Lebende Felsen

„Mein Zuhause!“, keuchte Briel erleichtert, als er die Spitze des Nordbergs erreichte. Die Stadt Tion breitete sich endlich im Tal unter ihm aus.

Er machte eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen und seine schmerzenden Beine auszuruhen. Steinhäuser mit Strohdächern standen entlang der staubigen braunen Straße, die die nördlichen und südlichen Berge miteinander verband.

Heute war Markttag. Briel wusste, dass Händler aus dem nördlichen Teil Gwildors auf dem Weg nach Tion waren.

Hinter ihm ertönte ein Chor meckernder Stimmen. Er blickte über seine Schulter zu der Ziegenherde, die er von der weit entfernten Stadt Kewas hergetrieben hatte. Briel war dafür verantwortlich, dass keines der Tiere auf dem gefährlichen Weg durch die Berge verloren ging.

Er sah wieder auf Tion hinab und dachte an die Kochkünste seiner Schwester. Sein Magen knurrte. Nach einer Woche, in der er sich fast nur von Honigkuchen ernährt hatte, wäre ein Brathähnchen jetzt genau nach seinem Geschmack.

„Warum trödle ich hier rum?“, fragte er sich. „Los, ab nach Hause!“

Als Briel weitermarschierte, hörte er ein grollendes, reibendes Geräusch, als ob Fels über Fels schabte. Unter seinen Füßen bebte es. Er blieb mit gesenktem Kopf stehen und lauschte.

Schwache Stimmen drangen an sein Ohr: „Flieht! Lauft!“

Briel kraxelte zurück auf die Bergspitze, um eine bessere Sicht zu haben. In Tion war auf einmal Chaos ausgebrochen. Pferde warfen ihre Reiter ab, Mütter und Väter packten ihre Kinder und rannten davon, Händler griffen sich so viel von ihrer Ware, wie sie nur tragen konnten. Alle liefen so schnell sie konnten.

Briel kniff die Augen zusammen. Verzweifelt suchte er in der panischen Menge nach seiner Schwester. Wo war sie? „Bitte, lass sie in Sicherheit sein“, flehte er.

Plötzlich bemerkte er eine Bewegung auf dem gegenüberliegenden Berghang.

„Eine Lawine!“, rief Briel entsetzt.

Dutzende Felsbrocken stürzten den Südberg hinunter. Sie donnerten über den Boden, flogen in alle Richtungen und wurden immer schneller. Sie krachten in Häuser. Baumstämme und Steine zerbarsten. Es war die gewaltigste Lawine, die Briel je gesehen hatte. Dann, plötzlich, blieben die Felsbrocken wie erstarrt liegen.

„Als ob sie beschlossen hätten, stehen zu bleiben“, dachte Briel schockiert. Er bemerkte kaum, dass die Ziegen in Panik ausgebrochen waren und in alle Richtungen davonliefen.

Langsam begannen die Felsen wieder über den Boden zu rutschen. Sie stießen gegeneinander und Steinsplitter flogen durch die Luft. Das knirschende Geräusch von Stein auf Stein hallte durch das Tal.

Die Felsen nahmen eine Gestalt an. Beine entstanden aus länglichen Felsbrocken, die an einer riesigen, flachen Platte hingen.

Ein Körper.

Andere Felsen formierten sich auf beiden Seiten des Körpers. Arme. Briel sah mit staunend geöffnetem Mund zu, wie ein letzter Felsbrocken ganz nach oben glitt. Der Kopf. Ein Spalt im Fels bildete den klaffenden Mund und zwei Steinvertiefungen waren die Augen. Das eine Auge schimmerte grünlich.

Mit einem ohrenbetäubenden Knirschen drehte sich der Kopf und die furchterregende Gestalt betrachtete das zerstörte Tion. Aus dem rechten Auge strahlte helles grünes Licht. Das Monstrum streckte einen Arm aus, entwurzelte den letzten verbliebenen Baum und warf ihn zur Seite, als wäre er ein winziger Ast. Briel zitterte am ganzen Körper. Das Biest ließ seinen Blick über Tion schweifen.

„Wenigstens konnten die Bewohner fliehen“, dachte Briel. Er sah, wie die Menschen nach Südwesten rannten. „Bitte, lass meine Schwester bei ihnen sein.“

Wenn er sich beeilte, konnte er die Leute noch einholen. Und dann würde er hoffentlich auch seine Schwester finden. Er trieb die verängstigten Ziegen wieder zusammen und schnalzte mit der Zunge, damit sie ihm folgten. Briel entschied sich für den längeren Weg westlich um Tion herum. So würde das Biest ihn und die Herde nicht entdecken. Das Steinwesen sah immer noch zufrieden auf die Trümmer von Tion herab. Briel wusste, dass er einen Hieb der Felsfäuste nicht überleben würde