17

Es ging ihr schlecht, als sie daheim ankam. Logisch, diese Nacht konnte rein körperlich nicht spurlos an ihr vorbeigegangen sein. Es war gut möglich, dass Wondrak ihr das Leben gerettet hatte. Doch musste sie dieser Frau dankbar dafür sein? Immerhin hatte sie ihr diesen Trip erst eingebrockt, indem sie ihr ans Herz gelegt hatte, sich um Jasmin zu kümmern. Sie hatte Mühe, das Auto zu parken. Jetzt war es offensichtlich, dass die Wondrak sie auch nur ausgenutzt hatte. So wie sie sich vor ein paar Jahren an Bruch herangemacht hatte. Da war kein Mitleid mit Jasmin, keine Zuneigung. Alles, was sie tat, geschah wohl nur ihrem Job zuliebe, den Schlagzeilen, die sie machte. Alles, was sie gesagt hatte, dass sie ihr geholfen hatte, nur Heuchelei, hatte ihr schlimmsten Ärger eingebracht. Und schlimmer noch, trotz ihrer Vorsätze, cool zu sein, bedacht, hart, sich nicht unterkriegen zu lassen, war sie in die Falle getappt wie ein kleines dummes Mädchen. Einmal mehr hatte sie jemandem Vertrauen geschenkt und war enttäuscht worden.

Nun schwitzte und fror sie gleichzeitig, ihr war übel, und Hunger hatte sie, Gedanken wie Fieberträume kreisten in ihrem Kopf, ließen sich nicht ausschalten, obwohl sie wach und bei Sinnen war. Dieser Molch, was hatte das für einen Sinn? Wieso soll ein solches Vieh aus Mahlers Mund gekrochen sein? Das war ein richtiger Albtraum, alles, das alles. Ihr Chef wurde erschossen, sie wurde fast vergewaltigt, sie bekam Drogen gespritzt, niemand glaubte ihr, ihr neuer Chef suspendierte sie, sie war hier die Dumme, obwohl sie die einzige Vernünftige schien. Das vorher war doch alles nur lächerlich gewesen. Was war schon ein Typ, der sie verlassen hatte, oder Eltern, die ihre Schwester bevorzugten, dagegen, läch-er-lich. Glaubte sie vorher, Probleme gehabt zu haben; jetzt hatte sie wirklich welche.

«Entschuldigen Sie», rief jemand. Die Straßenlaternen waren schon angesprungen, es war früher Nachmittag, es roch, als würde es bald wieder schneien, es wurde kälter, der Wind biss im Gesicht. Der reinste Himmel für all die normalen Menschen, die auf weiße Weihnacht hofften. Eine Frau kam heran. Schauer glaubte sie schon einmal gesehen zu haben. Mittelgroß, zweckmäßige Kleidung, Ende zwanzig vielleicht, aber sie wirkte viel älter durch ihr Auftreten und die altmodische Kurzhaarfrisur.

«Entschuldigen Sie.» Nun war die Frau herangekommen, blieb aber in respektvollem Abstand stehen. «Sie sind doch die Polizistin, die im Heim nach Jasmin gefragt hat?»

Daher kannte sie das Gesicht. «Wieso, verflucht noch mal, weiß jeder, wo ich wohne?», fragte Schauer. Und wieso überhaupt gab das Krankenhaus irgendwelche Untersuchungsergebnisse an ihren Chef weiter, kam es ihr unvermittelt in den Sinn.

«Ich war schon einmal bei Ihnen, ich war es, die Ihnen die CD -ROM in den Briefkasten getan hat. Ich bin Ihnen einfach gefolgt, mit dem Auto. Ich habe Sie gesehen und mitbekommen, dass Sie Jasmin suchen, und nun erfahre ich aus dem Fernsehen, dass man sie sogar verdächtigt, sie könnte jemanden umgebracht haben. Ihren Vater sogar, vermutet man jetzt. Im Radio wird davon berichtet, überall. Das ist völlig absurd. Jasmin ist doch keine Mörderin.»

«Hören Sie, ich hatte echt einen schweren Tag.» Schauer wollte sich abwenden, doch die Frau schnellte vor, fasste sie am Arm.

«Nicht!», zischte Schauer.

«Ich bin Psychologin, ich hatte schon mit Jasmin zu tun. Ich habe versucht, sie zu behandeln. Deshalb habe ich Ihnen die Aufnahmen gegeben, um zu zeigen, was mit ihr geschehen ist. Ich will nur, dass Sie verstehen, Jasmin hatte es schwer. Sehr schwer.»

«Wer hat das nicht!»

«Können wir nicht …?»

«Nein, sagen Sie hier, was Sie sagen wollen.»

«Nora Mahler leidet unter verschiedenen Störungen, verstehen Sie, sie ist nicht die gefühlskalte Mörderin, als die sie dargestellt wird. Es heißt immer, sie lächelt nur, doch das erscheint nur so. Das ist kein Lächeln. Sie kann die Gesichtsausdrücke anderer Menschen nicht lesen, eine Form von Autismus ist das. Ironie, Sarkasmus, all das versteht sie nicht. Sie hätte schon vor vielen Jahren zum Psychiater gemusst, man hätte ihre Krankheit diagnostizieren müssen. Sie hätte gar nicht angeklagt werden dürfen. Sie versteht nicht, was wirklich vorgeht, weder in dem Mordfall noch im richtigen Leben. Sie ist gar nicht in der Lage, ohne Hilfe auszukommen, deshalb ist sie nicht dazu in der Lage, sich zu wehren, sie ist nur ein Opfer, verstehen Sie das? Und dass es jetzt heißt, sie hätte die Kinder gequält, gefoltert, diese angeblichen Beweise. Kinder verletzen sich andauernd, immerzu, wissen Sie? Die reißen sich an Ästen, die schürfen sich die Handflächen auf, die Knie, die Ellbogen. Mückenstiche, wissen Sie, Mückenstiche verheilen, doch unter der ersten Hautschicht bleiben Narben zurück, Stellen, die aussehen wie Verbrennungen von einer Zigarette, wenn man es darauf anlegen will, jeder Kratzer kann später einmal als Schnitt ausgelegt werden. Kleine Tiere sollen sie umgebracht haben, das ist lächerlich, wirklich. Die hatten Mäuse und Hamster daheim und haben sie beerdigt, wenn sie gestorben waren. Diese Tiere leben immer nur ein, zwei Jahre, überlegen Sie, wie viele da zusammenkommen.»

«Und warum sollen sich die Kinder das ausgedacht haben, wie kommen die darauf, so etwas zu erzählen?» Schauer war nicht bereit, sich schon wieder von irgendeiner dahergelaufenen Person etwas vormachen zu lassen.

«Überlegen Sie mal, wie alt die waren. Das Älteste gerade mal sechs. Wie alt die jetzt sind. Woran können Sie sich erinnern, als Sie in dem Alter waren? Man kann Kindern in diesem Alter buchstäblich alles weismachen. Die Zahnfee, den Weihnachtsmann, denen kann man weismachen, dass sie vom Storch gebracht wurden.»

«Wollen Sie behaupten, die Hannah Welbe hätte die Kinder dazu gebracht, so etwas von ihrer Mutter zu behaupten? Ihre Tante, ihr Onkel?», fragte Schauer, hörte selbst den Hohn in ihrer Stimme.

«Das scheint Ihnen zu abwegig?», fragte die Frau spitz. «Die Welbes bekommen für die Betreuung der Kinder viel Geld. Mehrere Tausend Euro im Monat. Sie wohnen inzwischen in einem großen Haus, sie fahren einen großen Wagen und haben sich kürzlich ein Segelboot gekauft. Denen hat sich da eine schöne Einkommensquelle aufgetan. Die leben davon …»

«Wieso arbeitet Hannah Welbe dann in einer Bäckerei?»

«Das müsste sie gar nicht, sie will nur den Schein wahren. Und natürlich hätten sie Interesse, dass Nora Mahler in Haft bleibt oder wenigstens für das Jugendamt als Vormund für die Kinder untragbar bleibt. Noch dazu kommt, dass das einzige Kind der Welbes geistig beeinträchtigt ist.»

«Sie meinen, der ist behindert?»

«Dann nennen Sie es eben so», fuhr die Frau sie wütend an. «Und auch wenn die Welbes es nicht zugeben wollen, sie fühlen sich nicht als gleichwertige Eltern mit ihrem beeinträchtigten Sohn. Jetzt, mit drei Pflegekindern, stellen sie etwas dar, haben eine Sonderrolle. Das wollen sie sich nicht nehmen lassen.»

Dagegen konnte Schauer kaum argumentieren, sie hatte zu wenig Kenntnisse über Jasmins Onkel und Tante.

«Und die Ärzte, der Staatsanwalt, wieso sollten die das alle behaupten, dass die Kinder gefoltert wurden?»

«Man kann das fehlinterpretieren, versehentlich oder mit Absicht. Seien Sie doch nicht so naiv, auch Staatsanwälte wollen sich profilieren. Darum geht es doch heutzutage fast immer, um Aufmerksamkeit, die Wahrheit ist doch völlig egal.»

«Aber was hat das alles mit Jasmin zu tun?», hielt sie dagegen, denn schließlich erklärte das nicht deren Verhalten und befreite sie nicht vom Verdacht des Mordes oder des Totschlags.

«Alles», fiel es aus der Frau heraus, als wäre es logisch und Schauer nur zu einfältig, es zu verstehen, «einfach alles. Sie hat jetzt schon eine schwere Persönlichkeitsstörung entwickelt, eine seelische Abartigkeit. Extremer emotionaler Stress in ihrer Kindheit, emotionale Verwahrlosung, vermutlich auch verursacht von dem Verhalten der Mutter und von dem Ihrer Kollegen, Bruch und vor allem dieser Bartko haben die neuronale Reifung im limbischen System beeinflusst, haben die Affektkontrolle, die Emotionsregulierung gestört. Das zeigt sich in einer erhöhten Sensitivität gegenüber emotionalen Reizen, in verzögerter Emotionsrückbildung, gesteigerter Intensität von Emotionen.»

«Das ist aber …»

«Lassen Sie mich ausreden», sagte die Frau aufgebracht, «solche Menschen sind gar nicht in der Lage, normale menschliche Beziehungen aufzubauen, sie schwanken zwischen Idealisierung und kompletter Selbstentwertung, neigen zu selbstzerstörerischen Handlungen, im sexuellen Bereich, durch Drogen, Essstörung, erhöhte Risikobereitschaft. Sie leben in ständiger Angst, verlassen zu werden, wollen es einerseits mit allen Mitteln verhindern und zerstören doch meist selbst jede Form einer Annäherung, um einem Verlassenwerden zuvorzukommen, um wenigstens das Gefühl zu haben, Einfluss ausüben zu können.»

«Und trotzdem sind diese Menschen durchaus in der Lage, die Konsequenzen ihrer Handlungen zu erkennen», hielt Schauer entgegen, denn ganz unbewandert war sie nicht, hatte genug mit Drogen- und Gewaltopfern zu tun gehabt, «das macht sie längst nicht schuldunfähig.»

«Drehen Sie doch nicht alle Tatsachen um. Dieses Kind ist ein Opfer und kein Täter.»

«Sie wissen ja gar nicht, was sie getan hat! Was sie mir angetan hat!»

Die Psychologin schüttelte den Kopf. «Leute wie Sie machen es sich immer so einfach. Sie denken, ein bisschen gut zureden reicht aus, dann hat man guten Willen gezeigt. Sie denken, man müsste sich nur mal ein bisschen zusammenreißen, dann wird das schon wieder. Wenn das so einfach wäre, wieso sind denn die Kliniken voll von Menschen mit Psychosen, mit Burnout? Wieso können alte Menschen noch immer nicht über den Krieg sprechen? Wieso schweigen Opfer von sexuellem Missbrauch? Und was ist denn mit Ihnen? Was ist Ihnen denn Schlimmes im Leben widerfahren? Sie sehen schon so aus, alle Welt hat sich gegen Sie verschworen, Ihr Daddy mag Sie nicht.»

Woher wollte die das alles wissen? Schauer bebte vor Wut. Diese Gehässigkeit hatte sie nicht verdient. «Ich hatte Krebs!», zischte sie.

Das zog bei der Frau kein bisschen. «Na und, wer hat das nicht? Millionen andere! Die sind daran gestorben und haben weniger geklagt als Sie.»

Schauer konnte nicht anders, sie packte die Frau am Kragen, stemmte sie mit steifen Armen von sich. Sie wollte das nicht, wollte ihre Finger lösen, doch die waren wie verkrampft, klammerten sich in den Stoff der Jacke. Die Frau griff mit beiden Händen nach ihren Armen, wollte sie wegreißen, doch Schauers Wut war stärker.

«Schauen Sie sich doch an, gerade aus der Schule gekommen», knurrte sie. «Wie lang haben Sie denn studiert? Zehn Jahre? Zwölf? Voller Ideale, voller falschen Mitgefühls.»

«Was ist denn falsch an Mitgefühl? Seien Sie froh, dass es noch Menschen gibt mit Mitgefühl, glauben Sie, ein Mensch hat kein Mitgefühl mehr verdient, weil er schwer zu behandeln ist? Ich will helfen, ich habe Ihnen die Informationen gegeben, weil ich dachte, Sie verstehen das und sind nicht wie die anderen, die mir alle nicht glauben wollen, die Jasmin aufgegeben haben, die mich auslachen, weil ich angeblich zu jung bin, das Leben zu verstehen …»

Schauer schüttelte die Frau. «Ich habe schon so viel Elend gesehen. So viele kaputte Menschen, die sich ihr Elend selbst eingebrockt haben, die einen anspucken und beißen und schlagen, die keine Skrupel haben, jemanden umzubringen …»

«Sind Sie dumm, oder was?», fuhr die Frau sie an und riss nun mit einem Ruck Schauers Arme herunter.

«Was haben Sie gesagt?», keuchte Schauer, und blinde Wut regnete in roten Sturzbächen auf sie herab.

«Jasmins Vater wurde umgebracht», stöhnte die Frau und stieß nun ihrerseits Schauer vor die Brust, «vor ihren Augen. Erschlagen mit einem Hammer. Verstehen Sie das? Sie war zwölf!» Mit jedem Satz versetzte die Frau ihr einen Stoß vor die Brust, der sie jedes Mal einen Schritt rückwärts gehen ließ. «Dann nahm man ihr die Mutter weg. Dann nahm man ihr die Geschwister weg.»

«Hören Sie auf», mahnte Schauer. Doch die Frau hörte nicht auf.

«Waren Sie mal in einem Heim? Was glauben Sie, wie es sich da lebt? Glauben Sie, die Leute da haben Zeit, sich ständig mit dir zu beschäftigen? Zu reden, zu kuscheln? Es ist kalt. Es ist nicht dein Zuhause. Du weißt nicht mehr, was du gesehen hast, weil alle versuchen, dir etwas anderes einzureden. Du glaubst, du bist an allem schuld. Und überall fühlst du dich verstoßen, bis du auf der Straße landest. Und jeder draußen nutzt dich aus.»

«Hören Sie auf!»

«Du spritzt dir Dreck, du rauchst Dreck, du frisst Dreck, und selbst die, die schon ganz unten sind, versuchen, dich noch zu ficken. Sie denken sicher, Sie haben ein schweres Leben. Gott ja, Sie hatten Krebs, und bestimmt sind Sie auch schon mal belästigt worden. Aber das ist ein Scheiß dagegen.»

«Schluss!», zischte Schauer und packte die Frau am Handgelenk.

«Ich will nur, dass Sie verstehen, was mit Jasmin ist. Sie ist keine Täterin. Sie ist Opfer. Sie bringt keine Menschen um.»

«Sie hat mir Heroin gespritzt, mir Tabletten verabreicht», sprach Schauer durch ihre Zähne, sie hatte jetzt genug, sie fühlte die Stöße der Frau auf ihrem Brustbein, jeden einzelnen, «sie verschafft sich Zutritt, sie lügt, gibt sich hilflos, man kann ihr nicht trauen, nicht eine Sekunde. Sie stiehlt und schlägt, und sie bringt Menschen um. Ich kann es nur noch nicht beweisen, aber das werde ich. Kann sein, dass Jasmin furchtbare Dinge erlebt hat. Trotzdem ist sie boshaft und gefährlich und muss aus dem Verkehr gezogen werden. Dann können sich Leute wie Sie mit ihr abgeben. Vermutlich für den Rest ihres Lebens.»

Die Psychologin schüttelte traurig und resigniert den Kopf, und das störte Schauer am meisten. «Sie haben es immer noch nicht verstanden.»

«Kann ich irgendwie helfen?», fragte ein Mann aus relativ sicherer Entfernung.

«Verschwinden Sie!», fuhr Schauer ihn an.

«Wir klären das schon», sagte auch die Psychologin.

Schauer ließ sie los und trat ein Stück zurück.

Die Psychologin wich auch ein Stück von ihr weg. «Es tut mir leid, ich hatte gehofft, Sie als Frau hätten mehr Verständnis.»

«Ich habe Verständnis, aber irgendwann ist es genug!»

«Nein, das ist es ja, es ist nie genug! Nora und Jasmin, das sind Opfer. Ich hoffe, Sie denken daran, wenn es darauf ankommt. Nichts mehr und nichts weniger. Opfer.» Sie öffnete noch einmal den Mund, doch alles schien gesagt. Sie ließ die Schultern fallen, wandte sich ab und ging davon.

 

Das hatte sie noch gebraucht, dachte sich Schauer, als sie ihre Wohnung betrat. Sie schloss die Tür hinter sich, warf sich, wie sie war, auf die Couch. Sie war vollkommen erschöpft, müsste auf der Stelle schlafen, doch in ihrem Kopf tosten tausend Gedanken. Natürlich war Jasmin ein Opfer. Ein Opfer aller Umstände. Sie war krank und kaputt im Kopf, aber gerade das machte sie so gefährlich. Gerade das machte sie verdächtig.

Schauer erhob sich wieder, riss sich die Jacke vom Leib, denn sie schwitzte unglaublich, warm war ihr geworden. Sie taumelte in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank, trank Wasser aus dem Hahn, zwei ganze Gläser, atmete durch. So schwach fühlte sie sich. Fühlte sich, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen. Sie zog die Schublade auf. Es war da. Alles. Die Spritze, das Feuerzeug, der Beutel mit dem weißen Stoff. Schauer nahm ihn. Vielleicht war es kein Heroin, vielleicht Koks, doch Koks hätte sie eigentlich hochgebracht, aber vielleicht waren es Bruchs Tabletten gewesen, dass sie so reagiert hatte. Sie öffnete den Beutel, nur um nachzusehen. Tippte mit der Fingerspitze hinein. Vielleicht war es nur Mehl oder Backpulver. Sie könnte einen kleinen Zug nehmen. Nur um zu sehen, ob es half, sich zu beruhigen. Heroin konnte man schnupfen, wie Koks. Sie konnte es ganz gering dosieren. Den Rest warf sie dann weg.

Nein, Schauer stellte den Beutel ab, verließ die Küche. Das half nicht. Machte nur alles schlimmer. Stattdessen besann sie sich auf ihr Telefon. Buchholz hatte eine E-Mail geschickt. Schauer ging ins Bad, ließ sich eine Wanne ein.

Dann nahm sie ihr Telefon und öffnete die E-Mail. Das Bild zeigte einen Mann um die fünfzig, keine besonderen Merkmale. Man hatte seinen Wagen gefunden, auf einer Nebenstraße, irgendwo siebzig Kilometer vor Fulda aus Richtung Dresden. Der Motor lief noch, die Tür stand offen. Sogar davon gab es Bilder. Er war von der Autobahn gefahren, hatte auch die Bundesstraße verlassen. Die Straße, an der man sein Auto fand, war wenig frequentiert. Sie führte durch den Wald, vorbei an mehreren kleinen Teichen, die ganz früher zu einer Forellenzucht gehörten und längst verwildert waren. Den Spuren nach musste Hertwig aus seinem Auto gestiegen sein, ging direkt zum Teich, fiel oder sprang ins Wasser und ertrank. Wie Nora Mahlers Vater. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief, keine Botschaft. Schauer öffnete ein nächstes Bild. Es zeigte das Innere des Wagens, den Fahrer- und Beifahrersitz. Hertwigs Jacke lag da, für die Fahrt ausgezogen. Eine aufgerissene Packung Kekse daneben und unter der zusammengerafften Jacke der Rücken eines hellblauen Aktenordners. Schauer musste nicht lange nachdenken, wo sie diese Farbe schon einmal gesehen hatte. In Professor Wallburgs Büro. Sie berührte mit den Fingern das Display, zoomte das Bild heran, erkannte verschwommen, aber doch eindeutig die Buchstaben Narc…

Schauer vernahm ein seltsames Geräusch, ungewohnt, stetig und doch vertraut. Ehe sie verstand, lief das Wasser in den Flur, verteilte sich ins Schlaf- und Wohnzimmer. Schauer rannte ins Bad, drehte den Hahn zu. Sie riss Handtücher aus dem Regal, breitete sie auf dem Boden aus, versuchte aufzuwischen, wrang das Handtuch über der Wanne aus. Dann erst fiel ihr ein, den Stöpsel zu lösen. «Gottverflucht», stöhnte sie, das Parkett war rettungslos verloren, wenn sie nicht sofort alles aufwischte. Über die vollgesogenen Handtücher lief sie ins Schlafzimmer, wollte Bettwäsche aus dem Schrank holen. Wieder zurück, rutschte sie aus, schlug lang hin, auf den Hinterkopf.

Für ein paar Sekunden lag sie betäubt wie in Schuberts Gartengrundstück, musste den Schmerz erst vergehen lassen, rappelte sich dann langsam auf, war völlig durchnässt. Noch im Sitzen breitete sie die Betttücher und Bezüge auf dem Boden aus, überlegte, ob sie ihr Telefon irgendwo abgelegt hatte, und fand es zu allem Ärger unter dem Garderobenschrank, wo es bei ihrem Sturz hingerutscht war und im Wasser lag. Es war schon ausgegangen, als sie es aufhob. Es jetzt einzuschalten, wäre der schlimmste Fehler, sie musste es trocknen und hoffen, es wäre nicht verloren. Sie erhob sich, indem sie sich mit beiden Händen an der Wand abstützte, brachte das Handy ins Schlafzimmer, legte es dort auf die Heizung. Dann taumelte sie in Richtung Wohnzimmer, um auch dort das Wasser aufzufangen. Zuerst schob sie die großen Pfützen zusammen, lief zehn-, fünfzehnmal ins Bad, um die Tücher auszuwringen. Stellenweise war das Wasser schon durch den Lack gedrungen, färbte das Holz dunkel. Schließlich war das Gröbste geschafft, sie holte sich dann die letzten Wischtücher aus dem Schrank in der Küche, um den Boden ganz trocken zu reiben. Inzwischen hatte sie Licht in der ganzen Wohnung eingeschaltet, weil es schon wieder dunkel geworden war. Sie schwitzte, war durstig, und der Kopf schmerzte vom Sturz, ebenso der Steiß, der sich noch nicht einmal vom ersten Sturz erholt hatte. Vor allem aber die Knie taten ihr weh, seit einer Stunde oder länger musste sie übers Parkett rutschen, als schrubbte sie ein Schiffsdeck.

Sie zuckte zusammen, als es an ihrer Tür klingelte.

Was sollte sie tun? Sich tot stellen? Noch einmal klingelte es, drängte, forderte, zwang sie, in den Flur zu gehen. Langsam nahm sie den Hörer der Sprechanlage ab.

Es knackte leise und rauschte. Sie hörte den Wind, hörte das Rascheln vertrockneten Laubs. Und Atem.

«Wer ist da?», fragte sie leise, und viel zu lange blieb es still. Sie könnte aufhängen, es bleiben lassen. Die Anlage stumm stellen.

«Ich bin’s», flüsterte jemand. So leise, sie verstand es kaum.

«Hallo?»

«Ich bin’s, lässt du mich rein?»

Schauer schnappte nach Luft, so unverfroren war das. «Dass du es wagst.»

«Bitte, mir geht es schlecht. Bitte, ich weiß nicht wohin.»

«Geh, geh weg, ich will dich nicht sehen. Du hast mich … Ich ruf die Polizei!» Konnte sie gar nicht. Ihr Telefon war kaputt. Ein anderes hatte sie nicht.

«Bitte.» Jasmin begann leise zu schluchzen. «Ich werde auch nichts machen. Ich wollte dir nicht wehtun. Die haben mir das so befohlen.»

«Und wenn sie dir noch einmal befehlen, mir wehzutun?»

«Nein, bitte, ich mach nichts. Ich weiß nicht wohin, ich friere, bitte, ich flehe dich an, bitte!»

Sie durfte das Mädchen nicht einlassen, auf keinen Fall. Sie musste hart bleiben.

«Bitte», hauchte Jasmin.

«Wieso kommst du zu mir?»

«Ich habe niemanden mehr. Niemanden, und die suchen mich. Wenn ich ins Gefängnis komme, dann bringen die mich um.»

«Wieso sollten sie?»

«Weil ich Bescheid weiß, weil ich weiß, was geschehen ist.»

«Worüber weißt du Bescheid?»

«Papa, Papa hat was mitgebracht, aus dem Labor, hat gesagt, wir müssten das nehmen, damit es uns besser geht.»

«Was? Tabletten?»

«Zuerst war es eine Flüssigkeit. Er hatte sie von der Arbeit mitgebracht. Heimlich. Er hat gesagt, keiner dürfte es erfahren.»

«Wozu waren die gut?»

«Kannst du mich nicht reinlassen, ich erfriere!»

«Gleich, antworte erst. Wozu sollten die Tabletten gut sein?»

«Ich weiß nicht. Bitte, bitte lass mich jetzt rein.»

Sie drückte auf den Türöffner.

 

Bruch saß in seinem dunklen Wohnzimmer auf der Couch. Seit er hergekommen war, hatte er sich nicht bewegt. Einzig der Katze hatte er Futter gegeben, mehr zu tun, wagte er nicht. Danach hatte er sich gesetzt, und so saß er und wartete. Er wartete auf nichts Besonderes. Nur darauf, dass sie ihn gehen ließen. Die Katze hatte sich auf das andere Ende gesetzt, auf ihren Stammplatz. Sie schlief nicht, schaute in die Dunkelheit, in die dunkelste Ecke, wo sich die Schatten trafen.

So hatte er lange Stunden in seiner Kindheit verbracht, wusste er inzwischen wieder. Er erinnerte sich, und wie er immer befürchtet hatte, war es kein Glücksfall, sich wieder erinnern zu können. An das riesige düstere Haus im Wald, die langen dunklen Flure, die großen finsteren Säle, die Treppenhäuser, in denen man nicht wusste, ob man nicht hinablief, obwohl man stieg und stieg. Die bleichen, stummen Gesichter der anderen Kinder, die Strenge der Erzieherinnen. Kälte und Langeweile, die an Agonie grenzte. Die absolute Leere, die in ihm herrschte, weil die Zukunft nichts bereithielt, worauf es sich zu freuen lohnte. Es galt nur, zu überleben und nicht darüber nachzudenken, wozu. Dies alles hatte er verdrängt, hatte es verbannen wollen, und nach dem Brand war es ihm wohl gelungen, ein halbwegs normales Leben zu führen.

Doch zu entkommen, war unmöglich. Sie fanden einen irgendwann wieder, und nun hatten sie ihn gefunden. Nun waren sie hier, zwangen ihn zu sitzen, zu warten. Er wusste, dass Nicole Hilfe brauchte. Er sah, wie sie zerbrach, an ihm und was ihr geschah. Er wollte ihr helfen, doch er durfte nicht. Er saß hier und musste warten, denn ihre Hände lagen auf seinen Schultern, ihre Klauen umschlossen seine Fußknöchel, und ihr kalter Atem ging neben seinem Ohr.