Herbst 2118
Die Freihandelszone hatte nicht verhindern können, dass Dutzende, mit Medikamenten beladene Drohnen entkamen, doch Jack und sieben weitere Pillen
wurden festgenommen und wegen Diebstahl und Sachbeschädigung angeklagt. Im Netz wurden sie als die »Acht Piraten von Halifax« bezeichnet, und über ihre Festnahme wurde ausführlich berichtet, wenn auch zunächst nur innerhalb der Anti-Patent-Szene.
Dann kamen die Reportagen über Kinder in der Föderation, die dank der Medikamente gerettet worden waren. Plötzlich berichteten auch die großen Nachrichten-Feeds darüber, und Jack wurde zum »Robin Hood der Anti-Patent-Bewegung«.
Krish war während der gesamten Verhandlung anwesend, zusammen mit der üblichen Bande aus Reformisten und politisch aktiven Professoren. Da jegliche Übertragungstechnik im Gerichtssaal verboten war, machten sie sich Notizen auf einfachen Schreibblöcken und rannten während der Pausen hinaus, um alles hochzuladen und zu veröffentlichen. Jack war durchdrungen vom Glauben an die gerechte Sache, doch dann erhob die Anklage den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereini
gung. Wenn sie damit durchkam, dann bedeutete das für die Halifax-Piraten Gefängnis. Und da Halifax’ Wohlstand in erster Linie von Pharmaunternehmen abhing, würden die Geschworenen vielleicht geneigt sein, an den Anti-Patent-Radikalen ein Exempel zu statuieren.
So kam es auch. Nach einer sehr kurzen Beratung befand die Jury die Gruppe für schuldig – sie hätten sich verschworen, um einen Diebstahl zu begehen und widerrechtlich ein Grundstück zu betreten. Der Richter verurteilte Jack wegen ihrer Rolle als Anführerin zu drei Monaten Gefängnis. Ihre Mitverschwörer bekamen jeder eine Woche und zusätzliche Bußgelder.
Während der Haftzeit war jeder Zugang zum Netz oder zu geschriebenen Texten untersagt, und so hatte Jack alle Zeit der Welt, um jeden Riss in der Lackierung ihres Bettes oder den Verlauf der Leuchtdrähte an der Decke zu studieren. Und sie hatte Zeit, über ihre Zukunft nachzudenken.
Unterbrochen wurde diese Kontemplation nur von den Tobsuchtsanfällen ihrer Zellengenossin Molly. Molly saß wegen wiederholter Körperverletzung im Gefängnis, die Folge einer unheilbaren manischen Depression. Solange sie einigermaßen stabil war, vertrieb sie Jack die Langeweile mit abartigen Geschichten über ihre unzähligen Liebhaber – Quebec City schien ein Sumpf aus sexuellem Melodrama zu sein. In ihren manischen Phasen allerdings hielt Molly Jack für eine Spionin, die sie mit allen Mitteln aufhalten musste.
Der Schrank mit Hautklebern und Gewebegittern auf der Krankenstation war Jack bald so vertraut wie ihr Bettgestell. Schließlich brach ihr Molly die Hüfte gleich an zwei Stellen, und Jack verbrachte eine friedliche Woche im Bett, neben einem Mann, der an einem Atemgerät hing.
Jack war überzeugt, dass die Gefängnisleitung, deren Einrichtung zum Teil vom Pharmariesen Smaxo finanziert wurde,
sie vorsätzlich mit der gewalttätigen Frau zusammengelegt hatte, konnte das aber nicht beweisen. Während einer seiner Besuche bat sie Krish, der Sache nachzugehen, doch er schüttelte nur hilflos den Kopf und starrte auf seine Hände.
Schließlich gestand er Jack, dass er Kranke Pillen
geschlossen hatte. Er machte sich Sorgen, dass die Anonymität der Plattform nicht länger gewahrt sei und noch mehr Wissenschaftlerkarrieren zerstört würden, wenn er damit weitermachte. Sie hätten sich verrannt, meinte er. Es gäbe andere Wege, das Patentsystem zu reformieren, es müsse nicht immer auf eine Konfrontation hinauslaufen. Krish hatte gerade von einer einflussreichen Menschenrechtsorganisation viel Geld erhalten, um qualitativ hochwertige, frei zugängliche Alternativen zu patentierten Medikamenten zu entwickeln, und jetzt, da er endlich neue Leute einstellen konnte, wollte er nicht sein Labor aufs Spiel setzen. Sogar für Jack würde er eine Stelle haben, vorerst allerdings nur als wissenschaftliche Mitarbeiterin, um kein Aufsehen zu erregen.
In dem Besuchsraum, wo die Luft von Überwachungspartikeln funkelte, konnte Jack schlecht aufspringen und Krish bei den Schultern packen oder ihre Gefühle herausschreien. Also stand sie nur wortlos auf und ging zurück auf die Krankenstation, obwohl die Besuchszeit gerade erst begonnen hatte. Wie hatte er diese Entscheidung ohne sie treffen könne? Sie wollte kein Posten in Krishs Forschungsbudget sein. Mit der Auflösung von Kranke Pillen
hatte er ihr die Identität geraubt, sie von der Gemeinschaft Gleichgesinnter abgeschnitten. Zurück auf ihrem schmalen Krankenhausbett, rollte Jack sich zu einem Ball aus Schmerz zusammen und weinte. Mit geballten Fäusten wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre ganze Zukunft hatte sich in ein Trümmerfeld verwandelt.
Bei den folgenden Besuchen versuchte sie, Krish die Sache
zu erklären, doch unter den Smaxo-Schmerzmitteln war ihr Gehirn zu Watte geworden. Krish dagegen war so begeistert von seinen neuen Möglichkeiten, dass er nicht mehr verstand, was ihr Kranke Pillen
bedeutet hatte.
Während der beiden folgenden Monate konzentrierte sie sich auf den Geruch des Sommers in Saskatchewan, auf das Gefühl, inmitten der unendlichen Prärie zu stehen, umgeben von Pflanzen, Maschinen und den weitverstreuten Genossenschaften. Es war der Ort, wo sie zum ersten Mal ihre Begeisterung für neugeformtes Leben entdeckt hatte. Wenn sie schlief, und manchmal sogar im Wachen, erblühten auf den Gefängniswänden winzige Rapsblüten, und im Geiste ging sie immer wieder durch, auf wie viele Weisen die Wissenschaft ihr Genom perfektioniert hatte.
Als Jack aus dem Gefängnis kam, waren dank patentierter Therapien alle Spuren der Knochenbrüche beseitigt, doch sie fühlte sich so zerbrochen wie nie zuvor. Der Mann, den sie liebte, ihr Komplize im Kampf gegen das Unrecht, hatte Kranke Pillen
und damit ihr Leben zerstört. Alle Gefühle für Krish waren zunächst durch heftige Wut verzerrt worden, die dann von melancholischer Taubheit abgelöst wurde. Keine der verbleibenden Möglichkeiten erschien ihr noch von Bedeutung. Sie nahm den Job in Krishs Labor in Saskatoon an, weil es besser war, als zu verhungern.
Krish schien immer noch nicht zu begreifen, dass ihre Beziehung in die Brüche gegangen war. Nachdem er sie vom Gefängnis abgeholt hatte, hielt er während der kurzen Busfahrt nach Quebec City ihre Hand, ebenso während der langen Zugfahrt nach Saskatoon. Ein paarmal zog sie ihre Hand weg, doch irgendwann fehlte ihr die Kraft dazu. Ihr Körper sehnte sich nach Zuwendung, und ein Teil von ihr liebte ihn noch immer. Es war Winter, und der Zug schoss auf einer noch aus dem
20. Jahrhundert stammenden Bahntrasse dahin, vorbei an stillgelegten kastenförmigen Getreidehebern mit aufgemalten Städtenamen und hellen Feldern voll schneebedeckter Strohrollen. Jack legte ihre Hand gegen das doppelte Polymer der Fensterscheibe und versuchte, die Kälte zu spüren. Das durchsichtige Material war nur leicht kühl, es schützte die Reisenden vor Temperaturen, die innerhalb von Minuten zu hässlichen Erfrierungen geführt hätten. Am liebsten hätte Jack das Fenster verschwinden lassen und sich der stechenden, tödlichen Kälte ausgesetzt.
Die Beziehung zu Krish war zum Scheitern verurteilt. Das wurde Jack klar, als er ihr seelenruhig erzählte, was er für ihre Karriere geplant hatte, angefangen mit der Assistenzstelle in seinem Labor.
»Du musst nur eine Weile als Co-Autorin mit mir und den Postdocs im Free Lab veröffentlichen, dann wird in fünf Jahren niemand mehr nach den Kranken Pillen
fragen.« Sie waren endlich allein in seiner Wohnung und verzehrten ein spätes Abendessen, bei dem Krish glücklicherweise nicht mehr ständig nach ihrer Hand fassen konnte. »Du musst dich nur eine Weile bedeckt halten und dich wieder zu einer Position hocharbeiten, wo du anfangen kannst, eigene Forschungsgelder zu beantragen.« Seine Stimme hatte immer noch diesen warmen, rationalen Klang, in den sie sich verliebt hatte, und seine grünen Augen waren nicht weniger bezaubernd als damals.
Doch Krish verstand einfach nicht mehr, wer sie war. Vielleicht hatte er sie schon lange nicht mehr verstanden. Sie wollte sich gar nicht mehr die akademische Leiter hocharbeiten. Es musste einen anderen Weg für sie geben, etwas anderes als eine Stelle an der Uni. Ihre jüngsten Erfahrungen – die körperliche Gewalt, die Blüten an den Gefängniswänden, der schmerzhafte Verlust ihres berühmten Textrepos ließen sie das noch klarer
sehen. Krish dagegen konnte sich ein Leben außerhalb der Universität gar nicht vorstellen, und Jack war es leid, ihre Gefühle mit jemandem zu teilen, dessen Horizont so begrenzt war.
Sie beschloss, Krish eine verkürzte Version der Wahrheit zu sagen. »Ich weiß einfach nicht, was ich im Augenblick will.«
»Du musst unbedingt weiter in der Gentechnik arbeiten. Schau dir nur an, wie erfolgreich Rkon ist. Und das hast du an einem einzigen Wochenende geschrieben.«
Wann war das nur passiert? Wann waren ihre Wünsche und Träume ihm so fremd geworden?
»Schon gut«, brachte sie mühsam heraus. »Ich nehm ja deinen Laborjob.«
Mit dieser Antwort schien Krish zufrieden. Auch seinen Fünfjahresplan für Jacks Zukunft erwähnte er nicht mehr.