Der Todesfels

Tom und Elenna kletterten vorsichtig zu ihren Tieren zurück. Der Stein, auf den Elenna getreten war, löste sich plötzlich und sie stürzte das letzte Stück hinunter. Tom war bei ihr, als sie sich gerade wieder aufrappelte.

„Bist du verletzt?“, fragte er.

„Ich werde es überleben“, antwortete sie keuchend und zückte schon wieder Pfeil und Bogen. „Es war ja kein tiefer Sturz.“ Sie sah die Steilwand hoch. „War das wieder Velmal?“

Tom schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe den Mann noch nie zuvor gesehen.“

Als das Gesicht des Mannes hinter einem Felsen auftauchte und er zu ihnen hinabblickte, legte Tom automatisch die Hand auf sein Schwert. Sie wussten nicht, wer dieser Mann war und ob er Freund oder Feind war. Und weit und breit gab es keine Möglichkeit, sich vor dem Fremden zu verstecken. Tom musste auf alles vorbereitet sein.

„Ich habe noch nie einen so alten Mann bergsteigen sehen“, flüsterte Elenna.

„Ich auch nicht“, erwiderte Tom. Er ließ den Mann nicht aus den Augen.

Sie beobachteten ihn beim Abstieg. Als er den breiten Felsvorsprung erreichte, auf dem sie standen, drehte er sich zu ihnen um.

„Seid gegrüßt, Fremde!“, sagte er. Er war alt, aber kräftig. Er deutete mit dem Finger auf sie. „Wer seid ihr?“, fragte er skeptisch.

Tom hob besänftigend die Hand. „Wir sind Reisende“, erklärte er. „Wir wollen nach Norden.“

Der alte Mann verschränkte feindselig die Arme und runzelte die Stirn. Sein Gesicht war von Falten und Linien so durchfurcht wie die Bergwände von Rissen und Spalten. „Das ist verrückt“, sagte er. „Seit der Lawine gibt es nichts mehr in Tion. Die Leute verlassen in Scharen die Berge. Sogar ich, obwohl ich mein ganzes Leben hier verbracht habe. Aber jetzt ist es nicht mehr sicher.“

„Ich kenne Tion nicht“, entgegnete Tom. „Wir suchen nur nach etwas.“ Tom spürte, wie sein Herz schneller schlug.

Er wusste, dass er verdächtig klang. Doch Zauberer Aduro hatte ihm vor langer Zeit einmal eingeschärft, niemandem von seiner Mission zu erzählen. Er hatte es damals versprochen und würde sich auch daran halten.

Der alte Mann sah ihn prüfend an. „Hier gibt es nichts zu finden“, erklärte er überzeugt.

„Bitte“, sagte Elenna. „Wenn jemand etwas in den Bergen verstecken wollte, wo würde er es tun?“

Der Mann hob erstaunt die Augenbrauen. „Wonach sucht ihr?“

„Nach etwas Wichtigem“, antwortete Tom und hoffte, dass der Alte nicht noch mehr Fragen stellen würde.

Der Fremde drehte sich um. „Dort oben“, antwortete er und deutete auf einen zerklüfteten Felsen weit über ihnen. „Er wird Todesfels genannt“, fuhr der alte Mann fort. „Wenn etwas versteckt worden ist, dann da. Nachts kann man dort manchmal ein goldenes Licht schimmern sehen. Aber ihr wärt töricht, da hochzuklettern. Ein Ausrutscher, ein Fehler und ihr seid tot.“

„Danke“, erwiderte Tom und starrte zu dem Felsen hoch. Wie sollte er jemals dort hinaufkommen? An Elennas erschrockenem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie dieselben Zweifel hatte.

„Wenn ihr meinen Rat hören wollt, dann dreht um“, sagte der alte Mann und machte sich weiter an den Abstieg.

Bald war er auf dem Bergpfad nicht mehr zu sehen.

Elenna deutete zum Todesfelsen hinauf. „Da kann man nicht hochklettern. Das ist unmöglich.“

Tom holte tief Luft. „Nichts ist unmöglich“, widersprach er und versuchte, sich selbst genauso zu überzeugen wie seine Freundin.

„Diesmal gehe ich allein. Du bleibst bei Storm und Silver. So hilfst du mir im Moment am besten.“

Elenna sah ihn zögerlich an, dann nickte sie. „Sei vorsichtig“, sagte sie, als Tom an die Steilwand trat.

Er begann zu klettern, langsam und vorsichtig. Seine Arme schmerzten und mit seiner rechten Hand konnte er sich kaum festhalten, aber er musste die Handschuhe finden. Der Todesfels ragte rechts über ihm auf und er suchte sich einen Weg schräg die Steilwand hoch.

Elenna und die Tiere standen so tief unter ihm, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Seine Arme zitterten. Aber nicht vor Anstrengung, sondern von der hier oben herrschenden Kälte.

„Weiter“, sagte er zu sich selbst. „Mach weiter.“ Er kletterte nicht nur für seine Mission, er kletterte um sein Leben.

Als er sich dem Todesfelsen näherte, zog sich sein Magen vor Angst zusammen. Der Fels ragte weit ins Nichts hinaus. Der Blick nach unten war durch Nebel und Wolken verschleiert. Tom hatte keine Ahnung, was unter ihm lag und er durfte nicht riskieren, es herauszufinden.

Nur noch ein kleines Stück.

Er war nur noch eine Armeslänge von dem Felsen entfernt, aber die Steinwand war so glatt wie Eis. Tom konnte sich nirgends festhalten. Um den Todesfelsen zu erreichen, musste er springen.

Tom hielt den Atem an und stieß sich ab. Der Wind heulte in seinen Ohren und sein Körper fühlte sich schwerelos an. Einen Moment war es so, als würde er fliegen.

„Uff!“, machte er, als er gegen den Fels prallte. Seine Finger suchten verzweifelt nach etwas zum Festhalten, während seine Beine über dem Abgrund baumelten. Tom biss die Zähne zusammen und stemmte sich hoch.

Schweiß rann ihm in die Augen. Es gelang ihm, ein Bein über den Rand zu heben und sich auf den Felsvorsprung zu rollen. Er lag auf dem Rücken, atmete schwer und starrte zum blauen Himmel hoch. Er hatte es tatsächlich geschafft, den Todesfelsen zu erklimmen. Vor Erleichterung musste er laut lachen.

„Konzentriere dich. Du hast keine Zeit zu verlieren“, ermahnte er sich.

Er setzte sich auf und suchte den Vorsprung ab. Er strich mit den Fingerspitzen über den Felsen und pulte lose Steine aus den Ritzen.

„Die Handschuhe müssen hier sein“, murmelte er. „Sie sind nur sehr gut versteckt.“

Er zog sein Schwert und steckte es in einen Felsspalt. Er bewegte es langsam hin und her und löste Schotter und Kieselsteine heraus. Doch da war nichts. Er machte das gleiche bei einem anderen Spalt. Wieder nichts. Aber bei seinem dritten Versuch 

„Gold!“, rief er, als er sein Schwert vorsichtig aus der Felsöffnung zog. Er konnte ein goldenes Kästchen sehen, das tief in dem Spalt verborgen war. Er griff nach dem Kästchen, zog es heraus und hielt es schließlich in der Hand. Fasziniert schaute er das Kunstwerk genauer an. Es war aus purem Gold und wunderschön verziert. Obwohl es so klein war, dass Tom es in einer Hand halten konnte, war es fast so schwer wie sein Schwert.

Kracks!

Plötzlich wurde Tom nach vorn geworfen. Erschrocken presste er das Kästchen an seine Brust. Wieder ertönte ein lautes Krachen.

„Was ist das?“, rief Tom. Er blickte auf seine Füße hinab und entdeckte, dass der Felsvorsprung mit einem Netz aus Rissen überzogen war. Der Boden unter seinen Füßen wackelte gefährlich und senkte sich. Geschockt begriff Tom, was gerade geschah.

Der Todesfels brach auseinander!