19

Noch in der Wohnzimmertür von Bruchs Wohnung ging sie in die Hocke und kraulte die Katze. Sie hätte es beenden können, war ihr am Morgen klar geworden, schon vor ein paar Tagen im Garten der Schuberts, dann wäre ihr der ganze Trip erspart geblieben. Sie hätte der Wondrak nicht so naiv Informationen weitergegeben, sie hätte Jasmin nicht in ihrer Wohnung gehabt, sie hätte sich die gestrige Nacht erspart. Doch sie hatte sich wie ein kleines Kind vom schwarzen Mann erschrecken lassen. Hätte sie zugegriffen, dieser Gestalt die Faust ins Gesicht gehauen, ihr den schwarzen Strumpf vom Kopf gezerrt, alles wäre ans Licht gekommen. Stattdessen war sie auf ihren Arsch geflogen.

«Wie bist du denn darauf gekommen, dass wir in diesem Haus sind?», fragte Schauer. Sie hatte gut geschlafen. Erstaunlich gut, sie fühlte sich deshalb in der Lage, Bruch in seiner Wohnung zu besuchen. Die Katze schien ihre Berührung zu genießen. Kaum auszumalen, welches Leben sie hier führte.

Bruch ging zu seiner Couch, setzte sich. Er schwitzte, es ging ihm nicht gut. Sehr mitgenommen sah er aus. Vielleicht, weil er die Tabletten nicht nahm, vielleicht, weil er noch immer nicht alles verstanden hatte, sicherlich hatte er nicht geschlafen. «Ich habe zuerst versucht, dich anzurufen», sagte er mit rauer Stimme, «dann war ich bei dir daheim. Dann dachte ich mir, alles Üble schien seinen Ursprung in diesem Haus zu haben, das habe ich schon gefühlt, als wir das erste Mal da waren.»

«Du hast also in dem Moment noch gar nicht gewusst, dass Noras Schwester für all das verantwortlich ist?», fragte Schauer, und tatsächlich machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer, als Bruch den Kopf schüttelte, denn das hieß, er hatte seine Ängste und Zwänge überwunden, um ihr zu Hilfe zu kommen. Vielleicht war sie doch nicht ganz allein. Vielleicht war wenigstens ihm noch zu helfen.

«Bei dem Haus wurde mir klar, dass nicht Nora der Grund allen Übels sein konnte, denn sie war noch gar nicht geboren, als ich meine Eltern verlor und zu meinen Großeltern kam. Aber Hannah, die lebte da schon.»

«Ich glaube, sie ist einfach nur eine gemeine Person», begann Schauer, weil er nichts mehr sagte, «schon immer. Vermutlich hat sie von Beginn an ihre Eltern und die Nachbarschaft terrorisiert. Du hattest einfach nur Pech, in ihrer Nähe zu wohnen. Es bereitete ihr sicherlich Freude, andere zu quälen und ihnen Angst einzujagen, Tiere, kleine Kinder. Und jetzt stell dir nur vor, ihr Vater geht plötzlich weg, ihre Mutter hat einen neuen Mann, und Nora wird geboren. Nora hatte keine Chance. Sicher hat sie sie vom ersten Moment an manipuliert. Deshalb stand Nora stundenlang in der Sonne oder im Regen.»

«Du denkst, sie hat diese Menschen alle umgebracht?», fragte Bruch.

«Oder dazu gebracht, sich umzubringen», sagte Schauer. Ihre Mutter, ihre Stiefväter, zählte sie in Gedanken auf. Ihren Schwager Thomas Mahler. Den Mann aus Fulda, den Tätowierer Ollmann. «Oder hat sie so erschreckt, dass sie über nichts mehr reden wollten oder alles stehen und liegen ließen und abhauten wie die Schuberts.» Schauer hob die Schultern, sah nicht ihn an, sondern die Katze, die sich ihre Streicheleinheiten gefallen ließ. Je mehr sie darüber nachdachte, desto ungeheuerlicher wurde es. Es war alles logisch, aber wenn man es aussprach, wurde es absurd. «Ich denke, man darf es nicht im Ganzen betrachten, sondern muss überlegen, wie es begann. Zuerst ließ sie ihre Boshaftigkeit nur an ihrer näheren Umgebung aus, an kleineren Kindern wie dir, später an ihrer Schwester Nora. Ich glaube, sie hasste Nora abgrundtief, machte sie verantwortlich dafür, dass ihr eigener Vater ging. Später, als sie älter wurde, rächte sie sich auch an ihrer Mutter. Ich glaube, als es ihr gelang, Noras Vater in den Selbstmord zu treiben, kam sie sich von diesem Moment an allmächtig vor, so was gibt’s ja zur Genüge.» Trotzdem, dachte sich Schauer, trotzdem erklärte das nicht alles, warum die Ermittlungen so schlecht, so einseitig gewesen waren zum Beispiel. «Ollmann dagegen hat sie ganz bewusst umgebracht, hat sich mit ihm getroffen, sogar Sex gehabt und ihn dabei niedergeschlagen und ihm den Flaschenhals in die Kehle gerammt. Dann hat sie alle Fotos von der Wand entfernt, auf denen sie zu sehen war. Unser Glück war, dass sie oben in seiner Wohnung in all dem Chaos die Kisten nicht fand.»

«Warum?»

«Weil er es wohl war, der Nora diese Tätowierungen am Hals gemacht hat, sicherlich auf Hannahs Betreiben, sie waren wohl damals ein Paar. Sie musste befürchten, das käme heraus.»

Bruch schwieg lang, dachte wohl nach. «Wir haben kaum Beweise.»

«Es genügt, wenn wir etwas beweisen. Der Mord an Ollmann sollte machbar sein. Es genügt sicher schon der Abstrich. Hannah Welbes DNA sollte ausreichend nachweisbar sein, jetzt, da sie verhaftet ist, können wir DNA -Proben von ihr nehmen. Und ich denke, den Mord an Thomas Mahler nachzuweisen, müsste ebenso machbar sein, auch jetzt noch. Es scheint alles logisch. Es muss nur alles neu betrachtet werden, die vorhandenen Indizien müssen viel gründlicher untersucht werden. Sie ist schlank und sportlich, kann durch das Fenster klettern, so wie sie bei den Schuberts aufs Dach der Laube geklettert ist. Sie hatte völlige Kontrolle über alle Anwesenden. Nora, Jasmin und Thomas, die waren durch jahrelange Manipulation völlig abgestumpft, deshalb haben die nicht reagiert. Sie weiß, wo der Hammer liegt. Sie weiß, wie Nora handeln wird. Wir müssten noch herausfinden, was mit diesem Hertwig aus Fulda war.»

Bruch sprach langsam, mit Bedacht. «Hast du die Nachricht nicht gelesen?»

«Mein Telefon ist kaputt!», sagte Schauer mit Nachdruck, sie hatte es ihm schon dreimal sagen müssen. Bruch langte nach seinem Telefon, öffnete das Display mit seinem Fingerabdruck, schob ihr dann das Gerät ein paar Zentimeter entgegen. Sie musste sich erheben und zum Tisch gehen, um es zu nehmen. Die Katze folgte ihr.

Die Nachricht war von Buchholz. Schauer las sie zweimal. Sören Hertwig galt als Experte für Straftaten mit okkultem Hintergrund, hatte dazu auch Bücher veröffentlicht. Thomas Mahler hatte ihn im Internet gefunden und Kontakt mit ihm aufgenommen. Offenbar hatte er ihm detailliert von seltsamen Ereignissen in seinem Haus berichtet, woraufhin Hertwig um ein Treffen und eine Besichtigung bat und Mahler seine Hilfe versprach.

Schauer sah auf. «Dann muss Hannah irgendwie Wind davon bekommen haben, vielleicht hat Thomas ihr sogar selbst davon erzählt. Im Vertrauen, weil sie seine Schwägerin war. Dafür haben sie ihn umgebracht und Hertwig ebenso. Denn hätte er herausgefunden, dass Hannah für alles verantwortlich ist, wären der Tod ihrer Mutter und deren Männer sicherlich genauer untersucht worden. Ich vermute, Hannah selbst hat Thomas Mahler erschlagen. Vielleicht hatte sie gar nicht damit gerechnet, dass sie alle in der Küche waren, wollte Thomas Mahler eigentlich im Bett erschlagen. Ihr Mann musste sich um Hertwig kümmern. Er ist ihm wohl gefolgt, und irgendwie ist es ihm gelungen, den Mann zum Anhalten zu zwingen. Dann haben sie alles so arrangiert, dass Nora und Jasmin glauben mussten, der Teufel wär’s gewesen, und so nach außen natürlich vollkommen irre erscheinen. Habt ihr Hannah Welbe nach der Tat auch befragt?»

Bruch nickte knapp.

«Da muss sie dich erkannt haben, sie wusste, du warst der kleine Junge, mit dem sie früher ihre Spielchen gespielt hat, und sicher hat sie auch erkannt, dass mit dir etwas nicht stimmt. Das hat sie sogleich ausgenutzt. Felix, sie ist dafür verantwortlich, dass du deine Tochter nicht mehr siehst.»

Bruch reagierte darauf gar nicht, schien in die Ferne zu starren. Das alles war auch zu viel, um es so schnell zu verarbeiten. Und mochten die einzelnen Teile logisch erscheinen, war es in seiner Gesamtheit einfach nur zu gewaltig, um es akzeptieren zu können.

«Frag mich nur, wo sie die Viecher herhat, diese Molche. Aber vermutlich kann man so etwas heutzutage auch im Internet finden.»

Bruch regte sich. «Hinter dem Haus ihrer Mutter ist ein alter Teich, weiter hinten im Wald gibt es noch mehr solcher Teiche, dort finden sich die Molche.» Was er wirklich dachte, konnte sie ihm nicht ansehen. Sicherlich war es schwer zu akzeptieren, dass man ein Leben lang einem solchen Humbug auf den Leim gegangen war.

«Aber warum schickten sie Jasmin zu mir?», fragte Schauer.

«Weil du ihnen zu gefährlich wurdest.»

«Warum verlangten sie, dass sie mir Heroin spritzt? Warum brachten sie mich nicht um? Oder war das ein Mordversuch? Aber mir scheint, letzte Nacht hatten sie nicht vor, mich umzubringen.»

Bruch antwortete nicht, sah zwar jetzt in ihre Richtung, aber durch sie hindurch.

«Mich umzubringen, wäre wohl zu gefährlich gewesen», überlegte Schauer laut weiter. «Aber mich verrückt zu machen, zu diskreditieren und ihren Spaß mit mir zu haben, das gefiel ihnen, so sadistisch, wie sie veranlagt sind. Vielleicht kennen sie noch mehr solcher Leute und verkehren mit ihnen, üben sexuelle Praktiken aus oder auch Rituale. Möglicherweise glauben sie selbst wirklich an Satan.»

Bruch schwieg. Fast schien es ihr, je mehr sie redete, desto unsicherer wurde er.

«Und mit dieser Firma Narclab soll das alles nichts zu tun haben? Blanker Zufall, dass Thomas Mahler da arbeitete?», fragte Schauer. «Und was Jasmin zu mir sagte, dass ihr Vater aus dem Labor etwas mitgebracht hat und sie es nehmen sollten, das hat sie nur gesagt, um mich noch verrückter zu machen?»

Bruch konnte nur noch starren. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht wieder in tiefe Depression verfiel. Sie brauchte ihn jetzt. Musste sich rechtfertigen und verteidigen, weil sie der Wondrak diese Informationen gegeben hatte.

 

Schauer ließ von der Katze ab, setzte sich ans andere Ende der Couch. Das Tier folgte ihr, legte sich neben sie. «Aber, Felix, all das erklärt weder den Mord an Simon noch den an Juskat.» Sie wusste, dass er keine Antwort darauf haben konnte, doch sie wollte ihn bei der Stange halten.

Bruch nickte, doch vermutlich nur, um irgendwie zu reagieren.

«Felix, du bist zutiefst traumatisiert. Du hattest keine Kindheit, hast deine Eltern verloren, bist misshandelt worden, belogen. Du musst in Behandlung, in eine Klinik. In eine richtige. Ich glaube, all das zu wissen, ist eine gute Voraussetzung für eine Therapie. Etwas, wo man ansetzen kann, anstatt erst jahrelang nach Ursachen zu forschen. Felix, hörst du zu?»

Bruch nickte, starrte weiter durch sie hindurch. Dann aber fokussierte er für einen Moment seinen Blick, sah ihr in die Augen. «Wir wissen beide, dass so etwas nicht geschehen wird», sagte er. Dann verlor sich sein Blick wieder.

Schauer gelang es, die nächsten Worte für sich zu behalten. Der erste Impuls wollte sie widersprechen lassen, wollte sie ihm gut zureden lassen. Doch er hatte recht. Hier galten andere Regeln.

«Du willst selbst herausfinden, was geschah», sagte sie. Das war eine Feststellung und beendete vorerst das sehr einseitige Gespräch. Eines aber musste noch besprochen werden.

«Was ist mit Jasmin?», fragte sie.

Bruch regte sich unmerklich, deutete nur mit den Augen auf sein Telefon, das sie noch immer in der Hand hielt. Offenbar war ihres wirklich zum schlechtesten Zeitpunkt kaputtgegangen. Ohne weiter zu fragen, schloss sie die letzte Nachricht, fand eine E-Mail von Wenzel. In dieser teilte ihr neuer Chef mit, dass die Kollegen vom BKA zum Schluss gekommen waren, dass Jasmin Walter Juskat erschossen hat. In dessen Haus hatten sich keine weiteren Spuren befunden, nur die von Juskat und von Jasmin. Bis dahin ging Schauer mit, doch der zweite Teil der Nachricht ließ sie verblüfft keuchen. Die Ermittler vom BKA gingen ebenso davon aus, dass es Jasmin gelungen sein muss, unbemerkt ins Präsidium einzudringen und Karsten Simon zu erschießen. Man ging davon aus, dass die Waffe sich ursprünglich in Juskats Besitz befand. Jasmin fand die Waffe, weil sie bei Juskat übernachtete, mit Geld, das sie von ihm stahl oder bekommen hatte, fuhr sie am frühen Morgen oder noch in der Nacht zum Präsidium, drang unbemerkt ein, erschoss Simon, verließ ebenso unbemerkt das Haus und kehrte zu Juskat zurück. Als dieser ihr gegenüber entgegen den Absprachen noch einmal übergriffig wurde oder sogar bemerkte, dass sie ihm die Waffe entwendet hatte, erschoss sie ihn.

«Das ist völliger Blödsinn. Simon starb am Tag, bevor Juskat angeschossen und schwer verletzt wurde», sagte Schauer leise.

Bruch erwiderte nichts, nur seine Augen deuteten ein weiteres Mal auf das Handy. Schauer las weiter, dass Jasmin wohl mehrere Nächste bei Juskat gewesen sein soll, wenigstens aber zwei. Juskat hatte einen Waffenschein. «Ob die Waffe gemeldet war, muss noch geprüft werden», las Schauer laut. «Sie nächtigt also bei Juskat, findet bei dem eine Waffe, die nimmt sie, schleicht sich ins Präsidium, erschießt Simon? Und dann kehrt sie zu Juskat zurück, übernachtet noch einmal dort und erschießt den dann auch? Das ist ja völlig hirnrissig! Und vor allem, warum sollte sie Simon erschießen?»

Bruch musste gar nichts tun, sie gab sich sogleich wieder selbst Antwort. Wenn es ihr doch einmal gelingen könnte, erst zu denken und dann zu reden. «Um sich zu rächen», las sie weiter, «wegen der einseitigen Ermittlungen, wegen der schrecklichen Verhöre. Bartko war tot und du ja ganz offensichtlich nicht zurechnungsfähig. Selbst für Jasmin.» Dass Bruch schon wieder so war, machte sie zornig, obwohl sie dagegen anzukämpfen versuchte. «Das war es also jetzt? Jasmin ist schuldig. Hat Simon umgebracht und Juskat? Aus Rache?»

Bruch reagierte nicht und machte sie zornig.

«Obwohl sie auf keiner Überwachungskamera auftaucht?», ging sie ihn an, dabei wusste sie, dass er sicher nichts dafürkonnte. «Und jetzt, was passiert mit ihr?»

«Sie ist in einer forensischen Klinik untergebracht. In einer geschlossenen Abteilung.»

Da, wo du auch hingehörst, dachte Schauer. «Felix», sagte sie leise. «Sie wird nicht einfach so verschwinden?»

«Nein.»

«Versprichst du es mir?»

«Ich verspreche es. Soweit ich es versprechen kann.»

Toll. Das musste sie so hinnehmen. Mehr konnte sie gerade nicht erwarten.

«Und du weißt, dass diese Geschichte absurd ist! Jemand anderes hat Simon umgebracht!»

Bruch sah sie nur an. Natürlich wusste er das, jeder wusste das.

«Weißt du, dass in zwei Tagen Heiligabend ist?», fragte sie Bruch.

Der sah nun auf und schüttelte den Kopf.

War ja klar, dachte sie. «Hast du ein Geschenk für mich?», fragte Schauer.

«Ich … nein …»

«Ich habe nämlich eins für dich!»

«Was ist es denn?», fragte er und zeigte nun doch ein gewisses Erstaunen.

Das ließ sie sich gern gefallen. «Wart’s ab!»