16

«Frau Schauer?», fragte sie jemand.

Schauer versuchte die Augen zu öffnen, es fühlte sich an, als wären sie zugeklebt. Mit äußerster Anstrengung gelang es ihr schließlich. Sie fuhr sich mit der Zunge durch den Mund, leckte sich die Lippen.

«Wo bin ich denn?», fragte sie, denn ihr wurde schnell klar, dass sie nicht daheim war.

«Im Sankt-Joseph-Stift, im Krankenhaus. Ich bin Schwester Martina, ich gehe und hole die Oberärztin. Sie müssen sich keine Sorgen machen.»

«Warten Sie doch bitte, wie bin ich denn hergekommen?»

«Das klären Sie mit der Ärztin.»

Schauer nickte, wollte warten, die Augen offen halten. Sie fühlte sich schwach und krank, fühlte ein Vibrieren in sich, als liefe ein Motor unrund.

«Frau Schauer?», sprach sie eine weitere Stimme an, sie musste also doch wieder weggedöst sein. «Dellmann mein Name.»

«Was ist mit mir?»

«Jemand hat gestern den Notarzt zu Ihrer Wohnung gerufen, besser gesagt, heute Nacht. Der brachte Sie zu uns. Zuerst dachten wir, Sie hätten einen anaphylaktischen Schock erlitten. Es schien, als wären einige Organsysteme zusammengebrochen. Inzwischen glauben wir, Sie haben eine Vergiftung erlitten. Wir haben Ihnen Blut genommen, lassen es untersuchen.»

«Worauf wird es untersucht?»

«Wie meinen Sie? Ein toxikologischer Befund soll erstellt werden.»

«Kann man es auf … was weiß ich, HIV , Hepatitis untersuchen? Können Sie das machen?» Eine heißkalte Welle der Panik schwappte durch sie hindurch.

«Frau Schauer, darf ich fragen, warum? Sie sind doch Polizistin, nicht wahr, ist etwas vorgefallen? Man fand Sie in Ihrem Erbrochenen liegen und ihrem Urin. Und leichte Verletzungen haben Sie auch. Abschürfungen, Hämatome.»

«Können Sie die Untersuchungen veranlassen? Ich bezahle das auch selbst.»

«Frau Schauer, was ist denn passiert, sind Sie überfallen worden?»

«Das ist …» Nun saß sie in der Falle, nun steckte sie mittendrin. «Was ist mit meiner Wohnung?»

«Also, das weiß ich nicht. Ich kann diese Untersuchungen gern veranlassen, dann müssen wir aber noch einmal Blut abnehmen. Aber es scheint doch, Sie haben einen bestimmten Verdacht?»

Schauer nickte, doch sagen konnte sie nichts. Sie wusste, man wurde nicht gleich süchtig, nicht nach einem Schuss Heroin. Und sie hatte ihn überlebt. Die schlimmste Befürchtung war nicht eingetroffen. Wenn es Heroin gewesen war. Was war es, was sie fühlte? Eine Blutvergiftung? Ein Infekt? Selbst wenn jetzt eine Untersuchung auf HIV veranlasst wurde, würde das Ergebnis nur den Zustand von vor sechs Wochen zeigen. Sie musste erst zwei Monate warten, bis sie wirklich erfuhr, was Jasmin ihr da angetan hatte.

«Können Sie alle Untersuchungen machen? Alle? Wissen Sie, ich hatte Krebs, er ist geheilt, aber ich meine, es ist doch nicht normal, dass ich …»

Die Ärztin machte eine gütige Miene und tätschelte ihr mütterlich den Arm. «Machen Sie sich keine Gedanken, Ihre Werte sind stabil, Sie haben sich gut erholt.» Sie erhob sich, um zu gehen.

«Warten Sie noch, wissen Sie, wer den Notarzt gerufen hat?»

«Das weiß ich zufällig. Also nicht genau, ihr Name fällt mir nicht ein. Eine Frau, die kennt man sogar vom Fernsehen!»

«Claudia Wondrak.»

«Ja, genau, das hat sich hier herumgesprochen.»

Schauer lehnte sich zurück. Claudia Wondrak. Warum ausgerechnet sie? Mitten in der Nacht. Die letzte Uhrzeit, an die sie sich erinnern konnte, war null Uhr dreißig gewesen. Sie griff nach der Bedienung fürs Krankenbett, damit kannte sie sich gut aus, stellte das Kopfende hoch. Dann sah sie sich um. Viel hatte sie vermutlich nicht dabei. Das Letzte, was sie trug, war ihre Unterwäsche gewesen. Sie hatte nicht einmal ihr Handy. Die Uhr an der Wand zeigte kurz nach sieben. Wie lange würde Bruch benötigen, um zu kapieren, dass sie nicht zur Arbeit kam? Und würde es ihn tangieren in dem Zustand, in dem er sich jetzt wieder befand?

Eine Schwester kam ins Zimmer. Sie war eine Ordensschwester, sah man an Kittel und Haube, sie trug ein kleines Kreuz als Brosche. «Frau Schauer, ich soll Ihnen noch einmal Blut abnehmen.»

«Ist gut», Schauer setzte sich richtig auf, reichte der Frau ihren linken Arm.

Die stellte ihr kleines Tablett auf dem Tisch ab, nahm Desinfektionsmittel, hielt dann inne. «Sagen Sie, haben Sie sich dabei etwas gedacht?», fragte sie dann leise, jedoch nicht ganz ohne Vorwurf in ihrer Stimme.

«Wobei?», fragte Schauer, und wieder wäre es besser gewesen, sie hätte erst hingesehen und dann gesprochen. Auf ihrem linken Innenarm, fast in der Beuge, befand sich ein kleines, aber doch deutlich sichtbares Zeichen wie ein kleines t , dessen Füßchen in ein geschwungenes z überging oder eine Zwei. Schauers Kopf zuckte nach rechts, wo sich an derselben Stelle ihres rechten Armes ein Symbol befand, drei kleine Kreise mit je einem kleinen Schwänzchen, wie Samenzellen, die sich in der Mitte berührten. Beide Symbole waren kaum größer als ein Zehncentstück, die Haut ringsum war gerötet und leicht geschwollen.

«Was ist das?», fragte Schauer.

«Nun, das ist Zeug, mit dem man keinen Spaß treiben sollte», sagte die Ordensschwester ganz ernst.

«Sehe ich aus, als hätte ich Spaß gehabt?», fragte Schauer und bemühte sich sehr, nicht gleich wieder zornig zu werden.

«Nun, dies hier nennt man wohl Saturnzeichen oder, wenn es auf dem Kopf steht, die Satansgabel oder den Teufelshaken, das da drüben ist die dreifache Sechs, die Zahl des großen Tieres oder des Antichrist. Wer Verstand hat, deutet die Zahl des Tieres; denn es ist die Zahl eines Menschen, und es ist die Zahl 666», zitierte die Frau aus der Bibel und bekreuzigte sich.

Schauer betrachtete noch einmal die seltsame Blume, es waren tatsächlich drei Sechsen im Kreis angeordnet, deren Bögen sich in der Mitte trafen.

«Dieses Miststück», flüsterte Schauer.

«Wissen Sie, wer das war?»

«Allerdings», sagte Schauer.

«Darf ich fragen, so wie ich gehört habe, sind Sie Polizistin?»

«Ja.» Worauf wollte die Schwester hinaus?

«Haben Sie mit diesem Kind zu tun? Jasmin Mahler.»

Schauer war zu verblüfft, um zu antworten.

Die Ordensschwester nickte bedächtig und ging nun ihrer Arbeit nach. Geschickt führte sie die Kanüle ein und nahm drei Phiolen Blut. «Ich kann Ihnen nur den Rat geben, halten Sie sich fern von ihr, soweit es geht. Sie scheint eine Ausgeburt der Hölle.»

Bei jedem anderen Menschen hätte man diesen Satz für einen Witz halten können, für Ironie oder einfache Übertreibung. Wenn es aber jemand ernst nehmen sollte, dann sie, eine Nonne, überlegte Schauer. Hatte ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet, wenn sie nicht daran glaubte, wer sonst. «Sollten Sie nicht bemüht sein um solche Kinder? Sollten Sie sich nicht wünschen, man könnte ihr helfen?» Schauers Zorn wuchs, denn das Gerede der Schwester machte ihr Angst.

«Manche Seelen können wohl nicht errettet werden, denen ist ein anderes Schicksal bestimmt. So ich weiß, wurde sie schon mit einem Teufelsmal geboren, es befindet sich unter dem Bauchnabel, nahe der Scham.» Die Schwester schien schneller zu arbeiten, ruppiger, als wollte sie zügig fertig werden.

«Ernsthaft? So etwas wollen Sie mir weismachen?» Konnte sie sich entsinnen, ein Muttermal auf dem Unterleib? Nein, mahnte sie sich, selbst wenn, dummer Aberglaube!

Die Frau sah sie nicht an, wischte die Einstichstelle ab, drückte heftig eine kleine Kompresse darauf. «Bei ihrer Geburt fielen die Lichter aus, und ihrer Hebamme erschien einige Tage später ein Wesen, das sie den Verstand verlieren ließ.»

«Ein Wesen?»

«Ein Ding. Sie konnte es nicht beschreiben. Sie ist buchstäblich verrückt geworden.»

«Reden Sie doch kein dummes Zeug!»

«Das können Sie nachprüfen. Dieses Kind, sag ich Ihnen, von dem lassen Sie lieber, hören Sie einfach auf mich. Dem traue ich noch viel schlimmere Sachen zu.»

«Können Sie nicht mal konkret werden?», fuhr Schauer die Frau an.

«Nun, ich bin hier fertig.» Die Schwester erhob sich, schlug noch ein Kreuz und eilte aus dem Zimmer.

Schauer musste sich einen Moment besinnen. Inzwischen war ihr wirklich, als sei sie in einem Albtraum gefangen. Sie musste Bruch erreichen, sie wusste nun, wonach sie suchen mussten. Jetzt schlug sie die Decke gänzlich zurück. Na toll, dachte sie, nur ein Krankenhausleibchen. Das war ein Problem, schließlich konnte sie nicht mit nacktem Arsch durch die Gegend rennen. Missmutig überlegte sie, kaute auf ihrer Unterlippe. In ihr rumorte es, körperlich und seelisch. Sie war verletzt, vor allem von sich selbst, von ihrer Naivität. Was sie aber hauptsächlich antrieb, war der Gedanke, Jasmin so nicht davonkommen zu lassen. Dieses Kind gehörte in die geschlossene Anstalt. Sie gehörte weggesperrt, trotz oder gerade wegen ihrer Vergangenheit.

Sie begutachtete die Flexüle an ihrem rechten Unterarm. Auch damit hatte sie genug Erfahrung. Sie entfernte den Schlauch, erhob sich vom Bett. Barfuß tapste sie, etwas unsicher noch, zu dem Schwesternschrank, öffnete die Klappen, bis sie Verbandszeug und Pflaster fand. Dann löste sie das Pflaster, mit dem die Flexüle fixiert war, kniff die Lippen zusammen und zog sie mit einer kurzen Bewegung raus. Es brannte nur kurz, doch das war harmlos. Sie klebte sich eine Minikompresse auf den Einstich. Dann trat sie an die Tür, sah hinaus. Weiter hinten verteilte jemand Frühstück, doch die Schwestern schienen alle beschäftigt. Schauer huschte hinaus, nahm den kürzesten Weg ins Zimmer gegenüber, dort lagen zwei ältere Frauen, die sie erstaunt ansahen und deren Kleidung ihr sicher nicht passen würde.

«Das Schwesternzimmer ist weiter vorn, oder?», fragte sie und zog sich sogleich zurück. Wechselte nach schräg gegenüber, fand in diesem Zimmer eine ganz junge Frau und eine im mittleren Alter vor, deren Statur ihrer gleichen mochte.

«Was machen Sie denn hier?», fragte die auch gleich.

«Verzeihung, falsches Zimmer», sagte Schauer, ging aber nicht hinaus, sondern zum Schrank neben dem Bett der Frau.

«He, was machen Sie denn da?», entrüstete sich diese.

«Ich brauch mal ein paar Klamotten, ein Notfall, ich bin von der Polizei. Sie bekommen alles wieder!»

«Hören Sie, hallo!», rief die ältere Frau, selbst an einen Tropf gefesselt.

«Soll ich den Schwesternruf drücken?», fragte die Jüngere ganz schüchtern.

Schauer, die schon eine Hose, einen Pullover und eine Jacke gefunden hatte, hielt inne. Es arbeitete in ihr. Doch dieses Schwitzen und Frieren, diese latente Übelkeit, das war ihr Körper, der das Gift abbaute, ahnte sie. Wer wusste schon, was Jasmin ihr da für eine Ladung verpasst hatte, wer wusste schon, woraus Bruchs Tabletten bestanden. Sie musste das aushalten, sich beherrschen, den Nebel vor ihren Augen vertreiben. Vor allem hatte sie keine Zeit zu diskutieren. Sie warf die Kleidung aufs Bett der Älteren.

«Halt einfach den Mund, und du auch da drüben», zischte Schauer, «Ich brauch nur ein paar Klamotten, davon geht die Welt nicht unter. Ein Notfall, verstehst du?»

Die Frau nickte eingeschüchtert. Schauer sah ihr noch kurz in die Augen. «Keinen Piep!», befahl sie. Sie fetzte sich das Leibchen runter, stieg in die Jeans der Frau, zog sich den Pullover über, dann die Jacke. Unten im Schrank stand ein Paar Winterstiefel. Schauer schlüpfte hinein, sie passten.

«Könntet ihr bitte nicht gleich um Hilfe schreien. Ich will nur von der Station runter. Eine Minute, ja?», sagte sie.

Beide nickten, völlig überwältigt von dieser Situation, so sehr, dass es Schauer schon wieder leidtat. «Danke noch mal, Sie kriegen das Zeug wieder!»

Auf dem Gang war einiges los. Schauer tat so normal wie möglich. Es war ihr nicht verboten zu gehen, sie wollte nur nicht noch mehr unnötige Zeit verschwenden. Es gelang ihr, unbemerkt am Schwesternzimmer vorbeizukommen, grüßte den Mann, der das Frühstück verteilte. Ein letztes Risiko musste sie an der Tür eingehen. Die Scheiben waren verklebt, man konnte nicht sehen, was draußen vor sich ging. So hieb sie auf den Türöffner, die Tür schwang auf, und Schauer eilte hinaus.

«He», rief jetzt jemand, doch nun war es zu spät. Sie eilte los, durch den breiten Flur, in Richtung des Treppenhauses. Die Stufen hinab musste sie sich am Geländer festhalten. Unten im Eingangsbereich war es kühler, das half für den Moment, doch jetzt, als sie draußen stand, wurde ihr erst bewusst, wie aufgeschmissen sie war. Weder hatte sie ein Telefon, noch kannte sie Bruchs Nummer auswendig. Geschweige denn, dass sie Geld für ein Taxi hatte. Doch Rettung nahte. Auf dem Weg nach draußen, in der Hoffnung, einen Taxifahrer überreden zu können, sie erst mal heimzufahren, stand wie eine Engelserscheinung Claudia Wondrak.

 

«Sie sind nicht ans Telefon gegangen», begann Wondrak, nachdem sie sich in ihr Auto gesetzt hatten, einen niedrigen Mercedes, dessen Innenausstattung allein den Wert ihres Autos überstieg. «Und ich dachte mir, jemand wie Sie stellt es bestimmt nicht stumm, es wäre besser, mal nachzusehen.»

«Wann?»

«Gegen zwei in der Nacht.»

«So spät rufen Sie an, warum?»

«Nur so ein Gefühl. Wollte wissen, ob Sie noch etwas in Erfahrung bringen konnten.» Die Fernsehfrau bedachte sie mit einem besorgten Blick.

Schauer hob die Schultern. «Das Waisenhaus, in dem Bruch als Kind war, war eigentlich eine Klinik, und die brannte ab. Ich fand kaum Informationen darüber. Nur ein junger Mann, der es in einer Dissertation erwähnte, starb kurze Zeit darauf.»

«Christian Kleiber», wusste Wondrak sofort. «Selbstmord.»

Schauer sah sie an. «Woher wissen Sie das alles?»

«Es ist mein Job, Dinge in Erfahrung zu bringen.»

Mehr zu fragen, fiel Schauer nicht ein. Sie schwitzte und fror in kurzen Schüben. Wondrak schwieg, bis sie bei Schauers Wohnhaus angelangt waren.

«Ich habe gar keinen Schlüssel. Ich habe nichts.»

«Ich habe ihn.» Wondrak griff sich in die Manteltasche, nahm den Schlüsselbund heraus.

«Wie? Waren Sie in meiner Wohnung?»

«Ins Haus unten bin ich hineingekommen, die Tür war nicht verriegelt. Und Ihre Wohnung stand offen.»

«Und wie sah sie aus?»

«Nichts Ungewöhnliches, nur Sie lagen in der Küche.»

«Waren Sie in jedem Zimmer?»

«Sie meinen, jemand könnte da gewesen sein? Wer?»

«Sie wissen nicht, was mit mir geschehen ist?»

«Überdosis», erwiderte Wondrak knapp.

«Sie meinen, ich …»

«Es ist mir egal, ich habe kein Recht zu urteilen.»

«Es gibt nichts zu urteilen. Ich nehme keine Drogen.»

«Gehen wir hoch?»

Schauer nickte, und sie stiegen aus.

 

Nichts. Es war nichts in der Wohnung, das an die Ereignisse der Nacht erinnerte. Kein Zeichen von Jasmin, nichts schien gestohlen. Nichts beschmiert. Selbst in der Küche war der Boden blank. Man könnte meinen, die letzte Nacht wäre nur ein schlimmer Traum gewesen. Wären da nicht diese zwei Stellen in ihren Armbeugen, die wuchtig pulsierten wie Brandblasen.

«Ich habe es weggemacht. Ich dachte, so könnte es nicht bleiben», kommentierte Wondrak.

«Die Küche?», fragte Schauer und sah sich genauer um.

«Ja. Suchen Sie etwas?», fragte Wondrak.

Schauer schüttelte langsam den Kopf.

«Das Besteck habe ich da reingetan.» Wondrak zeigte auf eine Schublade.

Schauer verstand nicht gleich, zog sie auf, sah die Nadel, den Löffel, eine kleine Tüte voll weißen Pulvers.

«Das ist nicht von mir …» Schauer verstummte, jede Beteuerung machte sie bloß verdächtiger. Wondrak schwieg dazu. Sie dachte sich sowieso ihren Teil. Was war dran an dem, was Jasmin gesagt hatte? War sie vielleicht wirklich eine Lesbe, glaubte Claudia, sie wäre auch eine? Lag es nur an dem Haarschnitt und dass sie keinen Mann hatte und dass ihr schnell die Hand zuckte?

«Ich gehe mich mal waschen und umziehen. Wollen Sie sich so lange setzen?» So dankbar, wie sie war, dass Wondrak sie abgeholt, ihr womöglich auch das Leben gerettet hatte, sie konnte jetzt hier nicht bleiben.

«War sie das?», fragte Wondrak und deutete vage auf ihre Armbeugen mit den Tätowierungen.

Natürlich, sie musste es gesehen haben. Und natürlich musste sie die Handschellen gesehen haben, vermutlich hatte sie sie sogar daraus befreit.

Wondrak überging das Schweigen. «Das ist sicher mit einer Nadel und Ruß gemacht, lässt sich, glaub ich, leicht entfernen. Mit Laser. Wenn es nicht sowieso ausfällt. Frag mich nur, warum sie das Bedürfnis hat, so was zu tun.»

«Wenn man das wüsste.» Schauer hatte keine Lust, darüber zu sprechen.

«Vielleicht wollte sie Sie markieren. Oder vielleicht soll es so was wie ein Schutzzauber sein.»

Schauer hätte fast gelacht, so dämlich war das, Schutzzauber, doch ehe sie etwas erwidern konnte, begann irgendwo ihr Telefon zu klingeln. Das musste Bruch sein. Sie war schon weit über der Zeit.

Sie fand das Telefon im Schlafzimmer, und es war nicht Bruch, der anrief, es war Voss, der Mann von der Spurentechnik, der sie auf die Glitches in den Überwachungsaufnahmen hingewiesen hat.

«Ich hatte gehofft, Sie im Präsidium anzutreffen», begann er.

«Ich komme später, wurde aufgehalten.»

«Nein, Sie müssen nicht extra kommen. Hören Sie, ich habe es nur zufällig mitbekommen. Nach ersten Auswertungen der Ballistik stammen die Kugeln, mit denen Simon und Juskat umgebracht wurden, aus derselben Waffe. Dieselbe Waffe, verstehen Sie!»

Schauer hatte alle Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. Das war der endgültige Beweis, dass hier alles zusammenhing. Simon und Juskat waren mit derselben Waffe umgebracht worden. Der Waffe, die man zusammen mit Jasmin bei Juskat fand.

«Danke für die Information», gab sie sich neutral, damit die Wondrak nicht stutzig wurde.

Schauer legte auf, dann nahm sie sich neue Kleidung aus dem Schrank. Wondrak saß im Wohnzimmer. «Bruch?», fragte sie.

Schauer lachte zynisch. «Der ist gerade gar nicht zu gebrauchen.» An der Badtür hielt sie noch einmal inne. «Sie hätten mich warnen können, wie gefährlich sie ist.»

«Ich meine, das war doch klar, oder?» Wondrak erhob sich, trat in den Flur. Näherte sich ihr, bis sie direkt vor ihr stand und ihr Atem Schauer streifte. Sie hob die Hand, berührte Schauers Schulter. «Ich muss los, rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen oder vielleicht einfach zum Reden.»

«Ich danke Ihnen, dass Sie …» Sie nickte in Richtung Küche. Gerade war ihr ein Gedanke gekommen. Im Prinzip hatte Jasmin sie darauf gebracht.

«Schon gut.» Wondrak drückte nun die Wange gegen ihre, musste wegen ihrer hohen Schuhe dazu ganz leicht die Knie beugen. «Passen Sie auf sich auf.»

 

Bruch sah auf. Schauer betrat den Raum, mit ihr kam dunkler Nebel. Sie setzte sich wortlos. Es ging ihr nicht gut. Schweiß stand ihr auf der Stirn.

«Was hast du gemacht, bisher?», fragte sie unvermittelt.

Er hatte gesessen und gewartet.

«Felix!», fuhr sie ihn an.

Sie war gezeichnet.

«Hast du hier gesessen? Die ganze Zeit? Hast dich nicht gewundert, warum ich nicht da bin? Hast nicht angerufen? Hast nicht gedacht, ich frag mal, wo sie bleibt?»

All das hatte er tun wollen, doch ihm war gesagt worden, zu sitzen und zu harren. «Siehst du das?» Sie hob eine Fotografie hoch. «Ich war gerade im Konferenzraum, wo die ganzen Fotos aus Ollmanns Wohnung liegen. Nachdem ich wusste, wonach ich suchen musste, habe ich gar nicht lange gebraucht. Siehst du das?»

Er sah, doch es war falsch, sie war auf dem falschen Weg.

«Du machst mich wahnsinnig mit deinem Schweigen.» Sie wedelte mit dem Foto vor seinen Augen. «Man braucht zwar ein paar Momente, ehe man es versteht, die Frisur ist anders, und sie ist viel jünger, aber das ist Nora Mahler! Auf Ollmanns Schoß. Wie konnten wir das übersehen? Er hat ihr vermutlich die Tätowierungen am Hals gemacht. Vor fünfzehn Jahren. Hörst du, Felix? Oder hast du sie erkannt und es mir absichtlich verschwiegen? Was läuft hier, was?»

Er hörte sie. Er wollte ihr zu Hilfe eilen. So wie er früher hatte ausbrechen wollen, aus dieser dunklen, kalten Hölle, die sich seine Kindheit nannte. Wie er den anderen hatte helfen wollen. Doch so wie er es damals nicht gewagt hatte, wagte er es auch jetzt nicht.

«Wir müssen Jasmin zur Fahndung ausrufen. Jetzt! Man muss sie finden. Sie ist eine Gefahr. Und sie muss sagen, was in der Nacht wirklich geschah.»

«Das ist der falsche Weg», sagte Bruch.

«Ach ja? Da schau mal einer an. Er spricht. Der falsche Weg? Was hat sie denn mit dir gemacht? Hat sie dich befummelt? Hat sie dich vergiftet? Dir Heroin gespritzt? Dir irgendwelche Zeichen in die Haut gestochen?»

Sie wartete gar nicht auf eine Antwort.

«Felix, die Waffe, die wir bei Juskat fanden, ist dieselbe, mit der Simon erschossen wurde. Noch dazu jetzt dieser tote Tätowierer. Alles, all das hängt zusammen. Nora Mahler wollte Ollmann loswerden. Weil sie fürchtete, er könnte etwas über sie aussagen, was sie noch mehr belastet, und um zu verhindern, dass wir die Verbindung zwischen ihr und Ollmann finden, musste sie die Fotos beseitigen. Aber sie kann es nicht gewesen sein, sie sitzt im Gefängnis. Jasmin aber nicht! Jasmin hat keine Scheu, ihren Körper zu verkaufen. Und sie hat keine Skrupel, zu verletzen und sicher auch nicht zu töten. Vielleicht sollten wir noch mal ganz von vorn anfangen, darüber nachzudenken.»

Er nickte, doch wie sollte er ihr das noch erklären? Wie sollte er ihr weismachen, dass sie hinter ihr lauerten? Direkt hinter ihr. Im Schatten, er sah sie. Wie sie ihren Bewegungen folgten, ihren Worten lauschten.

Schauer sah auf. «Wo warst du letzte Nacht?»

Daheim, er hatte daheim gesessen, im Finstern. So wie sie früher manchmal hatten hocken müssen. Ganz im Dunklen, ohne ein Geräusch von sich zu geben. So lange, bis die Kälte schmerzhaft wurde.

«Wir müssen sie finden, Felix, komm mit.» Sie erhob sich, musste sich kurz an der Tischkante festhalten.

«Man kann ihnen nicht entkommen», sagte er leise. Ein paar Tage vielleicht, oder sogar ein paar Jahre, aber irgendwann fanden sie einen wieder. Ihn hatten sie wiedergefunden, als er vor vier Jahren Nora Mahlers Haus betrat.

«Halt deinen Mund, das ist dummes Gewäsch. Du redest wie sie, wie Jasmin, Felix. Als wärst du angesteckt mit irgend so einer Krankheit. Komm jetzt.»

«Wo willst du hin?»

«Zu ihrem Haus wieder, es ist Winter. Sie weiß nicht, wohin. Irgendwo muss sie sein. Oder hast du Angst?»

Bruch erhob sich. Er würde mitgehen. Angst hatte er nicht. Aber sie sollte Angst haben.

 

Es hätte ihr schon eher auffallen müssen, warf sie sich vor. Aber vielleicht waren es zu viele Fotos gewesen, zu viele Gesichter, zu viele Gedanken, die sie sich um andere Dinge gemacht hatte. Natürlich waren ihre Züge viel weicher, die Frisur anders, die Augen anders geschminkt. Doch ein wenig mehr Konzentration, und sie hätte Nora Mahler erkannt. Vielleicht wäre es ihr dann leichter gefallen, Jasmin an der Tür abzuweisen, die Kollegen zu rufen, sie festnehmen zu lassen. Dieses Foto, Nora Mahler, damals noch Nora Irmisch, auf dem Schoß von Jens Ollmann, die Arme um seinen Hals geschlungen, Wange an Wange, bei einer Feier. Nicht wie irgendwelche Bekannte. Eher wie Freunde. Eher wie ein Paar. Wenn es auch nur kurze Zeit so gewesen sein mochte. Die Leute ringsum unwichtig. Wichtig nur, dass Nora diesen Mann kannte und ihm diese Bekanntschaft nun offenbar zum Verhängnis geworden war.

Vielleicht wäre es besser gewesen, Bruch wäre nicht mitgekommen. Als Mensch, Kollege, geschweige denn Freund kaum zu gebrauchen. Dieser Fall triggerte seine Psychosen, seine Kindheitsalbträume, seine verdrängten Ängste. Es war kein Zufall, dass sein geistiger Verfall im selben Jahr so drastisch einsetzte, als Thomas Mahler umgebracht wurde.

«Der Name Christian Kleiber ist dir bekannt?», fragte sie, nachdem sie schon zwanzig Minuten im Auto gesessen hatten.

«Er ist von einem Hochhaus gesprungen.»

«Er hatte etwas über das Heim geschrieben. Über den Brand. Kurz darauf musste er sich umgebracht haben.»

«Seine Freundin verließ ihn. Er wollte sie heiraten, und sie war schon schwanger von ihm.»

«Du meinst, er brachte sich aus Liebeskummer um?»

Bruch nickte.

«Felix, deine Großeltern, die leiteten kein Heim. Eine Klinik war das. Eine Kinderklinik. Für geistige Erkrankungen. Verstehst du? Verstehst du das? Ich möchte gern wissen, was dort vor sich ging! Hat diese Kiste unter deinem Bett etwas damit zu tun? Der angeschmorte Teddy? Warst du dabei bei dem Brand? Vier Kinder sollen ums Leben gekommen sein.»

Bruch blieb ganz stumm. Was in seinem Inneren vor sich ging, war nicht zu erkennen.

«Felix, auf welcher Seite stehst du? Wenn wir Jasmin finden sollten, in diesem Haus. Wenn sie anfängt zu sprechen, wo stehst du?»

Bruch schwieg.

Schauer wartete zehn Sekunden, zählte sie einzeln ab. Dann trat sie voll in die Bremse. Bruchs Hand zuckte vor, stemmte sich am Armaturenbrett ab. Ausdruckslos sah er sie an, wie ein Kind, das es schon gewohnt war, ausgeschimpft zu werden.

«Die hat mir Heroin gespritzt! Mit einer dreckigen Spritze», zischte Schauer ihn an. «Die hat mich begrabscht im Schlaf und mir von deinen Tabletten gegeben. Die hat möglicherweise zwei oder drei Menschen umgebracht. Wo stehst du? Was gibt es da nachzudenken?»

Sie hörte sich reden und verstummte. Es war zwecklos. Er war genauso kaputt wie Jasmin oder Nora. Und er konnte gar nichts dafür.

«Man kann es sich nicht aussuchen», sagte Bruch leise. «Piotrowski saß im Wohnzimmer mit Jasmin, nachdem ihr Vater erschlagen worden war. Er saß und wusste selbst nichts zu sagen. Da zeigte sie auf das Fenster und sagte: Der war’s. Piotrowski sah hin. Als ich kurz darauf mit Simon ankam, kam er zu mir und sagte, eine Gestalt hätte dort gestanden und ins Fenster geblickt. Sie muss groß gewesen sein, und ihr Gesicht war nicht das eines Menschen.»

Er sprach wie eine Maschine.

«Er wollte zu Schubert gehen, es ihm erzählen, sagte er mir. Er wollte ihn fragen, ob sie nachsehen wollten. Doch Schubert war mit Nora beschäftigt, die den Molch mit dem Hammer erschlug. Der Molch, sagte Schubert aus, wäre aus Thomas Mahlers Mund gefallen. Später sagte Piotrowski, es könnte ein Tier gewesen sein, das ins Fenster geblickt habe. Manchmal kommen Wildschweine aus dem Wald, manchmal Rehe. Warum nicht ein Hirsch? Bei der nächsten Befragung nahm er das alles zurück, sagte wie Schubert aus, von allem nichts gesehen zu haben.»

«Und der Molch, der tote Molch?»

Bruch sah sie nicht an, starrte in die Vergangenheit. «Simon veranlasste, dass all diese Aussagen von Piotrowski und Schubert aus den Protokollen entfernt wurden, da sie als Reaktion auf den ersten Schock von geringer Aussagekraft waren.»

«Aber du glaubst, es war nicht der Schock, du glaubst, es war so?»

Er nickte.

«Was willst du mir mit alldem sagen? Dass jemand anders all das arrangiert haben könnte?»

Bruch sah ihr nun in die Augen und schüttelte ganz knapp den Kopf.

Schauer wich im Sitz zurück. «Felix, du glaubst den ganzen Mist? Du glaubst daran, stimmt’s? Statt den Tatsachen nachzugehen, dass entweder jemand Thomas Mahler beseitigen wollte oder dass vielleicht sogar Jasmin ihren Vater umgebracht hat, glaubst du, der Teufel wär’s gewesen?» Sie lachte, jedoch nur, weil es zu absurd war. «Felix, das ist Humbug. Das haben die euch eingeredet, wie den Weihnachtsmann. Irgendjemand, in der Klinik vielleicht. Das haben die gemacht, damit ihr artig seid und folgt! Der schwarze Mann, der sich in dein Zimmer schleicht, die alte Muhme, die Kinder ins Getreidefeld lockt, Gonger sagen manche im Norden, ein Wiedergänger. Das sind Sagengestalten, die nur dazu dienen, kleinen Kindern Angst zu machen. Du bist doch erwachsen!» Aber war es Humbug? Glaubten nicht Milliarden Menschen an Götter, richteten ihr ganzes Leben nach ihnen aus, so wie diese Nonne ihr Leben dem lieben Gott gewidmet hatte, selbst glaubte, dass der Teufel existierte? Warum sollte Bruch nicht daran glauben dürfen, dass es den Teufel gab?

«Ich hab sie gesehen», flüsterte Bruch, und ihr schien, als könnte sie den kleinen Jungen erkennen, der er einst gewesen war. Ein einsamer Junge ohne Eltern. «Ich hab sie gesehen und du auch!»

«Seitdem Jasmin bei dir war, bist du völlig irre, Felix. Was hat sie dir bloß eingeredet?», fragte sie ganz ohne Kraft. Aber was hatte sie gesehen? Die Gestalt auf dem Dach von Schuberts Laube, dieses komische Ding, bei ihr daheim, was war das?

«Sie sind da. Sie verstecken sich hinter Dingen, und manchmal zeigen sie sich. Sie sind hier.»

Nein, sie durfte sich nicht anstecken lassen. «Felix, du gehörst in eine Anstalt. Weggesperrt. Wie Jasmin.»

«Ich habe sie gesehen, sie kamen mich schon besuchen, da war ich noch ein ganz kleines Kind. Sie kamen an mein Bett und sahen hinein, und nur wenn man ganz still war und sich nicht regte, gingen sie wieder. Nachdem ich vor vier Jahren am Tatort war, begann es wieder. Sie kamen zu mir nach Hause, sie kamen ins Zimmer meiner Tochter. Deshalb ging ich weg. Nahm mir eine Wohnung, deshalb habe ich sie seitdem nicht mehr gesehen.»

Er schien es ernst zu meinen. Vollkommen ernst. Da gab es keine Pointe, keine Auflösung. «Lieber Herr im Himmel», flüsterte sie. Dann fuhr sie wieder an. «Komm mit rein, oder nicht. Ist mir egal.»

 

Etwas war anders als bei ihrem ersten Besuch, ohne dass sie hätte beziffern können, was es war. Als läge ein neuer Geruch in der Luft, eine ganz leichte Note. Sie war nicht mehr bereit, sich auf irgendwelche Kompromisse einzulassen, hatte ihre Pistole gezogen. Bruch folgte ihr, doch während sie sich mit vorgehaltener Waffe wenigstens vorsichtig vorantastete, lief er aufrecht, als wäre er gar nicht beteiligt, sah sich nur gelegentlich nach hinten um.

Schauer betrat die Küche, wo es nach Tier roch, bewegte sich langsam zum Wohnzimmer. Sie folgte einer Eingabe, ging zum Sofa und setzte sich, so wie Jasmin mit Piotrowski gesessen haben mochte. Zwei Fenster gab es hier, eines vor zur Straße, eines zum Grundstück, in Richtung der alten Nachbarn.

«Wohin sollte Jasmin gezeigt haben?», fragte Schauer.

Bruch antwortete nicht, wusste es nicht, oder war gar nicht anwesend. Er sah zum seitlichen Fenster hinaus.

Schauer stand auf, es hatte sowieso keinen Zweck. «Komm», sagte sie. Ein Gefühl beschlich sie, mehr als nur die Kälte in diesem Haus. Etwas war geschehen. Jasmin war hier gewesen, oder war noch hier, sie oder jemand anderes. «Komm», sagte sie noch einmal, schon in der Tür zum Treppenhaus, denn Bruch hatte sich nicht bewegt.

«Sie waren hier», sagte Bruch.

Schauer seufzte, kehrte zu ihm zurück, blickte aus dem Fenster. Viel war nicht zu sehen, die Wiese neben dem Haus mit dem Spielplatz, der nie genutzt worden war, ein alter Obstbaum, dahinter die hohe dichte Hecke, hinter der das Haus der Alten kaum auszumachen war, so hoch und dicht war sie. Nur das oberste Fenster war zu sehen, und weil es leicht versetzt stand, der obere Teil der Rückseite. Ansonsten nichts.

Dafür hatte sie eine ganz andere Idee. «Komm mal mit!», bestimmte sie, und Bruch folgte ihr in die Küche, zur Ausgangstür.

«Hilf mir!», bat sie und versuchte die Holzplanke abzureißen, mit der das kaputte Fenster in der Tür provisorisch repariert worden war. Bruch griff mit zu, und gemeinsam gelang es ihnen, das Brett abzureißen.

Schauer ging raus, zog die Tür hinter sich zu. Nur für sich ahmte sie einen Schlag nach, mit dem das Glas zerbrochen wurde. Die Scheibe sollte nicht viel Widerstand geboten haben, die Tür war keine Sicherheitstür. Schauer griff in die Fensteröffnung, sah sich unten um, fand einen kleinen Sockelabsatz, auf den sie ihren Fuß stellen konnte, und gewann so noch vierzig Zentimeter Höhe, sodass sie schon ohne Mühe den Oberkörper durch die Fensteröffnung schieben konnte. Zwar bekam sie das Bein nicht hinein, doch gelang es ihr, mit einer Rolle vorwärts in die Küche zu kommen, auch wenn sie etwas unsanft landete. Sie streckte die Hand nach Bruch aus, der ihr seine bot, um sie hochzuziehen.

«Mit etwas Übung ist das überhaupt kein Problem. Und hier!» Sie griff wieder hinein, sprang ab und gelangte auf dieselbe Weise wieder ins Freie. «Sogar du kämst durch. Wer soll denn probiert haben, durch die Tür zu steigen?», fragte sie Bruch durch das offene Fenster.

«Lass uns …» Ihr Telefon unterbrach sie. Buchholz rief an.

«Was ist?», fragte sie.

«Haben Sie Kontakt zur Polizei in Fulda aufgenommen?», fragte der Kollege. «Es rief gerade jemand an. Sie sagen, es sei zwar nicht möglich, das Fahrzeug zu identifizieren, doch es wäre möglich, dass es sich bei dem Mann auf dem Bild um einen Kollegen handelt.»

«Einen Polizisten?»

«Ja, aus Fulda. Sein Name ist Sören Hertwig. Hauptkommissar. Die haben eine E-Mail geschickt, mit einem Foto von ihm.»

Buchholz hörte sich seltsam an, ein wenig außer Atem.

«Schicken Sie mir das! Als E-Mail, oder fotografieren Sie es vom Bildschirm ab!» Damit könnten sie jetzt gleich zu den Nachbarn gehen, sie fragen, ob er der Mann war, den sie gemeinsam mit Thomas Mahler gesehen hatten. «Und haben die eine Telefonnummer hinterlassen, können wir ihn sprechen?»

Buchholz räusperte sich. «Mit dem können Sie nicht sprechen, der Mann ist tot!»

Schauer schloss die Augen. Für einen Moment verlor sie alle Kraft. Es hatte keinen Sinn, dagegen anzurennen. Das konnte alles einfach kein Zufall sein.

«Und jetzt kommt was, das werden Sie nicht glauben.» Buchholz schnaufte. «Der Mann starb in derselben Nacht wie Thomas Mahler. Seine Frau meldete ihn vermisst. Man fand sein Auto in der Nähe eines Teichs, und wenige Stunden später fanden Taucher seine Leiche. Man ging damals von Selbstmord aus.»

«Er starb am selben Tag wie Thomas Mahler?», flüsterte Schauer und sah Bruch durch die Fensteröffnung in der Tür an, der unverwandt zurückstarrte.

«Seine Frau sagte aus, er wäre in den Monaten zuvor mehrmals über Nacht weggeblieben, ohne zu sagen, wo er war, und auch in dieser Nacht war er weggefahren. Nur dass er eben nicht wiederkam. Da sie sowieso schon besorgt war, rief sie gleich die Polizei.»

«Mehr konnte sie nicht sagen, mit wem er sich traf und warum?»

«Nein, aber die Fuldaer Polizei sagte, man hätte sich damals mit der Dresdner Polizei in Verbindung gesetzt und sie darüber informiert. Denn man fand in seinem E-Mail-Postfach eine E-Mail von Thomas Mahler, die mehrere Monate alt war und in der er Hertwig fragte, ob sie sich treffen könnten.»

«Die Dresdner Polizei wusste davon?», keuchte Schauer. «Sie auch?»

«Ich, nein», sagte Buchholz, und diese zwei Wörter bekamen durch ihre Betonung gleich noch eine andere Bedeutung. Er mochte nichts davon gewusst haben. Andere schon.

Schauer erwiderte Bruchs starren Blick, bis ihr selbst die Augen brannten. «Danke erst mal, das Bild hätte ich trotzdem gern noch», sagte sie ins Telefon und legte auf. Sie öffnete die Tür und betrat die Küche. «Ihr wusstet von dem Beamten aus Fulda, du und Bartko und Simon», wandte sie sich an Bruch.

«Er hätte sich nicht einmischen dürfen», erwiderte Bruch.

«Wo einmischen?»

«Er war gewarnt worden.»

«Felix! Wo einmischen? Wie wurde er gewarnt? Von wem?»

«So wie du. Auch du wurdest gewarnt.»

Es passierte so schnell. Ihre Hand zuckte vor, und es klatschte regelrecht, als sie Bruch ins Gesicht fuhr. Bruchs Kopf drehte sich zur Seite. Schauer sah ihn entsetzt an, fürchtete, er könnte sich vergessen. Doch nichts geschah, nur dass sich seine linke Gesichtshälfte rot färbte.

«Felix, komm zu dir», bat sie, «das hier, das ist alles nur … keine Ahnung, das ist nicht real, verstehst du? Ich habe von deinen Tabletten bekommen, du … du darfst die nicht mehr nehmen, die verändern dich, die lassen dich Dinge sehen, die nicht real sind, sie töten alles ab, was …» Schauer verstummte. Was immer sie sagte, es fand kein Gehör. Sie war allein.

«Gottverdammt», fluchte Schauer leise, und nur mit Mühe hielt sie ihre Tränen zurück, so verzweifelt war sie. «Wo bin ich hier nur reingeraten?» Ihr Telefon begann in ihrer Jacke zu vibrieren. Ließ sie erneut zusammenfahren. Sie musste cool bleiben. Vernunft bewahren. Als Einzige. Sich sammeln.

«Schauer», sagte sie, obwohl sie schon Simons Nummer erkannt hatte. Sie musste unbedingt den Namen im Telefonspeicher ändern.

«Frau Kollegin», begann Wenzel in einem Tonfall, der nichts Gutes verhieß. «Haben Sie in letzter Zeit den Fernseher eingeschaltet oder ins Internet gesehen?»

«Nein, hab gerade andere Sorgen.»

Wenzel blieb für einen Moment stumm. «Schauer, Sie sind heute Morgen mit dieser Wondrak von, was ist das?, RTL , gesehen worden. Hier läuft gerade eine Sondermeldung, und auf allen sozialen Medien wird über Simons Tod berichtet, und er wird in Zusammenhang gebracht mit Juskats Tod und Mahlers Tod vor vier Jahren. Noch dazu ist die Firma Narclab erwähnt worden. Und sogar der tote Tätowierer wird dort mit aufgezählt. Schauer, das sind Interna, Unterlagen der strengsten Geheimhaltung. Hier werden Dinge vermischt, die stehen in gar keinem Zusammenhang. Hier entsteht Schaden, verstehen Sie? Für uns und für andere. Narclab steht kurz davor, verkauft zu werden, das ist eine halbstaatliche Firma, hier geht es um Millionen, um Hunderte Millionen, verstehen Sie? Und, Schauer, uns ist zu Ohren gekommen, Sie hätten einen ärztlichen Befund, der auf eine Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz hinweist.»

«Es besteht ein Zusammenhang, wir haben Nora Mahler auf Fotografien mit Ollmann entdeckt, sie kannten sich, waren einmal ein Paar!», sagte Schauer so bedacht wie möglich.

«Frau Hauptkommissar», stöhnte Wenzel fast verzweifelt, «Nicole, darum kümmern wir uns», nun senkte er die Stimme, «was ist denn nur los mit Ihnen!»

«Und wir sind auf einen Mann gestoßen, Sören Hertwig, aus Fulda …»

«Fulda, ich weiß gar nicht …»

Schauer hob die Stimme. «Der hatte Kontakt zu Thomas Mahler, Wochen vor dessen Tod, und er starb am selben Tag wie Mahler, am selben Tag, hören Sie! Und die Ermittler hier wussten das, und trotzdem hat man Nora Mahler des Mordes angeklagt, aber hier läuft etwas anderes, verstehen Sie?»

«Nein, Schauer, ich verstehe nicht, und ich will auch gar nicht. Ich weiß nur, dass Sie sich nicht mit Presseleuten unterhalten und denen irgendwelche Interna mitteilen sollten. Und ich weiß, dass Sie keine Drogen nehmen sollten, wo drauf sind Sie denn jetzt gerade? Sie sind wieder beurlaubt, verstehen Sie? Ich werde eine Dienstbeschwerde gegen Sie anstrengen. Ich brauche eine Stellungnahme zu Ihrer Blutprobe und eine Stellungnahme zu Ihrem Kontakt zu dieser Fernsehfrau! Und ich brauche eine Stellungnahme zu dem Vorfall mit Sven Kunath, dass Sie bei ihm waren, ist nachgewiesen, verstehen Sie das? Nach-ge-wiesen! Sie fahren jetzt nach Hause, oder gehen Sie zum Arzt, mir egal. Bruch übernimmt solange und übergibt dann sämtliche Unterlagen an die Kollegen vom BKA

«Was haben die jetzt damit zu tun?», fragte sie wütend. Bruch sollte übernehmen, das war geradezu lächerlich. Und noch lächerlicher, dass sie geglaubt hatte, Claudia Wondrak könnte tatsächlich so etwas wie eine Freundin werden.

«Sie selbst haben das aufgebracht, Schauer, dass Jasmin Mahler Simon erschossen haben soll, und Sie implizieren, dass Jasmin auch diesen Ollmann umgebracht hat und vielleicht sogar ihren Vater, ein damals zwölfjähriges Kind.»

«Und ich soll jetzt nach Hause gehen? Die Einzige, die hier nicht versucht, etwas zu vertuschen?»

«Etwas zu vertuschen?» Wenzels Stimme wurde fast schrill.

«Merken Sie nicht, was hier läuft. Jemand versucht hier, massiv einzugreifen. Hier werden wehrlose Menschen zu Schuldigen gemacht.»

«Schauer, Sie sind ja völlig abgedreht!» Jetzt schien Wenzel sogar zu lachen.

Sie konnte gar nicht mehr auseinanderhalten, ob sie wütend war, verzweifelt, oder ob sie gerade verstand, was vor sich ging. Hier war jemand dabei, sie fertigzumachen. Sie beherrschte die Wut und zwang sich zu gemäßigtem Ton. Bruch nahm sie am Rande wahr, wie er seinen Kopf gedreht hatte und in den dunklen Flur starrte.

«Dann erklären Sie mir doch den Aussetzer der gesamten Videoanlage der Sicherheitskameras», sagte sie so beherrscht wie möglich.

«Welche Aussetzer? An der Videoanlage wurde gearbeitet in den Tagen davor, eine Systemumstellung, aber die verlief einwandfrei!»

«Es gibt Aussetzer, ausgerechnet zu zwei Zeitpunkten, gerade dann, als Simons Mörder das Gebäude betreten und wieder verlassen haben könnte. Da wurde an der Zeitanzeige manipuliert, da wurden Aufnahmen verfälscht», keuchte Schauer.

«Woher wollen Sie denn wissen, wann der Täter kam und ging? Aber wissen Sie, ich habe keine Lust, sinnlos zu diskutieren. Sie werden …»

«Nora Mahler war auf einem Bild aus den Fotokisten von Ollmann, haben wir aus seiner Wohnung geholt. Sie hat sich von ihm tätowieren lassen. Sie wollte Beweise vernichten. Sie hat Jasmin auf den Mann gehetzt.»

«Haben Sie das lückenlos dokumentiert? Dass das Bild wirklich aus Ollmanns Besitz stammt?»

Hatten sie nicht, weil hier nichts nach normalen Regeln ablief. «Es ist doch vollkommen egal, woher das Bild stammt, wichtig ist doch, dass es existiert», presste sie durch die Zähne.

«Schauer, genug jetzt, gehen Sie heim. Sie sind beurlaubt. Sollten Sie sich weigern, sehe ich mich gezwungen, Sie in Gewahrsam zu nehmen.»

 

Bruch sah sie an, sah sie das Telefon wegstecken. Sie sah ihn an. Die blanke Verzweiflung im Gesicht, Fassungslosigkeit und Wut. Er wollte ihr sagen, dass sie gehen sollte. Rennen. Fliehen. Er wollte ihr helfen. Er sah ihre Verzweiflung, so wie er früher die Verzweiflung in den Gesichtern der anderen Kinder gesehen hatte. So wie er ihnen hatte helfen wollen und es doch nicht getan hatte.

Es war alles zurück. Er konnte sich an alles erinnern, die Ängste, die langen Stunden in Stille und Kälte, an den Geruch von Urin, an ihre Schatten. Sie hatten ihre Klauen nach ihm ausgestreckt, hatten ihn erfasst, hielten ihn fest und machten ihn taub und steif. Einzig seine Wange war warm, als weckte ihn der Sonnenschein an einem Sommertag.

«Ich gehe nach Hause», sagte sie, und Bruch sah, alle Kraft war ihr entwichen.