Raum zeigte. Dann ging er an seinen Platz. «Ich habe Kopfschmerzen», sagte er leise.

 

«Du hast Schmerzen?», fragte sie sarkastisch und rückte näher an den Bildschirm.

Er hatte Schmerzen. Und begrüßte er sonst jedes Gefühl und jede Regung, diesen Schmerz aber konnte er nicht willkommen heißen. Wie hämmernde Glockenschläge schmetterte er in seinem Kopf. Und was ihm noch schlimmere Pein bereitete, war, dass sie von einer ganz bestimmten, ganz kleinen Stelle in seinem Kopf ausgingen. Und obwohl er wusste, dass es eigentlich unmöglich war, schien es Jasmin Mahler gewesen zu sein, die ihm diesen Schmerz eingepflanzt hatte. Denn schon in der Nacht hatte der Schmerz begonnen, hatte sich gesteigert, bis vorhin, als sie den Toten gesehen hatten.

Und er würde es ihr nicht sagen, aber es stimmte: Schauer roch. Sie bemerkte es nicht. Sie roch nach Anspannung und Schweiß, aber das war es nicht, was ihm auffiel. Sie roch nach Unheil. Er wollte sie gern schützen, doch war er kaum in der Lage, sich selbst zu schützen. Nicht umsonst hatte er sich so verschlossen. Doch dieser Kokon hatte Risse bekommen. Jasmin hatte das erkannt, es ausgenutzt, und etwas war eingedrungen.

«Felix, ich verstehe nicht, warum du mir dieses Bild zeigst», sagte Schauer, nachdem sie es eine Zeit lang studiert hatte.

«Es fehlen …» Er musste seinen Kopf zwischen die Hände nehmen. «… Bilder.» Schon vor Ort war es ihm aufgefallen. Es musste nichts bedeuten. Die Fotos waren mit Tesafilm an die Wand geklebt, das wurde spröde über die Jahre, und der Kleber löste sich. Die Bilder fielen herunter, wurden aufgeklaubt, irgendwo abgelegt. Aber in diesem Fall war es von Bedeutung. Musste von Bedeutung sein.

«Du meinst, sie hat die Bilder abgerissen? Das müsste bedeuten, da waren Bilder von der Täterin. Oder dem Opfer, müsste man ja eigentlich sagen.»

Diese Wortklaubereien, unnötig, zeitraubend. Er nickte, und die Bewegung ließ einen glühenden Spieß in seinen Kopf fahren.

«Das heißt, wir müssen alle Bilder durchsehen, alle Personen identifizieren. Vielleicht hat sie eines übersehen. Gut möglich bei der Vielzahl von Bildern.»

Er konnte nicht mehr reagieren. Er stand wieder auf. Stützte sich an die Wand. «Fahr mich heim», hörte er sich sagen. Dann überkam ihn Schwärze.