8 . Juli 2144
Yellowknife war noch immer Stunden entfernt. Jack und Dreinull schliefen hinten im Truck, verheddert in einen Haufen Wärmedecken, und berührten einander leicht an Armen und Beinen. Schließlich kündigte ein Alarmton an, dass sie die Stadtgrenzen erreicht hatten. Es war 4 :00  Uhr morgens, und die Sonne fiel schräg auf die hellen, menschenleeren Straßen.
Jack sandte eine Nachricht an Mali, die sofort antwortete.
Haltet nicht fürs Frühstück an. Ich habe gerade aufgegeben, Judy noch mal ins Bett zu bringen.
Nach Jahrzenten der Unentschlossenheit hatte Mali endlich ein Baby und war daher zu dieser absurd frühen Stunde schon wach.
In einem Vorort hielten sie vor einem einstöckigen Gebäude – die zwischen Bäumen versteckten, identischen Häuser ahmten den Stil von Blockhütten des 20. Jahrhunderts nach. Mali empfing sie an der Tür, die schwarzen Haare zu einem akkuraten Bob geschnitten, Hosen und Hemd sorgfältig für die Arbeit gebügelt. Nach dreißig Jahren Vive in Maximaldosierung sah sie nicht älter aus als ihre Praktikanten. In den Armen hielt sie Judy und lächelte Jack über die dunklen Locken des Säuglings hinweg an. Das Bild war so normal und auf beinahe komische Weise häuslich, dass Jack sich zumindest für einen kleinen Augenblick in Sicherheit fühlte.
Sie setzte den Packsack ab und schloss ihre alte Freundin in die Arme, darum bemüht, das Baby nicht zu fest zu drücken.
»Ich mache gerade Kaffee und Haferbrei.« Mali führte sie in ein bescheidenes Wohnzimmer mit rustikalen Möbeln, alten Flickenteppichen und einem Tischprojektor, auf dem gerade stumm die Nachrichten liefen. Jack warf einen Haufen Schachteln mit bunten Ganesh-Bildern aufs Sofa .
»Lass uns nach dem Frühstück darüber reden«, sagte sie. »Ach übrigens, das ist Dreinull.«
Dreinull schüttelte Malis Hand. »Vielen Dank für deine Gastfreundschaft«, sagte er förmlich. Jack erlebte ihn zum ersten Mal im Umgang mit anderen Leuten. Seine Manieren waren so tadellos, als hätte man sie ihm eingebrannt.
Sie gingen weiter in die warme Küche und ließen sich an einem Tisch nieder, der einen Halbkreis um eine Kochmaschine bildete. In vier Fächern dampften bereits Tassen mit Kaffee. Jack nahm sich eine, und Mali setzte Judy in ihrer Armbeuge zurecht.
Jack begann mit etwas Smalltalk. »Wie läuft es im Krankenhaus?«
»Ziemlich gut. Wie läuft dein Geschäft?«
Das Baby begann zu schreien und ließ sich von Mali nicht wieder beruhigen. Schließlich kam eine junge Frau durch die Tür hinten im Raum, nahm Mali das Kind wortlos ab und wiegte Judy in dem einen Arm, während sie mit dem anderen nach der letzten Kaffeetasse langte. Mali stellte die Frau weder vor, noch würdigte sie sie eines Blickes. Jack sah kurz zu Dreinull hinüber und fragte sich, was er von Malis beiläufiger Unhöflichkeit gegenüber ihrem unter Kontrakt stehenden Kindermädchen hielt. Er sah der Frau hinterher, als sie mit dem Baby hinausging, die Mundwinkel wie so oft spöttisch verzogen.
»Entschuldige, Jack, was hast du gesagt?«
»Um ehrlich zu sein, hat es ein Problem gegeben. Das wird vielleicht für längere Zeit meine letzte Lieferung sein.« Jack musste sich einfach jemandem anvertrauen. Hier in dieser sicheren Küche, die nach Haferbrei und Kaffee roch, kamen die Worte wie ein Sturzbach. »Ich habe rekonstruiertes Zacuity verkauft. Und Zaxy hat die Nebenwirkungen völlig unterschätzt. Jetzt liefern meine Kunden denen noch einmal eine Phase 1 frei Haus.« Phase-1 -Studien dienten nur einem einzigen Zweck: herauszufinden, ob ein neues Medikament tödlich sein konnte.
»Wie bitte, was?« Mali blickte sie entsetzt an. »Dann steckt du hinter diesen Psychosen? Warum zur Hölle verkaufst du so einen Scheiß?«
»Zaxy ist einer von den Patenthaien.«
»Dann befrei mehr von ihren antiviralen Wirkstoffen. Oder Knochenmarkregeneratoren. Zacuity braucht kein Mensch.«
»Die Leute wollen es aber. Und auf eine gewisse Weise brauchen sie es auch. Wenn du mit biochemisch getunten Menschen um Jobs konkurrierst, könnte Zacuity den Unterschied zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit bedeuten.«
Jack war selbst nicht überzeugt von ihrer Argumentation. Mali schüttelte nur den Kopf, in einer Mischung aus Sorge und Ärger, die für ihre jungen Gesichtszüge viel zu kompliziert wirkte.
»Jack, ich mach mir echt Sorgen um dich. Diese Sache mit Zacuity … wir haben da im Krankenhaus ein paar wirklich üble Fälle gehabt. Zaxy könnte dich dafür umbringen.«
»Ich weiß, aber ich hab eine Idee. Ich glaube, ich kann das wiedergutmachen, wenn ich nachweise, dass Zaxy ein Suchtmittel verkauft. Und eine Therapie veröffentliche. Das könnte den ganzen Scheißkonzern zu Fall bringen.«
»Bist du verrückt? Zaxy hat in der Zone die Hälfte aller Beamten in der Tasche, und vermutlich auch in jeder anderen Wirtschaftszone. Außerdem, wer wird dir schon glauben? Du bist keine Wissenschaftlerin mehr. Du bist …«
Verlegen hielt Mali inne, und Jack starrte in ihren Kaffee. Als was würde Mali sie bezeichnen? Als Piratin? Als Kriminelle? Als Dealerin? Im Grunde war das egal, es tat schon so weh genug.
Jack liebte die Wissenschaft. Die meisten Tage verbrachte sie im Labor und bastelte an Molekülen herum. Aber natürlich sah jemand wie Mali das anders. Für sie war Jack vermutlich nur ein Laborknecht, der in stupider Fleißarbeit die Medikamente kopierte, die andere Leute erfunden hatten.
»Mir ist schon klar, dass es nichts bringt, wenn ich die Daten veröffentliche. Es muss von jemandem kommen, dem die Menschen vertrauen. Von einem echten Wissenschaftler.« Die Worte kamen bitterer heraus als beabsichtigt.
»Entschuldige, Jack. So hab ich das nicht gemeint. Aber du musst damit nicht an die Öffentlichkeit. Wir arbeiten im Krankenhaus schon an einer Therapie, und wir sind sicher nicht die Einzigen. Du musst untertauchen.«
»Du verstehst es einfach nicht, oder?« Jack blickte Mali nun wieder an. »Aus der ganzen Sache könnte etwas wirklich Gutes entstehen. Zaxy hat das Gesetz gebrochen. Wenn das bekannt wird, dann führt das vielleicht zu echten Veränderungen.«
»Glaubst du das wirklich? Oder willst du einfach nur die Märtyrerin spielen, weil …« Zum ersten Mal war Jack dankbar für Malis Angewohnheit, Sätze nicht zu Ende zu sprechen. Versuchte sie etwa wirklich, sich umzubringen, um so Buße zu tun? Vielleicht. Wahrscheinlich. Sie wusste es nicht.
»Es geht hier nicht um mich, Mali. Diese Geschichte könnte eines der korruptesten Pharmaunternehmen der Welt zu Fall bringen. Eine solche Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder.«
Mali seufzte. »Da ist was dran. Aber wie genau willst du das anstellen?«
»Du steckst ohnehin schon zu tief mit drin. Das Letzte, was du brauchst, sind Einzelheiten.«
Mit einem Mal fiel Jack auf, dass Judy wieder zu weinen begonnen hatte. Das Schluchzen klang nur gedämpft zu ihnen hinüber, war aber nicht zu überhören. Mali war es im gleichen Augenblick aufgefallen, und sie sah resigniert aus .
»Kann ich irgendwas für dich tun, außer die heutige Lieferung zu bezahlen?«
»Ja, da gibt es tatsächlich etwas.«
Natürlich sprangen bei der frischgebackenen Mutter die Beschützerinstinkte an, als Jack ihr von Dreinull erzählte, der schon als Kind unter Kontrakt geraten war, den sie aus der Gewalt eines brutalen Herrn errettet hatte und der verzweifelt eine selbstbestimmte Arbeit suchte. Dreinull schwieg mit ausdrucksloser Miene, während Jack redete. Mali nahm ihn in die Arme und versicherte ihm, dass sie ihm einen Aushilfsjob in einem der Labore beschaffen könnte. Die Bezahlung würde nicht berauschend sein, aber es würde für eine Wohnung und die tägliche Nudelsuppe reichen.
Als Dreinull schließlich antwortete, tat er das in seinem höflichsten Schuljungenidiom. »Vielen Dank, ich wäre dir sehr verbunden. Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich Jack weiterhin behilflich sein könnte, aber das wäre ganz wunderbar.«
»Komm gleich mit zur Frühschicht. Das Geschirr kannst du stehenlassen, das Mädchen kümmert sich darum.« Mali verschwand in einem anderen Raum. Bevor die beiden gingen, warf Dreinull Jack einen Blick zu, in dem irgendetwas zwischen Schmerz und Wut lag. Aber darum würde sie sich nun keinen Kopf machen. Er war nun in Sicherheit, und darauf kam es an.
Schließlich konnte Mali Jack noch davon überzeugen, erst zu duschen und sich ein wenig hinzulegen, bevor sie sich wieder auf den Weg machte. Das Kindermädchen sang Judy etwas vor, während Jack heißes Wasser auf sich niederprasseln ließ. Die Seenlandschaft hier war der ideale Ort, um mal so richtig lange zu duschen – kein Wassermangel bedeutete keine Abschaltautomatik. Zwanzig Minuten später schlief sie tief und fest in Malis Gästebett und träumte von gar nichts .
Als der Bote die Proben aus dem Labor ablieferte, war Med gerade in die Arbeit vertieft, an einem Arbeitsplatz weitab vom Empfangsbereich. Doch irgendwie fand der junge Mann, während er auf die Ergebnisse wartete, seinen Weg zu ihrem Tisch. Ganz plötzlich stand er genau hinter ihr und blickte ihr über die Schulter – auf die Neuralkarte des Mannes, der nicht mit Malen aufhören wollte.
Ohne jede Einleitung fragte er: »Was ist das? Ein Gehirn?«
Med hatte bislang noch mit niemandem über ihre Arbeit gesprochen. Keiner antwortete auf ihre Nachrichten oder kommentierte die Berichte, die sie gepostet hatte. In ihrem Frust fing sie an, den Botenjungen zuzutexten.
»Das ist einer meiner Patienten, der unter einer neuen Form von Sucht leidet. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen – innerhalb von wenigen Tagen ist sein Dopaminsystem völlig umgekrempelt worden. Wahrscheinlich von irgendeiner Schwarzmarktdroge. Scheint ganz schön raffiniertes Zeug zu sein.«
Für eine Weile sagte der Junge nichts. Bestimmt hatte er keine Ahnung, wovon sie sprach, begriff Med plötzlich, und sie wurde verlegen. Doch dann kramte er in seiner Jackentasche herum und zog eine kleine Schachtel heraus, die mit Ganesh-Bildern verziert war.
»So eine Art von Droge?«, fragte er.
Sie nahm ihm die Schachtel aus der Hand und schüttelte ein paar Pillen auf ihren Tisch. Auf die glänzend schwarzen Gelkapseln waren in rosafarbener Comic-Sans-Schrift die Wörter »Ess mich« aufgebracht. Ohne nachzudenken, warf sie eine davon in die Spektralanalyse.
Was sie nach einem ersten flüchtigen Blick sah, ließ sie sofort aufmerken.
»Woher hast du das?«
Er lächelte und stützte sich mit einer Hand auf den Tisch, die Hüfte aufreizend ausgestellt. Viele Menschen hätten den Jungen vermutlich als gutaussehend empfunden, ging ihr durch den Sinn.
»Ich kenne die Person, die das herstellt.« Sein Ton war ganz unpassend kokett. »Willst du sie treffen?«
Mit einem Ruck setzte sich Jack auf und griff nach ihrem Messer. Jemand hatte die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen; laut dem Wecker neben Malis Bett hatte sie sechs Stunden geschlafen.
Vor ihr, in Wurfweite ihres Messers, standen Dreinull und eine blasse, erschreckt dreinblickende junge Frau im Laborkittel. Die Frau starrte auf Jacks Narbe, eine breite rote Spur, die am Hals begann, ihre Brüste voneinander trennte und quer über den ganzen Bauch verlief. Es handelte sich um eine seltene Deformation, das war Jack klar – Medizinstudenten lasen vielleicht darüber, bekamen so etwas aber nie zu sehen. Schließlich ließen sich Narben mit diversen Hautklebern leicht vermeiden.
Schließlich sprach die Frau. »Ich muss mit Ihnen über Zacuity sprechen. Sofort.«