«Hast du das mitbekommen?», fragte Schauer Bruch am nächsten Morgen und warf ihm eine Zeitung auf den Tisch.
Bruch reagierte verzögert, nahm die Zeitung, es war eine Bild , und entfaltete sie.
Satansmutter, lautete die große Überschrift, und im Artikel waren sämtliche Fakten wild zusammengetragen, wirkliche, spekulierte und erfundene. Bruch schien ihn zu lesen, zumindest bewegten sich seine Pupillen hin und her. Und davon abgesehen wirkten die recht groß, seine Augenringe waren dunkler, sein Gesicht noch blasser. So wie es aussah, musste er die ganze Nacht unterwegs gewesen sein. Fraglich, ob er nach dem Gerichtstermin überhaupt daheim gewesen war, höchstens, um seinen Wagen zu holen. So konnte das nicht weitergehen.
«Du musst schlafen!», ermahnte sie ihn. «Daran kann man sterben, an Schlafmangel, ohne Quatsch.»
«Ich weiß», sagte er heiser.
«Und, was sagst du?», fragte sie und deutete auf die Zeitung. Die Satansmutter hatte ihre Kinder gequält, sie mit glühenden Zigaretten verbrannt, mit Messern geritzt, von sexuellem Missbrauch war die Rede, von satanischen Handlungen, dass die Kinder gefährliche Kräutersäfte hätten trinken müssen, dass sie gezwungen wurden, kleine Tiere umzubringen, dass der Mann möglicherweise einer satanischen Handlung zum Opfer gefallen sei. Als Beweis wurde Jasmin angeführt, über die man erfahren haben wollte, dass sie auch in ihren Unterkünften satanische Rituale vollzog, Drogen nahm und auf den Strich ging. Weitere Beweise waren Tätowierungen an Nora Mahlers Hals, die sonst nicht zu sehen waren, weil sie immer Rollkragenpullover trug. Irgendein raffinierter oder besonders penetranter Fotograf hatte sie einmal fotografieren können, just in dem Moment, als sie sich am Hals kratzte. Die Fotografie, extrem vergrößert und dementsprechend verschwommen, zeigte ein umgekehrtes Pentagramm und ein anderes Zeichen halb verdeckt, beide kaum größer als Eurostücke.
Bruch sagte nichts dazu. Er schien unentschlossen, was er davon halten sollte. Er schob die Zeitung von sich.
«Du musst leugnen, wenn sie dich fragen», sagte er, und es schien ihm größte Mühe zu bereiten.
Was sollte sie leugnen? Dass sie Informationen von der Wondrak bekam oder dass sie bei den Polizisten gewesen war? «Ich verstehe nicht!»
«Wenn sie dich bestellen. Ich habe gesagt, du warst bei mir.» Es schien, als schliefe er auf der Stelle ein.
«Felix, ich …» Ihr Telefon klingelte. Simons Nummer. Wurde einfach weiter verwendet, als wäre nichts geschehen.
Wenzel musste, solange Simons Büro noch nicht freigegeben war, mit dem kleinen Besprechungsraum als provisorisches Büro vorliebnehmen. Dort empfing er sie, erhob sich dazu nicht, deutete auf den Stuhl seinem Tisch gegenüber.
«Polizeiobermeister Sven Kunath, kennen Sie den?», begann er ohne Umschweife.
Schauer schoss heißes Blut in den Kopf. «Ja», antwortete sie.
«Inwiefern?»
«Der war im Fall Walter Juskat vor Ort. Empfing uns vor dessen Haus, mich und Hauptkommissar Bruch.»
«Darüber hinaus nicht?»
Nun war es an ihr. Du musst leugnen, hatte Bruch gesagt. Sie musste jetzt entscheiden, welchen Weg sie einschlagen wollte. Er war völlig übermüdet, nicht mehr zurechnungsfähig und konnte von alldem nichts wissen, und doch hatte er gesagt, sie sollte leugnen und behaupten, sie wäre bei ihm gewesen. Was bezweckte er damit? Wollte er sie schützen? Sie zu einer von ihnen machen, korrupt, bestechlich, korrumpierbar? Wie stand er da, wenn sie bestritt, bei ihm gewesen zu sein? Wenzel sah sie an.
«Nein», sagte sie.
Wenzel schien damit gerechnet zu haben. Er zögerte keine Sekunde, nahm ein Blatt hervor. «Kunath liegt mit einem doppelten Rippenbruch im Krankenhaus, eine Rippe hat sich in seine Lunge gebohrt. Außerdem ist sein Unterkiefer gebrochen und sein Nasenbein zertrümmert. Dazu ist eine Hand verstaucht, und er hat einige große Hämatome am Körper. Er gibt an, mit Ihnen am vorgestrigen Abend ausgegangen zu sein. In einer Bar in der Neustadt. Anschließend sind Sie mit zu ihm in die Wohnung gegangen. Vielmehr haben Sie ihn aufgefordert, Ihnen die Wohnung zu zeigen.»
Schauer hörte sich das regungslos an, spürte, wie es in ihr zu köcheln begann. Bis jetzt war alles ganz richtig.
Wenzel wartete eine Sekunde auf ihre Reaktion, fuhr dann fort. «Dort, gibt er an, hat er die von Ihnen gesendeten Zeichen wohl falsch interpretiert, ist Ihnen sexuell zu nahe getreten …»
Zu nahe getreten, fuhr sie innerlich auf, das war doch ein Witz. Sie musste nach außen Ruhe bewahren, denn all das konnte ja gar nicht geschehen sein, weil sie bei Bruch gewesen war.
«… er sagt, er hat versucht, Sie zu vergewaltigen. Er hätte Ihnen auf seiner Couch die Arme verdreht. Es wäre ihm gelungen, Ihnen die Hose und den Slip runterzureißen, und er gesteht, es wäre sicher noch mehr passiert, hätten Sie ihm nicht mit einem Hinterkopfstoß die Nase zertrümmert.»
Schauer blieb weiter stumm. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit einem Eingeständnis. Schon bereute sie, gelogen zu haben.
Wenzel hob die Augenbrauen und setzte fort: «Kunath gibt an, er hätte im Bad versucht, die Blutung zu stillen. Währenddessen sei ihm die Tragweite seiner Handlung bewusst geworden, er sei zur Besinnung gekommen.»
Da war’s, dieses Schwein versuchte, noch die Kurve zu kriegen, und wie es schien, fand er bei Wenzel damit schon mal Anklang. Sie musste schweigen, sie hatte gelogen, musste dabeibleiben und an ihrer Lüge festhalten.
«Er sei mit dem Vorsatz in die Küche gegangen, sich bei Ihnen zu entschuldigen. Er wollte Ihnen klarmachen, dass es ein Fehler war, wollte sich entschuldigen und fragen, wie er es wiedergutmachen könnte.»
«Das ist gelogen!», keuchte sie leise.
«Was?»
«Das …», sie atmete durch, «das alles ist gelogen. Frei erfunden.»
Wenzel blieb unbeirrt. «Er sagt aus, sie hätten ihn nicht zu Wort kommen lassen und angegriffen, obwohl er mit verstauchter Hand und zertrümmerter Nase im Prinzip wehrlos gewesen sei.»
Dieses Schwein, dachte sie, dieser Lügner.
Wenzel sah vom Papier auf. «Was sagen Sie dazu?», fragte er.
Die Bilder des Abends tauchten vor ihren Augen auf. Svens Atem in ihrem Nacken, das Ding an ihrem Steiß, das Knacken seiner Nase. Sie in seiner Küche. «Du …» Seine Hand auf ihrer Schulter. «Du, hör mal …» Ihr Ellbogen in seinem Gesicht, in seinen Rippen, der Tritt. «Du, hör mal, ich wollte das nicht …» Möglich, dass sie das nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen. Dachte er vielleicht, eine Entschuldigung hätte es besser gemacht?
«Nichts», sagte sie, gab sich gelassen. «Dazu kann ich nichts sagen. Wann soll das gewesen sein? Gestern?»
«Vorgestern», korrigierte Wenzel. Sie wussten beide, dass sie log.
«Keine Ahnung, was der Typ sich ausdenkt. Wenn er versucht hätte, mich zu vergewaltigen, warum sollte ich ihn dann nicht angezeigt haben?» Sie hatte sich entschlossen. Konnte sein, dass er seine Hand auf ihre Schulter gelegt hat. Dass er etwas hatte sagen wollen. «Du, hör mal, das wollte ich nicht.» Ein weißes Handtuch vorm Gesicht, ganz durchtränkt von Blut. Sie hatte sich entschlossen, dabei zu sein, wo sie sowieso schon drinsteckte. Wenn Bruch ihr schon einmal die Hand reichte, konnte sie diese nicht wegschlagen. Ihr Leben lang hatte sie versucht, immer alles richtig zu machen, korrekt zu sein, von ihren gelegentlichen Ausrutschern abgesehen. Und was hatte es ihr gebracht? Nichts. Vielleicht war es an der Zeit, etwas zu ändern. «Ich war bei Bruch an dem Abend.» Aber Herrgott, was fasste dieser Idiot sie auch noch einmal an, was glaubte er denn, wie sie reagierte, nachdem er versucht hatte, sie zu vergewaltigen?
Wenzel sah ihr lang in die Augen, als könnte er mit väterlichem gütigem Druck die Wahrheit rausquetschen. Tja, dann versuch’s mal.
«Bruch hat das auch ausgesagt, dass Sie bei ihm waren», gestand er schließlich ein.
«Ja, warum auch nicht!» Warum sollte sie hier immer die Dumme sein. Sollte Wenzel sich doch die Zähne ausbeißen.
«Aber warum sollte sich Kollege Kunath so etwas ausdenken?»
«Keine Ahnung, fragen Sie ihn!» Fast hatte sie Spaß daran. Sollte doch dieser junge Schnösel mal fühlen, wie das ist, wenn man ins Leere lief mit seinen Aussagen. Dachte, er kommt davon, wenn er zugibt, dass ihm die Pferde ein bisschen durchgegangen sind. Dachte, er bekommt noch Mitleid, weil sie ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt hat.
«Frau Hauptkommissarin, ist alles gut bei Ihnen?» Wenzel schien tatsächlich besorgt.
«Natürlich, ja.» Lassen Sie ihm doch gute Besserung von mir zukommen, konnte sie sich gerade noch beherrschen zu sagen.
«Sie haben sich ja ordentlich ausgebreitet im Konferenzraum, benötigen Sie Leute, um all die Fotos zu sichten?»
«Ich habe schon darüber nachgedacht», jetzt begann ein hysterisches Kichern ihre Kehle zu kitzeln. War das so einfach? Sie log, Bruch log, und alles ging gut aus? Jetzt war Wenzel sogar noch besorgt um sie? Hatte er schon die Anweisung bekommen, Bruch und alles um ihn herum in Frieden zu lassen? War sie jetzt drin, in dieser Blase? «Ich meine, wir versuchen uns erst einmal einen Überblick zu verschaffen. Wir gehen bei Ollmanns Tod noch immer von einer Notwehrhandlung aus. Ich denke sogar, das Opfer wird sich in den nächsten Tagen melden.»
«Hat das irgendeinen Sinn?», fragte sie nach einer Weile.
Offenbar nicht, sonst fragte sie nicht. Bruch stellte fest, dass er die letzten zwei Stunden zwar die Bilder gesichtet hatte, doch konnte er sich an keines bewusst erinnern, konnte nicht einmal sagen, ob er nicht mit offenen Augen geschlafen hatte.
«Felix?»
Sie schwankte. Zwischen Entschlossenheit und Aufgabe, zwischen Mut und Panik. Er sah ihr den Kampf an. «Sie weiß, wo das Haus ist, hat sie gesagt.» Die Worte kamen aus seinem Mund, als hätte ein anderer gesprochen, nicht er. Auch konnte er sich an die letzte Nacht nicht mehr erinnern, an kaum eine dieser Nächte eigentlich. Nur an den kalten Fahrtwind, an Lichter, die an ihm vorbeizogen. Als hätte ein anderer das Steuer übernommen.
«Das Haus von dem Bild in deiner Kiste?» Sie erhob sich, kam auf ihn zu. «Wer hat das gesagt? Jasmin? Wann?»
Er brachte es nicht heraus. Auch in ihm wurde ein Kampf ausgefochten. Ein Teil von ihm wollte Nicole als eine Freundin, der andere betrachtete sie als Gefahr. Sie tat ihm gut, wusste er, sie half ihm, doch sie war wie eine bittere Medizin, wie eine Spritze, die man sich jeden Tag in die Bauchdecke rammen musste, wie eine schmerzhafte Korrektur, Knochen, die noch einmal gebrochen werden mussten, um sie richten zu können. Er sträubte sich gegen diese Kur.
«Wann, Felix? War sie bei dir, hat sie die Dinge in der Kiste gesehen?» Sie stellte sich ihm gegenüber. «Sie ist nicht mehr bei dir?»
Schauer wusste etwas, das sah er ihr an. Aber nicht genug. «Sie ist gefährlich», brachte er hervor.
«Ja, euretwegen. Ihr habt sie kaputtgemacht, du und Bartko und Simon. Ihr habt das Kind in die Hölle geschickt.»
«Nein, da war sie schon!»
«Felix, ich will sie finden. Wo könnte sie noch sein? Sicher hat sie einen Unterschlupf, zu dem sie immer zurückkehrt, wenn nichts anderes mehr geht.»
«Es gibt noch das Haus, in dem ihre Mutter aufgewachsen ist. Das ihrer Großmutter gehörte.» Nein, das war nicht er, der sprach. Er hatte schweigen wollen.
«Weißt du, wo es ist?»
Er kämpfte dagegen an, doch etwas zwang ihn zu nicken.
Sie fuhr, musste sich darauf verlassen, dass Bruch ihr den richtigen Weg zeigte. Das Haus, in dem Nora Mahler groß geworden war, lag offenbar nicht weit entfernt vom Gartengrundstück der Schuberts, zumindest in derselben Richtung.
Bruch wies ihr den Weg in eine größere Wohnsiedlung. Zwar gab es hier gelegentlich Häuser, die erst in den letzten zwanzig Jahren erbaut worden waren, doch hauptsächlich waren es ältere Gebäude, die hier standen. Die Grundstücke waren relativ groß.
Sie wusste ohne Bruchs Hilfe, welches das richtige Haus war, als sie in die hinterste Straße der Siedlung einbogen. Als einziges Grundstück war es völlig verwildert, Büsche wuchsen hoch, Brombeergestrüpp hatte sich weit ausgebreitet, umwucherte Tannen und Kiefern, hatte sich das Haus fast schon einverleibt, so ähnelte es dem Haus der Mahlers sehr. Eine Garage war so zugewachsen, dass sie nicht mehr nutzbar war, müsste erst freigeschlagen werden. Das Haus hockte feucht und träge, wie eine fette Kröte, in der Mitte des Grundstücks. Allein der Anblick ließ die beste Laune in Depression umschlagen, und dabei hatte sie gar keine gute Laune.
Schauer stellte den Wagen direkt vor dem Grundstück ab und atmete tief durch. Es schien kein Ende zu nehmen. Als ob sie in einem immerwährenden Albtraum steckte.
Als sie die Tür öffnete, sah er auf, machte aber keine Anstalten, sich abzuschnallen. «Kommst du mit?», fragte sie ihn.
Sah man es ihm nicht an? Sah sie nicht, wie ihn der Schlag getroffen hatte, wie es ihm die Luft aus der Lunge presste?
Er nickte, öffnete seine Tür, tastete mit dem Fuß vorsichtig nach dem Boden. Nur weil Schauer nicht ins Bodenlose gestürzt war, stieg er aus. Schon hatte sie das Grundstück betreten. Er wollte sie aufhalten, bremsen. Wollte ihr sagen, dass es nicht gut war, hier zu sein. Denn er wusste es. Seit ein paar wenigen Sekunden wusste er es wieder. Es war nicht gut, hier zu sein. Ihm war, als hätte sich in seinem Geist gerade eine Tür geöffnet, eine Tür zu seinen frühesten Erinnerungen, doch es schien die Tür zu einem finsteren Verlies, das er nicht betreten wollte.
«Wollen wir uns mal umsehen?», fragte Schauer ihn laut und ging bereits zur Einfahrt.
Er ging zu ihr, sie sollte hier nicht rumschreien. «Was erhoffst du dir?», fragte er und wunderte sich, dass sich kein Schlund auftat, dass dieses Haus nicht in Bewegung geriet, wie ein Tier, das hier Jahre, Jahrzehnte gelauert hatte und dem sie nun als Beute direkt vors Maul liefen. Hier war Nora Mahler aufgewachsen, hier war etwas mit Nora geschehen, das sie zu der Frau gemacht hatte, die sie heute war.
Schauer zuckte mit den Achseln, sah nichts, verstand nichts, war ganz arglos. «Jasmin finden.»
Wie sollte er ihr deutlich machen, dass sie dieses Haus nicht betreten durften, was konnte er tun? Denn alles, was er sagte, würde sie nur noch mehr animieren.
«Kannst auch hierbleiben», bot sie an, doch er schüttelte den Kopf, winkte ihr zu gehen. Er wollte nicht in dieses Haus, doch er durfte sie nicht allein gehen lassen. Wenn er von irgendeinem Menschen Hilfe erwarten konnte, dann von ihr. Von allen Menschen schien sie die Ehrlichste zu sein. Von allen Menschen die Einzige, die offenbar wirklich nur Gutes von ihm wollte.
Er schüttelte den Kopf, deutete dann mit der Hand an, sie sollte vorangehen. Schauer zögerte, eine ältere Frau war aus dem Nachbarhaus gekommen. Es sah aus, als hätte sie sich nur einen Mantel übergeworfen und hastig ein Paar Schuhe angezogen, die gar nicht zur Jahreszeit passten. Und sie steuerte direkt auf sie zu. Also gut, wappnete sich Schauer.
«Da wohnt niemand!», rief die Alte schon aus der Ferne.
«Bitte?»
«Da wohnt niemand, seit zehn Jahren etwa.» Nun war die Frau herangekommen.
«Ja, und?»
«Sie müssen hier nichts nachsehen. Da gibt es nichts zu sehen.»
«Wir sind von der Polizei.» Sie müsste mit der Frau gar nicht diskutieren.
«Ja, das habe ich mir schon gedacht, aber glauben Sie mir nur, da gibt es nichts zu sehen. Die Irmischs sind beide verstorben, seitdem steht das Haus leer.»
«Das können Sie ja gar nicht einschätzen.»
«Hören Sie.» Die Frau wandte sich an Bruch, doch anstatt weiterzusprechen, stutzte sie. Bruch starrte sie ausdruckslos an. Nach einigen Augenblicken drehte sich die Frau wieder zu ihr um, ohne zu erkennen zu geben, was sie stutzig gemacht hatte. «Hören Sie, hier ist nichts. Besser, es bleibt so.»
«Kannten Sie die Besitzer?»
«Natürlich. Ja.»
«Kannten Sie auch Nora Mahler?»
Die Frau nickte. «Bitte belassen Sie es dabei.»
«Was wissen Sie denn über Frau Mahler?»
Die Alte sah sich wieder zu Bruch um, als wäre ihr ein Gedanke gekommen, den sie sogleich kopfschüttelnd wieder verwarf. «Sie war kein gutes Kind. Sehr seltsam.»
«Wie, seltsam? Wie, kein gutes Kind?»
«Ach, sehr … schon als sie noch klein war. Da gab es Situationen … Stand manchmal regungslos im Garten, in der Sonne. Bekam richtigen Sonnenbrand.»
«Stand einfach in der Sonne?»
«Ja, oder im Regen, ohne Jacke, bis ihre Mutter sie reinholte. In der Schule sprach wohl kaum jemand mit ihr. Aber hören Sie …»
«Und? Da ist noch mehr, oder?»
Die Frau öffnete den Mund, dann sah sie wieder zu Bruch. «Sagen Sie …»
Bruch starrte, ohne zu blinzeln. Er zeigte keine Reaktion, kein Erkennen, doch Schauer wurde in diesem Moment klar, dass diese Frau ihn kannte. Die alte Frau war sich nur nicht sicher, oder besser, sie schien es nicht glauben zu können.
«Was war mit Nora Mahler?», hakte Schauer nach.
«Manchmal stand sie bei uns vor der Tür. Einfach so. Klingelte nicht. Ich wollte hinaus, und da stand sie, ich wusste nicht, wie lang schon. Und einmal, da sah mein Mann aus dem Fenster, in der Nacht, da stand sie auf unserem Grundstück. Einfach so. Starrte in den Wald.»
«Dahinter ist ein Wald?», fragte Schauer, von hier war das nicht zu erkennen, das Haus und das übermannshohe Gestrüpp versperrten die Sicht. «Haben Sie mit den Eltern gesprochen? Mit Noras Mutter?»
«In dieser Nacht habe ich meinen Mann rübergeschickt. Er ging gar nicht gern, sag ich Ihnen. Er hat die Eltern geweckt, musste ewig klingeln, als wollten sie nicht aufmachen. Er sagte ihnen, dass Nora auf unserem Grundstück steht. Da wollten sie gar nichts machen. Die tut doch nichts, haben die gesagt. Stellen Sie sich das vor. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind steht mitten in der Nacht draußen, auf dem Nachbargrundstück, und Sie wollen nichts dagegen tun. Die hatten Angst, sag ich Ihnen, vor dem eigenen Kind. Deshalb sag ich Ihnen, belassen Sie es dabei. Gehen Sie da nicht rein.»
«Aber Nora ist doch im Gefängnis.»
«Sehen Sie.» Jetzt sah sie Bruch an. «Ich könnte mich irren, aber … Felix, nicht wahr?»
Bruch sah auf, als nahm er die Frau jetzt erst wirklich wahr.
«Bist du nicht mit ihrer Schwester in eine Klasse gegangen? Mit Hannah?»
«In dieselbe Schule. Sie war älter», sagte er leise.
Sie kannten sich, verstand Schauer in diesem Moment, Bruch und Nora Mahler kannten sich. Das warf sie fast um. Das ließ sie schon wieder zweifeln. Warum hatte man ihr das nicht gesagt? Warum hatte Bruch das verschwiegen? Oder wusste er das nicht mehr, war es ihm gerade eingefallen? War das der Grund, warum er das Haus nicht betreten wollte?
«Aber du wohntest da drüben, das muss über dreißig Jahre her sein. Ich sehe dich als kleinen Jungen vor mir, und dann warst du …» Die Frau verstummte.
Weg, beendete Schauer den Satz für sich. Bruch hatte hier gewohnt. Als Kind mit seinen Eltern. Er kannte Nora Mahler. War mit ihrer Schwester Hannah in dieselbe Schule gegangen. Zumindest die erste Klasse musste er hier noch besucht haben. Dann starben seine Eltern. Bruch sah aus, als würde er gleich das Bewusstsein verlieren. Hatte er das alles nicht mehr gewusst? Völlig vergessen? Eine Welle von Mitleid übermannte sie. In diesem Moment bereute sie jeden schlechten Gedanken über ihn.
«Felix?», fragte sie besorgt. Dabei war ihr selbst übel.
«Und dieses Haus steht leer, seit Noras Eltern starben?»
«Ja, seit ihre Mutter starb. Und deren neuer Mann. Selbstmord, sagte man.»
«War er nicht Hannahs Vater?» Die Alte hatte es so seltsam ausgesprochen.
«Nein, nein, ihr Vater ging weg, eines Tages. Hat sie einfach verlassen. Da war Hannah wohl zehn oder so. Niemand weiß, ob sie da den anderen schon hatte, Noras Vater also, aber der zog hier schon wenige Wochen später ein.»
Also hatten Hannah und Nora verschiedene Väter, rekapitulierte Schauer. «Wollte niemand hier einziehen? Weder Nora noch Hannah? Und nicht einmal verkaufen? Das war doch sicherlich einiges Geld wert.»
«Sie sehen ja, offenbar nicht. Manchmal glauben wir ja, da ist noch jemand.»
«Der da wohnt?», keuchte Schauer.
Jetzt kniff die Nachbarin die Lippen zusammen, denn gerade hatte sie noch gesagt, es gäbe hier nichts zu sehen. «Nicht immer, manchmal, eher selten», gestand sie ein.
Jasmin, dachte Schauer. Sie sollten hineingehen und nach ihr suchen, sicher gab es einen Zugang. Doch Bruch schwankte, konnte jeden Moment umfallen, streckte sogar die Hand nach dem Auto aus, um sich festzuhalten, und sicherlich würde sie nicht allein hineingehen.
«Du kennst diese Frau?», fragte sie Bruch im Auto. «Du hast hier gewohnt? Hier in der Siedlung, oder wo?»
Bruch hob den Blick an. «Da drüben in dem Haus.»
Schauer betrachtete das Haus schräg über der nächsten Kreuzung. Es war bewohnt und modernisiert. Der Garten säuberlich gepflegt.
«Bis du sechs warst, fast sieben, sagtest du? Danach kamst du zu deinen Großeltern?»
Er sah sie mit einem fast verzweifelten Gesichtsausdruck an, verzweifelt vermutlich, weil sie nicht verstehen wollte. «Das alles hier war verschwunden. Als ich dieses Haus sah, löste es in mir etwas aus, ein dumpfes Angstgefühl.»
«Du fühlst Angst?», fragte sie, und es war gar nicht sarkastisch gemeint. Er bemerkte es gar nicht.
«Es ist keine Angst, die ich jetzt verspüre, sondern eine Erinnerung daran. Ich habe vor diesem Haus Angst gehabt.» Er zeigte auf das Haus, in dem Nora und Hannah groß geworden waren. «Ich hatte vor dem Weg zur Schule Angst, weil ich an diesem Haus vorbeimusste. Noras Schwester nahm mich bei der Hand, Hannah, sie war älter als ich, zwei, drei Jahre.» Schauer betrachtete Bruch verstohlen, sie wagte sich kaum zu rühren, da sie fürchtete, jede Bewegung könnte seinen Redefluss unterbrechen. «Ich stand an der Kreuzung da und wagte mich nicht weiter. Ich musste allein gehen. Ich stand und wagte mich einfach nicht weiter. Hannah kam und nahm mich bei der Hand. Aber da war Furcht. Mein Leben war von Furcht erfüllt.»
«Erinnerst du dich an deine Eltern?», wagte sie zu fragen, nachdem er doch verstummt war.
Bruch starrte eine Weile ins Leere. «Nein. An die Frau, mit der wir gerade sprachen, erinnere ich mich, jetzt. Sie jagte einmal andere Kinder weg, die über den Zaun klettern wollten, ihren Ball holen. Ich sah es aus meinem Fenster.»
«Felix, wie starben deine Eltern?»
«Ein Unfall. So hat man es mir gesagt.»
«Wo warst du?»
«Ich weiß es nicht.»
Vielleicht war er dabei gewesen? Ein Unfall, sie starben, er erlitt eine Amnesie?
«Und dann?»
«Bis ich die Schule verließ, ist alles wie im Nebel. Ich habe einige Bilder vor Augen, höre Worte, die ich in keinen Zusammenhang mehr bringen kann. Ich weiß nicht, was ist echt, was falsch. Und selbst danach scheint mir alles verschwommen, lückenhaft, vieles bekomme ich jetzt nicht mehr logisch zusammengesetzt. Ich erinnere mich an die Zeit, in der ich mit Cornelia zusammen war und unser Kind auf die Welt kam. Aber wie ich Cornelia kennenlernte, ich weiß es nicht mehr genau.»
«Dieses Paket hat ausgelöst, dass dir das bewusst wurde?»
«Mir war schon immer bewusst, dass mir ein Teil meiner Erinnerungen fehlt. Als ich das Paket öffnete, das Bild von dem lila Haus sah, löste es in mir eine Unruhe aus, einen Zwiespalt, als würde sich gelegentlich ein Teil von mir abspalten und die Kontrolle übernehmen. Ich wusste, ich bin nicht der Mensch, der ich eigentlich war oder hätte sein sollen.»
«Felix, dafür gibt es Ärzte!», mahnte sie leise. Dies hier war nichts als eine schwere psychosomatische Störung oder wie auch immer das hieß, Schizophrenie, Paranoia, Persönlichkeitsstörung.
«Meine Großeltern führten ein Heim», sagte er. Langsam, als glaubte er sich selbst nicht. «Ein Waisenhaus. Eine große Villa im Wald. Ich erinnere mich an dunkle Gänge. Eichenholz. Kälte. Immer nur Kälte. Mehr nicht. Ich war eines von vielen Kindern.»
«Deine Großeltern führten ein Waisenhaus?», musste Schauer nachfragen.
Er nickte nur.
«Und dann? Du warst im Waisenhaus, bei deinen Großeltern.» So viel wollte sie fragen, wohnten sie da? Musste er mit den anderen Kindern wohnen? Fuhren sie gar am Wochenende nach Hause, und er musste im Heim bleiben? Sie durfte ihn jedoch nicht überfordern. «Was kam danach?»
«Es brannte ab.»
«Das weißt du?», staunte sie.
Er drehte seinen Kopf und sah sie an. «Es fällt mir jetzt ein. Eines Tages brannte es. Da war ich fast schon erwachsen. Einige starben.»
«Deine Großeltern?»
«Die nicht.»
«Dieser Teddy in der Kiste, der ist angesengt. War das deiner oder der eines anderen Kindes?» Es war ihr herausgerutscht, und es war zu viel gewesen, sie sah es ihm augenblicklich an. Er schwieg.
«Felix, diese Frau, die anruft, ist das deine Großmutter?»
«Nein. Das ist eine Ärztin. Ich habe es dir bereits erzählt.»
«Seit wann bekommst du diese Tabletten?»
Bruch dachte nach, kam wohl zu keinem Schluss. Sie selbst aber hatte eine Idee. «War es zur selben Zeit, als du die Kiste bekamst?»
In Bruchs Gesicht ging etwas vor. Hatte sie ins Schwarze getroffen? Er straffte sich plötzlich, sein Gesichtsausdruck veränderte sich. «Genug jetzt.»
Schauer widersprach nicht. «Fühlst du dich in der Lage, dieses Haus zu betreten?», fragte sie ihn jedoch.
«Sie ist nicht hier, es sind keine Spuren im Schnee.»
Er hatte recht, doch sicher bestand die Möglichkeit, von der Rückseite ans Haus zu kommen. Doch Bruch wollte nicht, das war offensichtlich. Er würde das Haus mit Sicherheit nicht betreten, nicht heute. Schauer warf noch einmal einen Blick auf das Gebäude. Stand sie da? Beobachtete Jasmin sie durch eines der blinden Fenster? Sicher hatte sie längst mitbekommen, dass hier draußen etwas vor sich ging, und war verschwunden oder hatte sich versteckt.
«Na gut, was soll’s?», sagte sie und startete den Motor.
«Wo fahren wir hin?», fragte Bruch nur wenige Minuten später, als sie auf dem Weg zurück unvermittelt abbog.
Alles oder nichts, dachte sie sich. «Ich will jemandem einen kurzen Besuch abstatten.» Schon tauchte das Grundstück der Schuberts vor ihnen auf.
«Das ist keine gute Idee», sagte Bruch. Er wusste anscheinend, wer hier wohnte. «Kehr um, lass sie in Ruhe.»
«Ich war schon hier, habe mit ihnen gesprochen. Schubert hat mir erzählt, dass neben dem toten Thomas Mahler in der Küche ein Molch gelegen hätte, und Nora hat das Tier mit dem Hammer erschlagen. Er sagte, man habe den Molch aus seinem Protokoll gestrichen und ihn nie wieder erwähnt. Und ich soll auf die Molche achten, sagte Helens Vater. In derselben Nacht starb er. Und wieso weiß der überhaupt davon? Ich sag es dir, wahrscheinlich haben Michael und seine Frau in seiner Gegenwart darüber gesprochen, der war da schon dement, die dachten, der merkt das eh nicht! Und am selben Tag, als Helens Vater das zu mir sagt, fand ich diese Viecher in meinem Briefkasten. Und am nächsten Tag in Jasmins Bett in Mahlers Haus. Und hier kriecht eine schwarze Gestalt übers Dach, und ich fliege vor Schreck rücklings auf meinen Arsch. Mir ist das jetzt endlich genug. Ab jetzt machen wir, was ich sage.»
Sie hielt am Straßenrand. «Komm!»
Bruch zögerte eine Sekunde und stieg dann aus. «Hier ist etwas geschehen», sagte er.
«Was …?» Sie verstummte, trat ans Gartentor. Es stand offen. Genau wie die Eingangstür zur Laube.
«Geh nicht rein», sagte Bruch.
Schauer öffnete das Tor ganz, betrat das Grundstück. Sie gab sich gelassen, doch das Herz schlug ihr bis zum Hals. «Herr Schubert?», rief sie aus etwa zehn Metern Entfernung. Sie hörte leise Schritte. Bruch folgte ihr, doch Schuberts rührten sich nicht. Schauer lief bis zur Eingangstür der Laube. «Hallo?», rief sie hinein. Sie zog ihre Pistole, betrat das Haus. Bruch folgte ihr weiter, doch seine Waffe zog er nicht. Das Wohnzimmer war leer, das kleine Bad auch, ebenso das Schlafzimmer. Die Betten waren gemacht, alles ganz säuberlich, ohne Falten. Durch das rückseitige Fenster sah sie eine Gitterbox. Sie trat näher ans Fenster und blickte hinaus. Es war ein Hundezwinger. Die Tür war zu.
«Sie hatten es eilig», sagte Bruch. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand alles angerichtet für ein Abendessen. Teller, Besteck, Butterdose, das Gurkenglas und eine Wurstdose standen offen, die oberen Wurstscheiben waren bräunlich angelaufen und wölbten sich.
Schauer sah ins Bad, der Toilettendeckel stand offen, Urin im Becken, nicht gespült. Schuhe lagen im Vorraum, die Jacken hingen an der Garderobe.
«Sie sind mit Hausschuhen hinaus», stellte sie fest, sah Bruch ratlos an. «Ihre Jacken hängen hier. Felix, sind die einfach davongelaufen? Wieso läuft man einfach davon? In Hausschuhen und ohne Jacke bei dieser Kälte? Die müssen seit gestern Abend weg sein oder länger, und die Tür stand offen und vorn das Tor? Felix, sag was!»
Bruch sagte nichts. Er trat an den Esstisch, nahm das Gurkenglas, hielt es so, dass sie es sehen konnte. Sie musste nahe herantreten, um zu erkennen. Zwischen den dunkelgrünen sauren Gurken schwamm ein toter Molch.
Schauer schluckte schwer. Konnte sich die Panik nicht ausmalen, die die beiden erfasst haben musste, als sie den beim Abendbrot entdeckten. «Ich will etwas nachsehen», brachte sie heiser hervor.
Bruch folgte ihr ums Haus, zum Zwinger. Sie musste nicht nahe herantreten. Schuberts Schäferhund lag auf dem Boden. Er war tot. Nicht erst seit ein paar Stunden. Eingefallen, wie er aussah, das Fell noch voll Schnee, lag er Tage hier oder Wochen, so lange vielleicht, wie eine Zeugenvorladung vor einem Gerichtstermin verschickt wurde.
«Felix», flüsterte sie. «Es ist Zeit, die Wahrheit zu sagen! Was hat Piotrowski gesagt? Was hat er gesehen? Der war’s, hat Jasmin gesagt, als er mit ihr im Wohnzimmer saß, und zum Fenster gezeigt. Was hat er gesehen? Felix, als ich hier war, mit Schubert sprach, da hämmerte es plötzlich an die Tür, und dann kratzte jemand übers Dach. Als ich nachsah, da lag eine schwarze Gestalt da. Ich bin vor Schreck runterfallen. Die sah noch zu mir herunter und verschwand dann.»
Bruch schien nicht verwundert. Stellte weder diese Information noch ihren Geisteszustand infrage.
«Felix, was war das? Was, wenn es stimmt, was Nora sagte, dass eine schwarze Gestalt ihren Mann erschlagen hat? Sag was!»
«Ich kann nicht», sagte er leise, «aber ich will dir etwas zeigen», fügte er hinzu, ehe sie aus der Haut fahren konnte. «Wir müssen zu mir fahren, dann ins Büro. Oder besser zu dir.»
«Zu mir?»
«Ich habe keinen Computer.»
«Also, es ist vielleicht nicht perfekt aufgeräumt …» Ach, was redete sie, als ob es den interessierte. Schauer schloss ihre Wohnung auf und ließ Bruch eintreten. «Im Wohnzimmer liegt mein Laptop.»
Bruch blieb im Flur stehen. Er sah sich nicht um, wie es sonst wohl jeder tun würde, der eine fremde Wohnung betrat. Er stand einfach und wartete, bis sie ins Wohnzimmer ging, dann erst folgte er ihr. Sie klappte das Gerät auf, ließ es hochfahren. Dann nahm sie die CD -ROM aus der Tasche, die Bruch aus seiner Wohnung geholt hatte.
«Was ist das, woher ist die?», fragte Schauer.
«Jemand hat sie anonym der Polizei zugesendet, kurz nach Thomas Mahlers Tod. Man hat sie ausgewertet und als nichtig abgetan», erklärte er.
«Dir aber war es wert, sie aufzuheben?»
«Michael hat sie aufgehoben, ich habe sie in seinen Sachen gefunden.»
Schauer öffnete das Laufwerk und entnahm ganz beiläufig die noch darin liegende CD , auf der die Verhöre mit Jasmin gespeichert waren. Zum Glück war sie nicht beschriftet. Sie legte Bruchs CD ein, auf der mit einem schwarzen Eddingstift Narclab geschrieben stand. Ohne ihren leicht veralteten Laptop mit Laufwerk, stellte sie fest, wäre sie in den letzten drei Tagen aufgeschmissen gewesen. Die aktuellen Modelle hatten so was gar nicht mehr eingebaut.
Schauer wartete, bis die Datei sich öffnete. Diesmal war es nur ein Video. Es begann mit einer sehr verwackelten Aufnahme, deren Schärfe sich immer wieder von selbst verstellte. Sie zeigte Plastikbehälter, die allesamt gleich aussahen. Graue Schalen mit durchsichtigem Gehäuse, oben offen, aber so gewölbt, dass ein Entkommen unmöglich war. Heu lag in ihnen, eine Trinkflasche hing an der Seite, in einem Futterspender lagen kleine Pellets, jeweils eine weiße Ratte in jedem der Behälter. Die Person mit der sicherlich versteckten Kamera lief eine ganze Reihe dieser Behälter ab. Nun trat sie ganz beiläufig an einen Tisch, an dem eine weitere Person im weißen Kittel stand, deren Gesicht nicht zu sehen war. Diese entnahm einem der Behälter eine Ratte, musste dazu einen dicken Handschuh tragen, gleich einem Asbesthandschuh der Feuerwehr, denn die Ratte begann sich bei der ersten Berührung sofort zu wehren, wand sich und biss. Als sie zu einer anderen Ratte in einen Behälter gesetzt wurde, griffen sich die beiden Tiere sofort gegenseitig mit einer Heftigkeit an, die es der Person im Kittel unmöglich machte, sie zu trennen. Die Tiere kämpften mit einer Vehemenz, bluteten alsbald so sehr, dass selbst der Sieger dieses Kampfes mit tödlichen Verwundungen verenden musste.
Das Video war stumm, doch die Person im Kittel schien etwas zu erklären, deutete mit dem Handschuh auf verschiedene Behälter, woraufhin die Person mit der Kamera versuchte, eine Aufnahme von ihnen zu machen. Es gelang nur schlecht, möglicherweise war die Kamera in der Brusttasche eines Kittels installiert, doch immerhin konnte Schauer erkennen, dass in mehreren dieser Behälter schon tote Ratten lagen oder gerade zuckend verendeten.
«Das kann alles bedeuten und überall sein», kommentierte Schauer das Gesehene. «Nirgendwo hab ich einen Hinweis auf Narclab gesehen.»
«Wenn du genau hinsiehst, erkennst du einen Kugelschreiber, auf dem Narclab steht.» Bruch setzte das Video zurück und zeigte auf betreffende Stelle.
Das musste auch nichts weiter bedeuten, dachte sich Schauer. Einen Kugelschreiber konnte man mitgenommen, ihn geschenkt bekommen oder gefunden haben. Doch vorerst schwieg sie. Inzwischen hatte es einen Schnitt gegeben, das Labor sah anders aus, die Versuchsanordnung hatte sich verändert. Zwei Mitarbeiter, mit ihren Haarnetzen, Gesichtsvisieren und in ihren weißen Kitteln nicht einmal als Mann oder Frau zu erkennen, entnahmen je eine Ratte aus den Behältern, sie spritzten ihnen eine geringe Menge eines farblosen Mittels in den Nacken und setzten sie zusammen in einen größeren Behälter, wo die Tiere zuerst gänzlich unbeeindruckt die Wände und sich gegenseitig beschnupperten, dann langsam träge wurden, bis sie schließlich leicht zu zittern begannen und umfielen. Nach wenigen Sekunden jedoch erwachten sie wieder. Zuerst eine Ratte, dann wenige Augenblicke später die andere. In derselben Sekunde gingen sie aufeinander los. Es gab einen Schnitt. Nun wurde nur eine Ratte geimpft und zu einer anderen gesetzt. Sie durchlief dieselben Phasen, doch als sie erwachte, blieben beide Ratten friedlich. Die zweite Ratte wurde daraufhin geimpft, durchlief ebenso alle Phasen. Als sie aus dem Sekundenschlaf erwachte, sprangen sich beide Ratten wieder voller Aggression an. Wieder gab es einen Schnitt im Video.
Dieser nächste Teil des Videos war ganz offen aufgenommen. Nun gab es auch eine Tonspur. Eine Frau führte von einem Parkplatz in ein freudloses Betongebäude hinein, sprach englisch mit starkem Akzent. Offenbar betraten sie eine Auffangstation für Menschenaffen, die von Niederländern geführt wurde. Durch eine große Glasscheibe im Gebäude konnte man auf ein recht großes Freigehege blicken, das in mehrere kleine Abschnitte unterteilt war, in denen je ein Schimpanse saß. Man hatte sich Mühe gegeben, einen natürlichen Lebensraum nachzuempfinden, soweit es der Platz hergab. Die Mittel waren begrenzt, verstand Schauer, man lebte von Spenden, offenbar befanden sie sich in Spanien, des Klimas wegen. Die Frau erklärte ganz sachlich, dass all diese Tiere aus Laboren in ganz Europa stammten, dass man mit ihnen meist medizinische Forschung betrieben hätte. Viele Tiere saßen apathisch, manche turnten in ihren Gehegen oder schliefen, manche hatten zueinandergefunden, saßen in Grüppchen wie verstörte Kinder. Man konnte Einzelheiten nicht gut erkennen, meist blendete das Sonnenlicht im Glas. Doch diese Tiere in den Außengehegen waren nicht relevant, die Führerin kündigte an, die schweren Fälle zeigen zu wollen, führte den Besucher mit der Kamera in einen Abschnitt, der wie ein Hochsicherheitstrakt im Gefängnis gesichert war. Dort hockten in verschiedenen Käfigen, in denen es keine losen Gegenstände gab, sondern nur angeschweißte Metallstangen oder Plattformen, einzelne Tiere. Es handelte sich um Männchen und Weibchen gleichermaßen, erklärte die Führerin. Sie machten allesamt körperlich einen sehr schlechten Eindruck, die meisten waren ganz nackt, voller Narben von verheilten Verletzungen. Die meisten zeigten seltsames Fehlverhalten. Eines der Tiere drehte sich dauerhaft im Kreis, eines schlug zwar nur leicht, aber doch ausdauernd mit den Fingerknöcheln gegen das Panzerglas und tat das wohl schon so lang, dass die Finger bis auf die Knochen wund waren und das Glas voller Blutflecken. Ein anderes Tier starrte nur auf den Boden. Die Führerin erklärte, dass es ganz unmöglich sei, speziell diese Tiere zu sozialisieren, während man mit anderen durchaus schon gute Erfahrungen gemacht hätte. Zum Beweis bediente sie eine Zugvorrichtung, mit der sich zwischen zwei Gehegen ein Schieber öffnete. Normalerweise wäre das ein Durchgang, erklärte die Frau, sie hätten ihn aber mit einem schweren Gitter verschweißen müssen.
Kaum hatte sie den Schieber hochgezogen, erwachten beide Tiere rechts und links aus ihrer Lethargie, rasten schreiend und kreischend auf die Öffnung zu und hätten sich zweifellos angegriffen, hätte das Gitter dazwischen sie nicht voneinander abgehalten. Schnell ließ die Frau den Schieber wieder hinab, und in dem Moment, als die Tiere sich aus den Augen verloren, verschwand auch ihre Aggressivität. Diese Tiere seien aus Deutschland, erklärte sie, und es hörte sich wirklich an, als nannte sie den Namen Narclab. Schauer setzte das Video ein paar Sekunden zurück, hörte es sich noch einmal an und noch einmal. Dann ließ sie es weiterlaufen. Nun wurde eine Videosequenz gezeigt, deren Qualität schlechter war, vermutlich von einem Pfleger selbst aufgenommen, in einer Zeit, als Handykameras noch nicht so gut waren wie heutzutage. Zuerst war das Bild extrem verwackelt, der Ton setzte erst kurze Zeit später ein und machte das Ganze dadurch umso erschreckender. Ganz unvermittelt war wildes Kreischen zu vernehmen, infernalisches Affengebrüll, metallisches Klirren und Scheppern. Pfleger rannten aufgeregt durchs Bild, riefen sich Anweisungen zu, stritten, jemand weinte. Endlich richtete sich die Kamera aufs eigentliche Geschehen. Zwei Schimpansen kämpften miteinander. Sie bissen sich, rissen sich an den Gliedmaßen, an den Ohren. Sie brachen sich Knochen, schlugen wild aufeinander ein, fügten sich schreckliche Wunden zu und gaben doch beide nicht auf. Die Pfleger konnten nichts tun. Auch als einer von hinten durch die Käfiggitter mit dem Wasserschlauch spritzte, hielt es die Tiere nicht davon ab, sich gegenseitig umzubringen. Stattdessen lief das Blut nun durch den ganzen Käfig, ließ die Tiere auf dem feuchten Boden stürzen. Eins behielt schließlich die Oberhand, drosch, begleitet von irrsinnigem Gebrüll, auf das andere ein, so lange, bis es offensichtlich tot schien. Dann ließ es schlagartig ab, ging, um sich in eine Ecke zu hocken, wo es nach wenigen Minuten umfiel und aufgrund seiner Verletzungen und des Blutverlustes starb. Dann war das Video zu Ende.
«Das ist alles furchtbar, aber nichts davon lässt sich gegen Narclab anwenden oder beweist im Fall Mahler irgendwas», flüsterte Schauer, erschüttert von den Aufnahmen.
Bruch sah sie nur an. Natürlich, was sollte er auch antworten. Doch er war es, der ihr das Video gegeben hatte. Sie müssten im Büro sein, müssten die Fotos Ollmanns sichten, seine Adresslisten durchgehen, Zeugenaussagen sortieren, die Labordaten auswerten, wenn sie eingingen. Sie benahm sich gar nicht mehr wie eine Polizistin. Aber das hier schien wichtiger. Hier konnte man helfen, entweder Nora Mahler, indem man ihre Unschuld bewies, oder wenigstens Jasmin, indem man für klare Verhältnisse um den Tod ihres Vaters sorgte.
«Fahren wir einfach hin, in dieses Institut?», überlegte sie weiter. Wenn dieses Medikament, an dem geforscht wurde, diese Aggressionen auslöste, aber immer nur, wenn zwei Probanden aufeinandertrafen, konnte das nicht Auslöser für den Mord an Thomas Mahler gewesen sein? Wusste man schon, ob und wie verzögert dies auf Menschen wirkt? Was, wenn Mahler glaubte, ein besseres, weiterentwickeltes Produkt an sich und seiner Frau zu probieren? Könnte es nicht ihre Teilnahmslosigkeit erklären und die Aggression, mit der Mahler der Kopf eingeschlagen worden war. Von wegen Satanismus. Das passte dann nur den Leuten ganz gut in den Kram, die nicht wollten, dass solche missglückten Experimente bekannt wurden. «Wir haben nicht viel mehr.»
«Gibt es einen Grund, warum du all das an dich genommen hast, als Michael starb?», fragte sie ihn auf der Fahrt ins Institut. «Oder war es nur, um dich selbst zu schützen? Hattest du Angst, Helen könnte das alles finden?»
Bruch konnte nicht darauf antworten. Er wusste es nicht mehr. Und einmal mehr hatte er das Gefühl, gelenkt zu werden. Nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick. Doch so vieles in seinem Leben schien nicht aus seinem Willen heraus geschehen zu sein. Er konnte sich erinnern, in Michaels Haus gewesen zu sein. Sah sich all die Sachen in eine Kiste legen, die Michael beiseitegeschafft hatte. Die Waffe, die Munition, die Tüte mit Koks, Papiere, USB -Sticks, CD -ROM . Aber was hatte ihn dazu veranlasst?
«Ich denke, Helen rief mich an und bat mich, diese Sachen zu holen», antwortete er, um sich mehr Zeit zu verschaffen.
«Sie sagt, seit seinem Tod wärst du nicht bei ihr gewesen», hielt Schauer dagegen.
Auch das war möglich. Zwei Realitäten, beide verwaschen und grau.
«Man kann niemandem trauen.»
«Felix, was hier geschieht, scheint so absurd. Die Ermittlungen im Fall Mahler waren so einseitig. So viele Spuren, denen nicht nachgegangen wurde und jetzt immer noch nicht nachgegangen wird. Das BKA ermittelt in Juskats Fall, wir erfahren von nichts. Wir erfahren auch nichts über Simons Tod. Nachdem sie mich befragt haben, ist nichts mehr passiert. Wollen die das totschweigen? Sind die Aufnahmen der Überwachungskameras manipuliert?»
Bruch sah zu ihr hinüber. Davon hatte sie noch nichts erzählt, und wahrscheinlich war ihr gar nicht bewusst, dass sie sich damit gerade verraten hatte.
«Felix, das ist der Traum eines jeden Verschwörungstheoretikers. Ist Nora nur eine verwirrte Frau? Geht es um einen Medizinskandal? Kann es sein, dass wir irgendwann einfach verschwinden, dass einer in unser Büro tritt und uns abknallt?»
Bruch nahm seinen Blick nicht von ihr. Sie schien es nicht zu bemerken, war so auf das Fahren fokussiert, auf ihre Sorgen und Ängste. Sie hatte Angst. Vor dem, was sie entdecken konnten, vor einem unbekannten Gegner. Hatte Angst um ihr Leben. Und darüber verstand sie nicht, was wirklich mit ihr geschah.
«Felix, sag was!», fuhr sie ihn an. Realisierte erst jetzt, dass er sie anstarrte. «Was?», entfuhr es ihr.
«Spürst du es nicht?»
«Was?»
«Du lebst.»
Sie dachte kurz darüber nach, sah ihn fragend an. «Ja, na klar, was dachtest du denn …»
Er schwieg. Sie musste von selbst darauf kommen. An einer Ampel musste sie halten, drehte sich leicht nach rechts, holte Luft, um zu sprechen. Dann aber besann sie sich, ging noch einmal kurz in sich, und ein Grinsen huschte über ihr Gesicht.
Konnte er so tief hineinsehen, dass er es noch vor ihr erkannt hatte, oder war es ihr so offensichtlich anzusehen? Und hatte er recht? War es das, was ihr bisher gefehlt hatte? Kämpfte sie ihr Leben lang gegen etwas an? Versuchte sie, es allen recht zu machen und sich gleichzeitig zu beweisen, dass sie es gar nicht allen recht machen musste? Sollte sie stattdessen loslassen, sich diesem Leben hingeben, die Regeln außer Acht lassen, sich weniger den Kopf zerbrechen, Skrupel ignorieren? Ja, je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihr der Gedanke. Sie wollte kein Bösewicht sein, kein skrupelloser Bulle, so was funktionierte sowieso nicht in der Realität. Aber sie könnte sich aus ihren Zwängen befreien. Doch wollte sie sich zugestehen, dass es eines Menschen wie Bruch bedurfte, eines von Psychosen, von Paranoia, von Medikamenten zerstörten Menschen, um das zu erkennen? Nein, sie musste gar nichts. Sie gestand ihm einzig zu, dass er sie zum Nachdenken gebracht hatte.
Dann erreichten sie ihr Ziel, und sie musste beinahe über sich selbst lachen. Das hatte sie sich ganz anders ausgemalt. Das Institut war ein riesiges modernes Gebäude auf offenem Gelände, kein altes Schloss, umgeben von Stacheldrahtzäunen, und gehörte längst nicht allein Narclab. Dutzende Firmen und Forschungseinrichtungen teilten sich das Gebäude, brachten die Miete für Labore und Büros mithilfe von staatlichen Fördergeldern und privaten Investoren auf. Studenten, Doktoren, technisches Personal, Verwaltungsangestellte gingen ein und aus, trafen sich in der Vorhalle, in der auch die Kantine untergebracht war.
Nachdem sie lange nach einem Parkplatz hatten suchen müssen, betraten sie nun das riesige Foyer, ein Atrium, das bis unter das Dach reichte und welches im Erdgeschoss nahtlos in eine Kantine überging und in dessen Mitte in einem Betonschacht ein Aufzug bis ins sechste Stockwerk fuhr, wo man auf brückenähnlichen Gängen die beiden Gebäudeteile links und rechts erreichte. Inzwischen verspürte sie Hunger, es war schon früher Nachmittag, und sie hatte noch nichts gegessen.
Die junge Frau an der Rezeption sah freundlich und leicht gelangweilt auf.
«Sind Sie angemeldet?», fragte sie, nachdem Schauer sich und Bruch vorgestellt und ihr Anliegen vorgebracht hatte.
«Nein, aber sicher haben Sie in der Presse vom Fall Mahler mitbekommen.»
«Davon weiß ich nichts», sagte die junge Frau und nahm den Telefonhörer ans Ohr.
«Fahren Sie hinauf in die dritte Etage, Sie werden erwartet», sagte sie nach einem kurzen Telefonat. «Bitte tragen Sie diese hier lesbar an Ihrer Kleidung!» Sie schob zwei Plastikausweise mit Clips über den Tisch, auf denen ‹Besucher› stand und zwei verschiedene Nummern.
«Mein Name ist Steinlechner, ich bringe Sie zu Professor Wallburg, er ist der Forschungsleiter», empfing sie ein junger Mann im weißen Kittel, als sie aus dem Aufzug traten.
Sie folgten ihm über die Galerie zu einer großen automatischen Tür, die aufsprang, als er seine Chipkarte an ein Lesegerät hielt.
«Sagen Sie, kannten Sie Thomas Mahler?», fragte Schauer, einem Impuls folgend.
«Wen bitte?» Der junge Mann sah sich freundlich fragend um. «Ich bin erst neu hier.»
«Schon gut», Schauer winkte ab. Sie waren bereits angekommen, vor einem Büro hielt der junge Mann, winkte sie durch die offene Tür hinein. Ein älterer Mann hinter dem Schreibtisch erhob sich, bot ihr und Bruch an, auf Stühlen Platz zu nehmen. Er war sehr groß, hatte graues Haar, wirkte auf Schauer sehr distinguiert, obwohl er auf eine förmliche Begrüßung verzichtete. Weil der junge Doktorand gegangen war, ohne die Tür zu schließen, erhob er sich, ging selbst, es zu tun. Erst als er wieder hinter seinem Schreibtisch saß, begann er zu sprechen.
«Wie kann ich Ihnen denn jetzt noch weiterhelfen?», fragte er.
Schauer wunderte sich über diese seltsame Formulierung. «War denn schon jemand da gewesen?»
«Nun ja, zwei Herren vom Bundeskriminalamt waren hier, gestern erst, der unglücklichen Angelegenheit um Herrn Juskat geschuldet. Wir sahen uns gezwungen, all unsere firmeninternen Unterlagen herauszugeben. Man möchte wohl überprüfen, ob sein Tod in irgendeinem Zusammenhang mit der von seiner Firma durchgeführten Betriebsprüfung in Zusammenhang steht. Ich halte das für unnötig, da nicht Herr Juskat selbst, sondern zwei seiner Angestellten diese Prüfung vollzogen haben. Sie hatten sich deshalb zwei Wochen in unseren Räumlichkeiten aufgehalten.»
Schauer gefiel, dass er sie ansprach, nicht Bruch. Er ging nicht automatisch davon aus, dass der Mann Ansprechpartner war, wie es noch so oft geschah.
«Wir sind in einer anderen Angelegenheit hier, wir sind auch nicht vom BKA , sondern von der Kripo Dresden. Wir müssen Ihnen zu einem Ihrer früheren Mitarbeiter ein paar Fragen stellen.»
«Darf ich Ihre Dienstausweise noch einmal sehen!» Wallburg beugte sich vor, setzte die Brille auf, las aufmerksam ihren und Bruchs Ausweis durch. «Wir hatten doch das Vergnügen schon mal», meinte er dann zu Bruch. «Sie haben sich jedoch sehr verändert, nicht zu Ihren Gunsten, sind Sie krank? Haben Sie Krebs?», fragte er ohne Umschweife.
Bruch konnte nur den Kopf schütteln.
«Und Ihr Kollege von damals? Wo ist der?»
Schauer wurde es jetzt ein bisschen zu bunt. «Der ist im Dienst ums Leben gekommen, und ich hatte Krebs, falls es Sie interessiert», riss sie die Gesprächsinitiative an sich.
Der Professor verstand das Zeichen, er verschränkte die Arme, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück, so weit, wie es die Lehne seines teuren Stuhls mitmachte. «Also, wie kann ich helfen?»
«Es geht um einen Ihrer ehemaligen Angestellten, Thomas Mahler.»
Der Professor seufzte leise. «Ist darüber nicht auch alles schon gesagt?»
«Da ich ganz neu in dieser Angelegenheit bin, muss ich mit grundlegenden Dingen beginnen. Thomas Mahler arbeitete vor seinem Tod schon lange bei Ihnen?»
«Seit Gründung des Unternehmens vor acht Jahren.»
«Sie kannten ihn, oder war er nur einer von vielen?»
«Zu Beginn hatte ich gerade einmal fünf Kollegen an meiner Seite, ich kannte ihn also sehr gut.»
«War er in die Prozesse eingeweiht, oder arbeitete er nur nach Anweisung?»
«Prozesse?», fragte der Professor.
«Na ja, die Forschungsarbeit, Ergebnisse, den Fortschritt, wie Sie wollen, oder führte er nur angewiesene Arbeit aus? Wie so ein, was weiß ich, Betonbauer, der nach Anweisung des Architekten arbeitet.»
Den Mann schien diese Umschreibung zu amüsieren. «Man kann schon sagen, dass Herr Mahler tief in diese Prozesse», er holte Luft und sagte ganz ironisch betont, «involviert war. Aber wissen Sie, mag sein, dass Sie neu in dieser Angelegenheit sind, doch Sie stellen Fragen, die Sie sich aus dem Internet selbst beantworten können, oder verschaffen Sie sich einfach einen Einblick in die Ermittlungsakten. Oder sind Sie etwa ganz auf eigenes Betreiben hier? Welcher Staatsanwalt ist denn für diese Ermittlungen zuständig?»
«Bösner.» Der Name war ihr als Erstes eingefallen. Er führte die Verhandlung für die Staatsanwaltschaft im Fall Nora Mahler.
«Harald also», sagte Professor Wallburg in amüsierter Verwunderung.
Damit war das schon mal klar, der Herr Professor hatte weitreichende Kontakte, schien dem Staatsanwalt freundschaftlich verbunden. Dieser Schuss war also nach hinten losgegangen.
Das Lächeln im Gesicht des Professors wich einer strengen Miene. «Weshalb sind Sie denn eigentlich hier?»
Schauer ließ sich die Abfuhr gern gefallen, so war der Ton wenigstens klar, in dem sie sich unterhielten. «Ist Ihnen vor seinem Tod jemals der Verdacht gekommen, Thomas Mahler könnte Ihre Forschungen auf irgendeine Weise gewinnbringend an Konkurrenten veräußern oder auf andere Art sabotieren?»
Wallburg ließ sich Zeit mit der Antwort, nahm die Brille ab, putzte die Gläser mit dem Saum seines Pullovers. Dann setzte er sie wieder auf. «Haben Sie irgendeine Ahnung, was hier läuft, wie das funktioniert?»
«Nein, ich bin Polizistin. Und wenn demnächst ein Fleischer ums Leben kommt, muss ich auch nicht wissen, wie man Wurst macht. Deshalb frage ich.» Schauer spürte schon wieder Aggressionen in sich aufsteigen. Ihr fiel außerdem ein, dass sie den gestrigen Kurs verpasst hatte.
«Das ist hier nicht wie im Kino, dass einer einen Chip stiehlt und den irgendwo abliefert. Unsere Forschung basiert auf unzähligen Puzzleteilchen …»
«Es wäre nicht das erste Mal, dass Wirtschaftsspionage betrieben wird», unterbrach sie. «Und sicher weiß jemand vom Fach auch mit Puzzleteilchen etwas anzufangen, so wie uns auch manchmal nur ein kleines Indiz genügt, um auf die richtige Spur zu kommen.» Sie hatte keine Lust, sich als dumm verkaufen zu lassen. «Aber meine Fragen haben Sie nicht beantwortet, gab es je einen Verdacht?»
«Natürlich nicht. Thomas Mahler war ein sehr loyaler, etwas stiller, aber freundlicher, umgänglicher Zeitgenosse.»
«Könnte es sein, dass er Proben aus dem Labor mit nach Hause nahm …»
«Hören Sie, nein, wir stellen hier keine Medizin her, wir betreiben Forschung. Unsere Ergebnisse führen dazu, dass anderswo Produkte, medizinische Präparate weiterentwickelt werden können …»
«Könnte es sein?», unterbrach Schauer nun ihrerseits wieder.
«Nein!», schnitt er ihr das Wort ab.
«Soweit ich weiß, dauert es Jahre, manchmal Jahrzehnte, bis ein neues Mittel, ein Präparat ausreichend getestet …»
«Hören Sie auf, ich weiß, worauf Sie hinauswollen, das ist absurd, das ist Ihrer unwürdig», echauffierte sich Wallburg.
«Was ist absurd daran, dass einer Ihrer Angestellten etwas aus dem Haus schmuggelt?» Ihrer unwürdig, wie übergriffig das war. Es begann in ihr zu köcheln.
«Nichts, da haben Sie recht. Aber worauf wollen Sie hinaus? Was soll er damit, was stellt man mit einem Präparat in der ersten Entwicklungsstufe an? Es an jemandem probieren? Wie denn? Wie soll eine Studie angefertigt werden, wenn die Probanden nicht vorher klinisch getestet sind, wenn sie nicht unter dauerhafter Beobachtung stehen? Das ist wirklich Blödsinn, vergessen Sie das. Was immer Thomas geschehen ist, es hat mit dieser Firma nichts zu tun.»
Schauer schloss für einen Moment den Mund, ließ das Gehörte sacken. Ein kurzer Blick zu Bruch genügte zu sehen, von da kam keine Hilfe. Er hatte sie auf die Idee gebracht, hatte sie begleitet, doch mehr würde nicht geschehen.
«Forschen Sie mit Tieren?», fragte sie, um einen gesetzten Tonfall bemüht.
Der Professor schloss ganz kurz die Augen, als wäre er es leid, immer mit denselben Fragen belästigt zu werden. «Ja, das bleibt nicht aus. Wir und viele andere hier. Im Nebengebäude werden Obstfliegen gezüchtet, Fische, Mäuse, Axolotl. Genetisch identische Tiere sind eine der Voraussetzungen für die Forschung, es senkt die Fehlerquote. Ich weiß, dass viele Menschen gegen diese Versuche sind, wir haben es fast wöchentlich mit Tierrechtlern zu tun, die uns irgendwie angreifen, inzwischen gibt es Politiker, die versuchen, unsere Arbeit zu torpedieren, doch es geht einfach nicht ohne Tierversuche, nur so wird man Krebs heilen können und alle möglichen anderen Krankheiten.»
«Werden Versuche an Affen durchgeführt?»
Mit einem Schlag schien sich alle Anspannung bei Wallburg zu lösen. Er setzte sogar wieder ein Lächeln auf. «Daher weht der Wind! Sie haben diese investigativen Aufnahmen gesehen?» Er setzte es in Anführungsstriche. «Die sind seit Jahren in Umlauf und haben uns schon viel Ärger bereitet. Das sind willkürlich zusammengeschnittene Filme. Keiner weiß, woher sie kommen. Keiner weiß, was mit diesen Schimpansen geschehen ist. Jahrelange Einsamkeit genügt jedenfalls, diese Art von Aggressivität auszulösen. Haben Sie schon einmal gesehen, wie Tiere früher im Zirkus gehalten wurden oder noch immer werden, in vielen Ländern? Kragenbären in Vietnam, denen man Galle abzapft, in winzigen Käfigen? Haben Sie eine Ahnung, wie viele Schimpansen sich derzeit in privatem Besitz befinden? Tausende, hier, in Europa. Das hat mit Narclab nichts zu tun. Und es gibt nicht den geringsten Anlass, dies irgendwie mit Mahlers Tod in Verbindung zu bringen.»
«Forschen Sie auch an Affen?» Er hatte ihre Frage nicht beantwortet.
«Was glauben Sie denn? Dass Mahler heimlich im Labor gefilmt hat, dann hat er die Filme nach draußen geschmuggelt, und wir lassen ihn umbringen dafür? Das ist lächerlich!»
«Inzwischen haben Sie an die hundert Leute, habe ich gelesen, die in Schichten arbeiten. Studenten, Doktoranden, Laborangestellte, Techniker, Bürokräfte, Reinigungspersonal. Können Sie jedem trauen? Ist der Film mit den Ratten von hier? Sicher lässt sich das nachprüfen.»
«Dann prüfen Sie es, prüfen Sie, für mich ist die Sache hier beendet.» Der Professor erhob sich, ging zur Tür, um sie demonstrativ zu öffnen. Bruch hatte anscheinend nur auf diesen Moment gewartet, er erhob sich und ging hinaus. Schauer blieb nichts, als ihm zu folgen. Als sie an Wallburg vorbeiwollte, hielt der sie mit einer Handbewegung auf.
«Sie sind hier an der falschen Adresse. Kommen Sie gern wieder, wenn Sie einen richtigen Auftrag vom Staatsanwalt haben. Sie werden nichts weiter erfahren, aber ich heiße Sie gern willkommen.»
«Danke», sagte Schauer und wollte vorbei, doch der Professor war noch nicht fertig.
«Diese beiden Männer, Ihr Kollege hier und der andere, von dem Sie sagen, der wäre tot, das waren keine guten Ermittler», sagte er, obwohl Bruch nur ein paar Schritte weiter war und ihn sicher hören konnte. «Werden Sie nicht wie die.»
Schauer schnaubte, was wusste dieser Mann schon? «Danke für den Tipp!», sagte sie zynisch, und doch blieb ein komisches Gefühl, als sie den Trakt verließen, um zum Aufzug zu gehen. Wallburg blieb in der Tür stehen, schien zu warten, ob sie wirklich gingen, und als der Aufzug unten im Erdgeschoss ankam, sie hinaustraten, sah ihn Schauer oben an der Brüstung stehen und zu ihnen hinunterblicken.
Sie sagte nichts, als sie die breite Einfahrt mit der Grünanlage und dem Brunnen davor passierten, um das Firmengelände zu verlassen.
«Und wenn es nun Tierschützer waren, die Mahler umgebracht haben?», überlegte sie laut, als sie schon eine Straße weiter waren, wo ihr Auto stand. Diese Begegnung mit dem Professor hing ihr nach. Man wollte von einem Mann wie diesem eigentlich gemocht werden. Man wollte hören, was er zu sagen hatte. Doch sicher hatte der auch keine weiße Weste.
«Hallo», rief da jemand. Schauer blieb stehen, zwang Bruch, es ihr gleichzutun.
«Warten Sie mal bitte.» Eine Frau sah nach dem Verkehr, überquerte dann eiligen Schrittes die Straße. Sie war etwa dreißig Jahre alt, trug einen Kittel zusammengeknüllt in der Hand. «Warten Sie», rief sie noch einmal, es war ihr anscheinend sehr wichtig.
«Sie waren doch gerade bei Professor Wallburg, es ging doch sicherlich um Thomas, oder? Thomas Mahler?»
Schauer nickte zögerlich, «Ja, wieso?»
«Wissen Sie, ich kannte Thomas gut, wir waren befreundet, schon seit der Ausbildung. Ich habe ihn mit in die Firma geholt, als mir der Professor die Stelle anbot und sagte, er suchte noch Leute.»
Befreundet nur, oder gab es da mehr, fragte sich Schauer.
«Thomas war zwar schon immer sehr still, aber im Laufe der Jahre hatte ich das Gefühl, er veränderte sich. Er erzählte kaum noch von daheim. Ich glaube, es lag an seiner Frau, die hat ihn sehr vereinnahmt. Er hat ja früher mal gesagt, dass er am liebsten keine Kinder hätte, und dann wurden es vier. Ich weiß auch, dass er seine Eltern sehr mochte, er war gern bei denen. Und zum Schluss sah er sie wohl kaum noch oder gar nicht mehr.»
«Worauf wollen Sie denn hinaus? Wie heißen Sie denn?»
«Silke Trobisch, Entschuldigung. Ich wollte sagen, dass Thomas sich in den Wochen, bevor er starb, mit jemandem traf, mit einem Mann. Er hat nie davon erzählt. Ich weiß nur, dass er ein-, zweimal darum bat, eher gehen zu dürfen.»
«Woher wissen Sie das dann?»
«Ja, das ist es ja, einmal, da war ich gerade von der Mittagspause zurück. Ich esse nicht hier in der Kantine, die ist zu teuer, ich gehe zur nächsten Kreuzung da hinten, da ist ein Imbiss. Da sah ich ihn aus dem Gebäude kommen. Er lief eine Straße weiter in die andere Richtung, da stand ein Auto, und der Fahrer stieg aus, und ich sah sie sprechen. Ich habe ein Foto mit dem Handy gemacht.»
«Warum?»
Trobisch hob die Schultern. «Das war so ein Gefühl, Thomas war sehr introvertiert und traf kaum andere Leute, und sie begrüßten sich so seltsam, nicht wie Bekannte, aber auch nicht wie Geschäftsleute. Eher wie, lachen Sie mich nicht aus, wie Agenten, so geheimnisvoll.»
«Und das Bild haben Sie hier?»
«Das ist es ja, deshalb habe ich Sie nicht gleich angesprochen, ich habe es suchen müssen. Hab ja längst ein anderes Handy. Aber ich hatte es abgespeichert und hab es vorhin noch schnell ausgedruckt.» Sie nestelte, während sie sprach, in der Tasche ihres Kittels. «Es ist nicht besonders gut, kaum etwas zu erkennen.» Nun hatte sie es draußen, reichte Schauer ein zweimal gefaltetes Blatt.
Schauer faltete es auf, hielt es so, dass auch Bruch sehen konnte. Tatsächlich war das Bild nicht besonders gut, aus weiter Entfernung gemacht, herangezoomt. Thomas Mahler war gerade noch zu erkennen, von dem anderen Mann war der Rücken zu sehen. Er stand in der offenen Fahrertür, trug ganz alltägliche Kleidung. Jeanshosen, hellbraune Schuhe. Der Stil der Jacke ließ darauf schließen, dass er nicht ganz der Jüngste war. Möglicherweise hatte er eine kahle Stelle auf dem Kopf, oder das Sonnenlicht reflektierte nur auf seinem Haar. Sein Auto war ein VW Passat, aber ein sehr altes Modell. Weil Trobisch von der anderen Straßenseite fotografiert hatte und der Wagen in einer Parklücke stand, waren nur die ersten Buchstaben zu sehen und sehr unscharf.
«Kannst du das erkennen?», fragte Schauer ihren stummen Kollegen.
«Fulda», sagte Bruch. Bisher hatten weder er noch Trobisch zu erkennen gegeben, ob sie sich kannten. Doch da der Professor Bruch wiedererkannt hatte, sollte es wahrscheinlich sein, dass sie sich bei den Ermittlungen vor vier Jahren begegnet waren.
«Haben Sie das der Polizei damals auch gezeigt?», fragte Schauer. Ohne zu fragen, faltete sie das Blatt zusammen und steckte es ein.
«Zuerst nicht. Ich war damals so geschockt von der Nachricht. Wissen Sie, insgeheim, na ja, ich mochte ihn schon sehr, ich dachte immer, vielleicht schafft er es einmal, sich von seiner Frau zu trennen.»
«Stand das denn im Raum?»
«Nein, gesagt hat er es nie, aber man bekommt ja schon einiges mit. Wie einer redet oder sich benimmt. Sie war ja auch mal hier, das war ganz seltsam.»
«Ja? Wie?»
«Ach, die war wie, ich weiß nicht, auf Drogen vielleicht? So abwesend, sie lächelte immer, total unheimlich. Stand ja auch in der Zeitung, dass die nicht richtig tickt. Und mich hat die angesehen, uh, da dachte ich, da lass ich mal die Finger von dem Mann.»
«Können Sie das konkretisieren?»
«Nein, die war einfach nur unheimlich. Es ist ja sowieso komisch gewesen, wie Thomas die kennengelernt hat. Es sah nämlich eigentlich aus, als könnte was aus uns werden. Schon als wir noch ganz jung waren. Und eines Tages kam der und sagte, er hätte jetzt eine Frau. So hat er es gesagt, nicht Freundin oder so, sondern eine Frau. Ich glaube ja, der war noch Jungfrau, wie gesagt, sehr still und schüchtern. Na ja.» Frau Trobisch hing ein paar Momente in Gedanken dem Leben nach, das nun ein für alle Mal ungelebt bleiben musste, und kehrte dann wieder in die Gegenwart zurück. «Jedenfalls war ich dann doch bei der Polizei, ein paar Monate später. Mit dem Bild. Die haben sich bedankt, aber ich wette, die haben das gar nicht ernst genommen.»
«Bei wem waren Sie genau?»
«Keine Ahnung. Ich bin einfach auf ein Revier gegangen, hab denen das gesagt. Bestimmt hielten die mich für eine Spinnerin.»
Schauer sah Bruch nicht an, doch es war klar, sie hatten das Bild damals gesehen. Er hatte das Nummernschild nicht jetzt erkannt, sondern kannte es schon, wusste, der andere kam aus Fulda.
«Ich muss jetzt, bin sowieso schon zu lange weg.»
«Warten Sie noch kurz. Machen Sie da drinnen Versuche an Tieren? Und glauben Sie, Thomas Mahler könnte irgendwie aus dem Labor etwas mit nach Hause genommen haben?»
«Also ja, wir machen Tierversuche, das ist ganz normal, anders geht es ja auch nicht. Und zweitens, früher hätte ich sofort gesagt, nein, der Thomas würde nie so was machen, aber inzwischen bin ich mir nicht so sicher. Es kommt immer mal was weg.»
«Ich meine, von den Sachen, an denen Sie forschen.»
«Also das wäre schon möglich, aber was hätte er denn damit gewollt?»
Bruch drehte ihr den Kopf zu. Sie bemerkte die Bewegung, reagierte aber nicht, starrte nach vorn, als konzentrierte sie sich voll und ganz auf den Verkehr. Sie wusste, sie müssten im Präsidium sein, sich um Ollmanns Tod kümmern, doch das lief nicht weg, das würden sie im Anschluss tun.
Sie fuhr, sie bestimmte, wo es langging. Wenn er ein Problem damit hatte, sollte er es sagen. Tat er aber nicht, tat er nie. Als sie eine knappe Viertelstunde später ein letztes Mal abbog und die Bäckerei vor ihnen erschien, sah er sie noch einmal an. Er sagte nichts, fragte nichts. So sah sie keinen Anlass, sich zu erklären.
So mochte es wohl früher schon gewesen sein, dachte Schauer, und nicht das erste Mal kam ihr ein Gedanke. Der Gedanke, dass sie offenbar, ob sie es wollte oder nicht, sukzessive in Michael Bartkos Rolle schlüpfte. Von anderen wurde ihr sowieso schon unterstellt, sich zu schnell an die Gepflogenheiten dieser Abteilung gewöhnt zu haben, der Professor hatte sie eindringlich ermahnt, nicht so zu werden, und sie selbst übernahm nun gezwungenermaßen die Initiative bei ihren Handlungen, weil ihr gar nichts anderes übrig blieb, mit diesem Menschen an ihrer Seite. Er hatte sie gedeckt, hatte gelogen für sie, sie hatte es geduldet, so wie sie duldete, dass Jasmin bei ihm gewesen war, und es nicht meldete, wie sie es hätte tun müssen.
Jetzt stellte sie den Wagen ab, hier war es ruhig, und es gab viel Platz. Briesnitz hieß der Ortsteil. Sie sah auf die Uhr. Hannah Welbe, Nora Mahlers Halbschwester, müsste ihre Schicht begonnen haben. Soweit sie den Unterlagen hatte entnehmen können, arbeitete Welbe etwa zwanzig Stunden in der Woche als Verkäuferin in dieser Bäckerei.
Schauer stieg aus, Bruch tat es ihr gleich.
Bruch musste schon vor vier Jahren mit Hannah Welbe zu tun gehabt haben, jedoch schien ihm da nicht bewusst geworden zu sein, dass ihn etwas mit der Frau und seiner Vergangenheit verband. Immerhin war er damals noch ein kleines Kind gewesen, so wie sie auch. Außerdem hatte er zumindest für seinen Teil zwischenzeitlich alles vergessen. Bruch lief neben ihr über die Straße, die Hände in den Jackentaschen.
Im Laden stand eine Frau hinter dem Tresen.
«Das ist sie nicht», sagte Bruch leise.
«Entschuldigen Sie, wir suchen Frau Welbe», fragte Schauer deshalb.
«Sind Sie Journalisten?», fragte die Verkäuferin sehr unfreundlich.
Schauer ersparte sich eine Antwort, zeigte stattdessen ihren Dienstausweis.
Die Verkäuferin las ihn gar nicht, ging nach hinten. «Hannah?», hörten sie sie rufen. «Polizei.» Schauer sah sich um. Es gab ein kleines Café, drei kleine Tische mit Stühlen. Ein alter Mann saß am Fenster, trank allein Kaffee.
Jetzt kam eine Frau aus der Durchgangstür, zwar zierlicher, aber eindeutig als Schwester von Nora Mahler zu erkennen, auch wenn ihr Kleidungsstil ganz anders war. Sie trug einen Rock, eine fast altmodische Bluse, ihre Frisur schien von einem Dorffriseur zu sein, der seit vier Jahrzehnten den gleichen modernen Haarschnitt verkaufte. Auch ihre Brille war nicht das neueste Modell. Sie sah erschöpft aus, vorzeitig gealtert. Sie war zehn Jahre älter als ihre Halbschwester Nora, wirkte mit diesem Auftreten aber noch mal zehn Jahre älter.
«Wie kann ich helfen?», fragte sie nicht unfreundlich, aber auch nicht erfreut.
«Schauer, Bruch, Kripo. Haben Sie Zeit, uns ein paar Fragen zu beantworten?»
Frau Welbe sah in Richtung Sitzecke, entdeckte dann aber den alten Mann.
Der hatte die Situation offenbar erkannt. «Ich geh schon, bin sowieso fertig!»
«Das ist nicht nötig!»
«Doch, doch, machen Sie nur.» Der Mann hatte sich schon erhoben, nahm seine Jacke von der Stuhllehne, auch seine Tasse und den Teller nahm er mit.
«Sicher wollen Sie mehr über unsere Anschuldigungen erfahren?», fragte Welbe, als sie sich gesetzt hatten. Bruch schenkte sie keine besondere Aufmerksamkeit, zeigte kein Erkennen. Er selbst blieb wie immer reaktionslos.
«Ja, auch, aber zuerst würde ich gern erfahren, ob Sie etwas über die Arbeit ihres verstorbenen Schwagers wissen?», fragte Schauer.
«Wir hatten kaum Kontakt. Er hat in einem Labor gearbeitet, soweit ich weiß.»
«Hatten Sie auch mit Ihrer Schwester wenig Kontakt?»
«Wir haben es immer versucht. Aber sie war sehr abweisend.»
«Wie war das in Ihrer Kindheit, mochten Sie sich als Schwestern?»
«Das war schwierig, gebe ich zu. Erstens war ich ja viel älter, mein Vater ging weg, Mutter lernte einen neuen Mann kennen, Noras Vater. Dann wurde sie schwanger. Später starb er, und Mutter hatte wieder einen neuen Mann. Aber da war ich ja schon längst ausgezogen. Na ja, und Nora war schon von Anfang an ein wirklich seltsames Kind.»
«Wissen Sie, das hören wir oft in letzter Zeit.»
Hannah Welbe hob fast bedauernd die Schultern. «Redet ja auch jeder darüber. Jeder glaubt, irgendetwas zu wissen. Als Kleinkind schon war sie ganz anders als jedes andere Kind. Starrte oft lange aus dem Fenster. Mochte kein Spielzeug. Sie machte oft Dinge kaputt, die mir gehörten. Ich hab sie oft angeschrien, zu oft vielleicht. Mutter schimpfte aber nie. Am Anfang schon, aber später nicht mehr.»
«Sie sagen das so, als bedeutete es etwas?»
Frau Welbe wiegte den Kopf. «Ich kann es nicht beschreiben. Manchmal glaube ich, die beiden hatten ein besonderes Verhältnis zueinander.»
«Waren Sie eifersüchtig?»
«Natürlich, was denken Sie denn? Es war ja meine Mutter. Aber die war selbst manchmal seltsam, im Nachhinein wurde mir das erst bewusst. Die Leute wichen uns aus, habe ich bemerkt. Unsere Nachbarin schrie mal ein paar Jungs an, die sollten nicht an unserem Grundstück spielen, so als wären wir, was weiß ich, Verrückte oder so.»
«Ihre Mutter war seltsam? Würden Sie meinen, das, was Sie Ihrer Schwester jetzt vorwerfen, wurde von Ihrer Mutter ausgelöst? Satanskult?»
«Himmel, nein, Mutter wollte mit Satan nichts am Hut haben, eher umgekehrt, die hatte es eher mit Jesus, hatte Kreuze überall, Kruzifixe. Die war halt auch manchmal so, saß ewig da, konnte sich zu nichts motivieren, manchmal habe ich das Essen gemacht, sonst hätte es nichts gegeben. Und dann war es ja so, dass die Leute schon tuschelten, mein Papa war weg, schon kam ein Neuer.»
«Das war sicher für Sie schwer?»
«Ha, was denken Sie. Stellen Sie sich vor, Ihr Vater ginge weg, schon bald darauf ist ein neuer Mann da. Und dann sollen Sie ja trotzdem noch loyal Ihrer Mutter gegenüber sein.» Hannah Welbe schloss den Mund schnell, versuchte sich an einem Lächeln.
«Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem Vater?»
«Der ist seit zwölf Jahren in einem Pflegeheim, Demenz, letztes Stadium. Vergisst sogar zu sterben.» Sie sagte es ganz trocken, ohne jeden Funken Humor.
«Konnten Sie mit ihm darüber sprechen, dass er wegging?»
«Ich hatte, nachdem er weggegangen war, viele Jahre keinen Kontakt. Er meldete sich bei mir eines Tages, da war ich lang schon erwachsen, und er zeigte bereits erste Zeichen von Demenz. Ich war damals so hin- und hergerissen von meinen Gefühlen. Einerseits wollte ich wissen, warum er damals wegging, andererseits fürchtete ich, er würde wieder verschwinden, würde ich ihn fragen.» Wieder verstummte sie abrupt.
Schauer ließ ihr eine Sekunde. «Hat Ihre Schwester je mit Ihnen über diese Nacht gesprochen, in der Thomas umgebracht wurde?»
Nun schüttelte Hannah heftig den Kopf. «Nein, niemals, ich habe sie nicht gesprochen seitdem. Sie hatte kein Interesse, und ich gebe zu, ich auch nicht. Wieso soll ich mir anhören, dass der Teufel da durchs Fenster gekrochen ist?» Welbe winkte ab.
«Hat sie das gesagt? In einem Interview?»
«Dass der Teufel durchs Fenster geklettert ist? Nein, nicht zu mir, aber zu den Polizisten wohl. Aber so was hat sie als Kind schon erzählt. Als Jugendliche, meine ich, ging das richtig los. Oje. Sie sagte mal, wenn man lang genug etwas anstarrt, dann sieht man den Teufel, der sich dahinter versteckt.»
«Wie meinte sie das?» Schauer konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass diese Worte Eindruck bei ihr hinterließen.
Welbe tat es mit einem Achselzucken ab. «Was weiß ich, sie meinte, hinter allen Dingen stecken finstere Mächte. Und du siehst in die Landschaft, siehst zum Beispiel einen Stein, einen Fels, wenn du ihn nur lang genug anstarrst, ohne zu blinzeln, sagte sie mal, dann wird das Wesen in dem Stein ungeduldig, und irgendwann bewegt es sich. Oder sie meinte, du glaubst, mit einem Menschen zu sprechen, doch das wäre nur eine Hülle, drinnen steckte der Teufel selbst, und wenn du ihm lang genug in die Augen schaust, siehst du ihn, denn auch der Teufel muss blinzeln, und er blinzelt immer, wenn man selbst blinzelt. Deshalb starrt sie immer, ohne zu blinzeln, bis der Teufel blinzeln muss, dann siehst du es. Seine Augen wären anders, hat so Häute wie eine Echse oder so.» Sie winkte ab.
Schauer ließ das kurz auf sich wirken, sah verstohlen zu Bruch, der starrte und genauso wenig blinzelte. Zumindest wenn er drauf war wie jetzt.
«Es war sicher schwer für die Kinder, nachdem ihr Vater tot war und ihre Mutter im Gefängnis. War es Ihre Idee, die Kinder zu sich zu nehmen, oder wie kam es dazu?»
Noras Schwester sah auf den Tisch, kratzte mit dem Finger an einem imaginären Fleck. «Ich hoffe, Sie verurteilen mich nicht, aber besonders begeistert war ich nicht. Zum einen, weil ich und mein Mann nur ein Kind haben. Unsere Wohnung war viel zu klein, deshalb mussten wir umziehen. Zum anderen kannte ich die Kinder kaum. Bis auf Jasmin, die ich früher gelegentlich noch sah, aber wir hatten keinen guten Draht mehr zueinander. Sie mochte mich nicht mehr besonders, ich denke, das habe ich ihrer Mutter zu verdanken. Die drei Kleinen jedenfalls habe ich bis dahin so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Als das Jugendamt kam und fragte, ob ich die Kinder zeitweise nehmen könnte, habe ich erst abgelehnt. Dann hieß es aber, sie müssten ins Heim und würden im schlimmsten Fall sogar getrennt. Da dachten wir, also ich und mein Mann Stephan, das können wir auch nicht machen. Wir haben sie zu uns genommen, und, oh Mann, ich sage Ihnen, das war nicht leicht. Von einem plötzlich auf fünf Kinder. Vor allem Jasmin hat es uns schwer gemacht.»
«Auf die will ich gleich zurückkommen. Was war mit den Eltern von Ihrem Schwager? Konnten sie die Kinder nicht nehmen?»
«Die waren schon zu alt. Und …», sie zögerte, «na ja, eine vom Jugendamt, das soll ich aber eigentlich für mich behalten, hat mir gesagt, dass sie die Kinder nicht wollten, weil sie Angst hatten. Vor Nora.»
«Angst? Inwiefern? Die saß ja im Gefängnis.»
«Ja, ich weiß, aber sie hatten Angst, richtige Angst, hat die vom Jugendamt gesagt. Deshalb sind die ja auch aus dem Haus da weggezogen, wo Nora und Thomas dann wohnten, also wo er umgebracht wurde, sie haben es Thomas überlassen und sind weggezogen, in eine andere Stadt! Das wurde denen dort unheimlich, und es hieß, Nora wäre dran schuld.»
«Und wie?»
Frau Welbe holte tief Luft und machte große Augen. «Was weiß ich. Das haben ja die Leute früher auch gesagt, als wir als Kinder noch zusammenwohnten. Wenn was passierte, hieß es immer, Nora wär’s gewesen. Zu Hause oder in der Schule.»
«Aber das Haus Ihrer Mutter, dort, wo Sie auch aufgewachsen sind, es strahlte schon immer eine gewisse Präsenz aus, nicht wahr? Es wirkt sehr düster.»
«Hat Ihnen bestimmt die alte Nachbarin erzählt, die Kuhlig. Lebt die noch? Das ist die, die die Jungen angeschrien hat, dass sie von unserem Haus wegbleiben sollen. Wie gesagt, ich weiß auch nicht, ich bin ja drin aufgewachsen, mir kam es nicht besonders vor. Kann schon sein, dass es düster war und kalt, hinten im Garten wuchs auch nichts richtig. Aber wissen Sie, die Leute, die lieben es doch, zu tuscheln und alles geheimnisvoll zu machen …» Sie winkte ab.
«Was geschah mit Jasmin?»
«Also Jasmin, das ist so eine Sache. Die könnte einem ja wirklich nur leidtun. Erst ein Einzelkind, sechs Jahre lang, dann drei Geschwister, eins nach dem anderen. Vielleicht haben Sie es ja gesehen in dem Haus. Immer im Dunkeln gesessen, kaum Spielzeug. Die durften ja nicht mal im Garten spielen. Keine richtigen Freunde. Das ist Noras Schuld. Dann das. Dass sie das mit ansehen musste. Ihr eigener Vater. Was immer geschehen ist, selbst wenn es Nora nicht war, dass sie nicht eingeschritten ist, nichts getan hat, im Beisein ihrer Tochter. Da verliert man doch jedes Vertrauen ins Leben. Na ja, und dann wird sie von den Polizisten behandelt wie der letzte Dreck, die wollten sie ja nötigen, gegen ihre Mutter auszusagen. Also, es ist alles ganz schlimm. Aber ich sage ihnen, Jasmin kann so garstig sein, so böse, da vergeht Ihnen alles Mitleid. Ich habe wirklich mein Bestes versucht, wir sind umgezogen, in ein Haus, sie bekam als Einzige ein eigenes Zimmer, mein eigener Sohn musste zurückstecken. Aber von Jasmin kam nur Ablehnung, Widerstand, regelrechter Hass. Die hat mein Essen in den Müll geworfen, wollte nichts anziehen, was ich gekauft hab, hat nie gemacht, was sie sollte. Das war wirklich nicht auszuhalten. Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht schlecht, aber ich habe kein schlechtes Gewissen ihretwegen. Man kann einem Menschen helfen, oder entgegenkommen, und kann auch viel Rücksicht nehmen auf die Vorgeschichte. Aber irgendwann ist genug.»
«Haben die Kinder denn damals, als sie zu Ihnen kamen, den Eindruck gemacht, dass sie verstört wären oder von ihrer Mutter misshandelt?»
«Natürlich waren die verstört. Vom Verlust ihres Vaters und dann auch ihrer Mutter, zumindest dachten wir das zu Beginn. Er war ja derjenige, der so ein wenig Normalität ins Haus brachte. Später begannen sie, die Situation zu akzeptieren, und ich glaube, die mögen uns sehr und denen geht es auch gut. Aber wir begannen schon nach ein paar Wochen, einige seltsame Verhaltensweisen an ihnen wahrzunehmen. Sie fragten zum Beispiel nie, ob sie draußen spielen dürften, wir mussten sie regelrecht überreden, in den Garten zu gehen. Und nachts, da machten die keinen Mucks, selbst die ganz Kleine nicht. Das ist natürlich angenehm, sollte man meinen, aber das war unheimlich. Wir standen oft auf und gingen nachsehen, ob noch alles in Ordnung ist.»
«Und jetzt, im Sommerurlaub, da begannen sie zu erzählen?»
«Wir waren in Schweden, auf einem Boot. Das hatten wir uns schon lange mal gewünscht. Da fing zuerst die Große an, Rebecca, die sagte, Mutti hätte sie manchmal verbrannt, oder sie hätte Jasmin gesagt, sie sollte es tun, mit Zigaretten.»
«Nora Mahler hat Jasmin dazu aufgefordert?», fragte Schauer ungläubig.
Hannah hob die Schultern. «So hat Rebecca es gesagt. Und dann fragten wir nach, mein Mann nahm das mit dem Handy auf, sonst weiß man nachher wieder nicht, wer was gesagt hat, oder es glaubt einem keiner. Sie erzählten, sie hätten ekliges Zeug trinken müssen, bittere Säfte, weil es sie gesund machte und gegen böse Kräfte stärkte, und dass ihre Mutter ihnen gezeigt hätte, wie man kleine Tiere umbringt, und manchmal hätte sie sie geschnitten, mit einem Küchenmesser. Also eher geritzt, so nennt man das. Das wurde untersucht in der Klinik, Röntgenbilder wurden angefertigt, und in diesen Geräten waren sie drin, Sie wissen schon, in dieser Röhre. Es ist zwar so, dass sich die Haut von Kindern schnell erholt und man oberflächlich nichts sieht, aber unter der Haut, in der zweiten Schicht, bleiben trotzdem Narben zurück, die man wohl sogar bei Schwarzlicht erkennt. Das war natürlich schon sehr schockierend.»
Schauer sah noch einmal zu Bruch, der starrte die Welbe unentwegt an, blinzelte kaum, als erwartete er, den Dämon zu sehen, der in ihr steckte. Wie viele kaputte Menschen wohl Tag für Tag durchs Leben taumelten, staunte Schauer, fasziniert und ungläubig zugleich. Das mit der Intelligenz hat sich die Natur nicht so gut ausgedacht, oder der liebe Gott. Es schien keine gute Idee, ständig über mehr nachzudenken, als über die nächste Mahlzeit und einen Geschlechtspartner.
«Wissen Sie etwas über Molche?»
Frau Welbe stutzte. «Meinen Sie im Allgemeinen? Oder wie ist das gemeint?»
«Nein, schon gut», Schauer winkte ab. «Hat sich, trotz aller Differenzen, Jasmin bei Ihnen gemeldet?»
«Nicht ein einziges Mal.»
«Also auch in den letzten zwei Tagen nicht?»
«Nein. Und ich sage Ihnen was: Das soll auch so bleiben. Wir haben sogar Angst davor. Deshalb ist immer jemand da. Deshalb holen wir die Kinder aus dem Kindergarten und der Schule ab und bringen sie hin. Es muss ja gar nichts passieren, aber allein der Gedanke, sie könnte ihren Geschwistern Drogen anbieten oder ihnen Angst machen. Es hat so lang gedauert, bis sie keine Angst mehr hatten.»
«Was meinen Sie mit Angst, sagten Sie nicht, die wären still, die ganze Zeit?»
«Ja, eben, die waren völlig verängstigt. Die sahen sich anfangs nach jedem Geräusch um. Dann hockten sie sich zusammen, zu dritt. Das war harte Arbeit, sag ich ihnen, wir haben uns ja auch Rat geholt. Das soll nicht wieder kaputtgemacht werden.»
Schauer nickte, sie war ein wenig ratlos. Sie hatte sich mehr erhofft von diesem Gespräch und von diesem Tag. Zwar hatte sie Informationen bekommen, nur halfen sie ihr kein bisschen weiter. Einzig, dass an die Polizeidirektion in Fulda eine Anfrage gegangen ist, wer dieser Mann mit dem alten VW Passat gewesen sein könnte. Irgendwie hatte sie gehofft, Bruch oder Welbe würden aufeinander reagieren, wie ein Laie, der im Labor zwei Chemikalien mischte. Das war alles so unbefriedigend. Hannah Welbe schien ihr das anzusehen, hob bedauernd die Schultern, weil sie nicht mehr zu bieten hatte.
«Vielen Dank.» Schauer erhob sich, wandte sich an Bruch. «Fahren wir ins Büro und sichten weiter die Fotos von Ollmann.»
Der nickte und stand ebenfalls auf. Inzwischen schien er wieder genau so zu sein wie an dem Tag, als sie ihn kennengelernt hatte, als sie bei Simon im Büro saß und Bruch nicht zum ersten Termin erschien. Das war der Moment gewesen, an dem sie hätte ausscheren müssen. An dem sie hätte aufstehen und gehen müssen. Ins Büro zu gehen, wo er im Dunkel saß, ihn kennenzulernen, das war der Fehler gewesen.