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Menschliche Netzwerke
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. Juli 2144
Die Sonne stand schon tief, doch die Oberflächen der Medina strahlten noch Wärme ab. Im Teehaus allerdings waren die Temperaturen dank Reflexionsfarbe angenehm, und auch die Wasserkühlung bewahrte die Gäste vor dem Schwitzen. An einer langen Bar, deren poliertes Holz mit kunstvollen maurischen Mustern aus ineinandergreifenden Polygonen verziert war, bestellte Eliasz duftenden Oolongtee. Durch trübe graue Fenster konnte man in eine schmale Gasse blicken, eine der vielen überdachten Straßen in Casablancas ältestem Stadtviertel. Auf der anderen Seite der Gasse führte ein mit blauen Fliesen eingefasster Torbogen in einen kaum einsehbaren Vorhof. Gleich daneben füllte eine Frau Krüge mit Wasser an einem öffentlichen Brunnen, dessen elegantes Mauerwerk noch aus der Zeit stammte, als dieses Land Marokko geheißen hatte. Casablanca war heute eine der bedeutenden Hafenstädte der Afrikanischen Föderation und lockte reichlich internationales Kapital an. Am Straßenrand vor der bröckelnden Hartschaummauer eines Wohngebäudes legte ein Junge gerade seine Waren zum Verkauf aus: Auf seinem kleinen Wagen türmten sich lange, pfeilförmige Fische, in einem Käfig summten billig gefertigte Perimeterdrohnen.
Allmählich strömten die Feierabendmassen durch die Gassen der Medina, ausgespuckt von den klimatisierten Minibus
sen, die alle fünf Minuten aus Biotech Park eintrafen. Anhand ihrer Kleidung konnte man sie leicht von den Einheimischen unterscheiden. Bei manchen wallten makellos weiße Thawbs oder bestickte Kaftane über Khakihosen; andere hatten ihr Haar mit farbenfrohen Hijabs bedeckt oder Saris um die Schultern geschlungen; manche trugen Jeans und Hemden aus der Zone, andere westliche Retro-Anzüge aus Leinen und Seersucker-Krepp; wieder andere entblößten Beine und Oberkörper mit durchsichtigen Stoffen und demonstrierten auf diese Weise, dass ihre Fähigkeiten so bedeutsam waren, dass ihre Arbeitgeber ihnen alle Verstöße gegen die Schicklichkeit durchgehen ließen. Alle schwatzten miteinander oder mit dem Netz, über Ohrenclips, Brillen, Perimeter, Implantate oder andere am und im Körper verborgene Geräte.
Und mitunter machten sie halt in einem der Dutzenden geheimen Teehäuser im Prager Stil, die sich in den sechzig Jahren seit dem Großen Kollaps im späten 21. Jahrhundert hier etabliert hatten. Menschen und Farmen waren damals von einer Welle von Seuchen dahingerafft worden, und in der Folge hatte die neugegründete Afrikanische Föderation in ihrem Hauptsitz in Johannesburg einen Zehnjahresplan entwickelt und den dreihundert Millionen überlebenden Föderationsbürgern versprochen, die fortschrittlichste Agrarwirtschaft der Welt aufzubauen.
Durch drastische Reformen hatte die Föderationsregierung praktisch den gesamten Kontinent in eine Sonderwirtschaftszone verwandelt. Für Forschung, die die Landwirtschaft lukrativer zu machen versprach, gab es keinerlei Beschränkungen mehr. Das hatte die großen Firmen aus der Eurozone und der Asiatischen Union in die weltoffenen Föderationsstädte gelockt – sie forschten hier an gentechnisch veränderten Tieren, die Medikamente sekretierten, an synthetischen
Organismen mit Turbowachstum, an metagenetisch verbessertem Humus oder an Exo-Agrartechnologien für den Export an die Kolonien auf Mond und Mars. Viele der neueren gentechnischen Erfindungen waren in den anderen Wirtschaftszonen aufgrund mangelnder Sicherheit und ethischer Bedenken verboten. Nicht so in der Afrikanischen Föderation.
Einige der erfolgreichsten Unternehmen, die in den quasi rechtsfreien Raum gekommen waren, stammten aus Prag, Budapest und Tallinn – und diese Firmen hatten weitere Leute aus der zentralen Eurozone angezogen. Mit ihnen kam die Kultur geheimer Teehäuser: kühle kleine Räume mit Türen ohne jede Aufschrift, wo man den Türsteher kennen oder ihm ein Passwort zuflüstern musste. Mittlerweile war das »geheim« allerdings eine bedeutungslose Formalität. Man bekam die Passwörter ohne große Probleme im Netz, oder man machte mit dem Türsteher Bekanntschaft, indem man ihm etwas Cryptocash zusteckte. Derartige Eigenheiten aus der Eurozone vermischten sich rasch mit der lässigen Teehauskultur, die bereits seit Jahrhunderten in der Medina existierte.
Einige wenige Teehäuser meinten es allerdings ernst mit ihren Geheimnissen. So wie das namenlose, in dem Paladin jetzt gerade stand und die diffuse Mischung flüchtiger Substanzen aus Dutzenden von Teesorten analysierte, deren getrocknete Blätter in präzise erhitztem Wasser zogen. Das Passwort hatten sie von einem der föderalen IPC
-Agenten, der Ort war bekanntermaßen ein Treffpunkt von Hackern und Piraten. Für Paladin unterschieden sich die Gäste allerdings durch nichts von dem Strom der Geschäftsleute draußen. Das war vermutlich auch der Grund, warum Eliasz ihm für die nächsten Stunden eine HUMINT
-Übung aufgetragen hatte. Der Bot sollte seine Umgangsformen trainieren, und dafür gab es keinen besseren Ort
als ein Teehaus, wo sie versuchen würden, so viele Leute wie möglich kennenzulernen.
Eliasz stupste Paladin an und forderte ihn mit einer kaum wahrnehmbaren Geste auf, seinen Sitznachbarn anzusprechen. Der Mann fläzte sich, nachdem er Tee bestellt hatte, so weit über die Bar, dass Paladin einen Streifen blasser Haut oberhalb seines Hosenbunds sehen konnte. Es wurde Zeit, seinen Eröffnungszug auszuprobieren: Gib ein klein wenig Persönliches preis, und schon werden dir die Menschen auch etwas über sich erzählen.
»Ich bin zum ersten Mal hier – es ist ganz anders, als ich erwartet hatte«, sagte Paladin laut und drehte Rumpf und Gesicht dem Mann zu, der ein wenig überrascht wirkte. Offensichtlich hatte er nicht erwartet, angesprochen zu werden, schon gar nicht von einem hünenhaften Roboter.
»Ach ja? Was hattest du erwartet? Dass sie hier Kohlenwasserstoffe ausschenken?«
Durch die hinteren Sensoren konnte Paladin sehen, wie Eliasz die Augen verdrehte. Der Witz über Bots, die in Bars nach Kohlenwasserstoffen fragten, hatte schon vor vierzig Jahren einen Bart gehabt und wirkte inzwischen nur noch herablassend. Aber der Mann war gerade alt genug, um sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, zwei winzige schwarze Striche, die fast wie gemalt aussahen.
Paladin, fest entschlossen, bei dieser Interaktion irgendwie Erfolg zu haben, ließ sich nicht entmutigen. »Ich bin Pack, und das ist Aleksy.« Er deutete auf Eliasz. Pack war unter Laborbots ein gebräuchlicher Name.
»Slavoj.« Der Mann streckte die Hand aus und griff nach Paladins Hand aus Karbonlegierung. Die Blutproben ergaben hohe Koffeinwerte. Das war ein gutes Zeichen, es versprach eine bereitwillige Preisgabe von Informationen
.
Paladin entschied sich für eine Eröffnung, die bei Unterhaltungen immer Ergebnisse zu liefern schien.
»Woher kommst du?«
Nahezu ohne weitere Nachfragen erzählte ihnen Slavoj nun mit vom Koffein gelöster Zunge seine Lebensgeschichte. Er stammte von irgendwoher in der zentralen Eurozone und hatte mit seinen Freunden hier ein Start-up für Gewebekultur gegründet, doch dann war ihnen das Geld ausgegangen. Jetzt arbeitete er in einer Fleischfabrik, sein Job war die Qualitätskontrolle von Muskelgittern. Betrübt blickte er Paladin und Eliasz an und schüttelte den Kopf. »Das hier ist einfach im Augenblick kein guter Ort, um einen Job zu kriegen. Es heißt immer, man könnte hier leicht reich werden, aber in Wahrheit meinen die Leute damit, dass es nicht so schwer ist, arm zu sein.«
Paladin neigte den Kopf, um sein Mitgefühl auszudrücken, und improvisierte dann: »Das hab ich jetzt schon häufiger gehört.«
Das genügte, um bei Slavoj ein weiteres Lamento auszulösen – über all seine gescheiterten Bewerbungen und die unfairen Erwartungen der Firmen.
Eliasz legte Paladin eine Hand auf den Rücken. Der Bot hatte es tatsächlich geschafft, zu Slavoj eine Verbindung aufzubauen. Kurz fühlte Paladin etwas wie Stolz in sich aufwallen – was weit über die übliche einprogrammierte Freude hinausging, die er empfand, wenn er eine Aufgabe zu Eliasz’ Zufriedenheit erfüllt hatte. Er hatte richtig Spaß an der Sache. Aus einem Impuls heraus sandte er ein lächelndes Emoji an Eliasz’ Perimeter. Als dieser es empfing, trommelte er auf dem Rücken des Bots mit dem Daumen einen sinnlosen, freundlichen Rhythmus.
Hinter der Bar goss der Teemann dampfendes Wasser in eine große mit Minzblättern gefüllte Kanne aus gehämmertem Silber. Er schnippte mit den Fingern, und ein Junge in gestärkter
weißer Kleidung nahm die Kanne und platzierte sie zusammen mit zwei Gläsern auf ein Tablett, während der Teemann eine Schale mit gezuckertem Kardamomgebäck vor Slavoj auf den Tresen stellte. Nachdem der Junge das Tablett zu einem Tisch in der Ecke gebracht hatte, setzte er sich auf einen niedrigen Hocker hinter die Bar und warf immer wieder verstohlene Blicke auf Paladins massige Gestalt.
Eine größere Gruppe kam herein, die sich angeregt über eine Geschichte unterhielt, die derzeit in den Pharma-Textrepos umging.
»Nie im Leben sind die Schwachköpfe bei Smaxo schlau genug, um so was hinzukriegen«, meinte einer verächtlich.
»Ich kenne Leute aus der Forschung. Blöd sind sie nicht«, erwiderte ein Mann, dessen Knochentransplantate unter der Kopfhaut ein seltsames Relief phrenologischer Zonen ergaben, die Beschriftungen wie »Sex« und »Whiskey« trugen. Er fuhr fort: »Warum sollten sie nicht eine Hintertür in ihre Präparate einbauen? Die werden von der halben Welt geschluckt. Das ist der perfekte soziale Kontrollmechanismus.«
Eine Frau, deren Gesicht halb von einer klobigen Gamer-Montur verdeckt wurde, nickte. »Absolut«, sagte sie, während ihre mit Sensoren bespickten Hände zuckten. Es war nicht zu erkennen, ob sie mit jemandem weit Entferntem sprach oder ob sie an der Unterhaltung im Teehaus teilnahm.
»Das macht keinen Sinn«, sagte der Mann, der zuerst gesprochen hatte. »Wenn es dein Ziel ist, eine aufständische Masse ruhigzustellen, warum dann nicht einfach eine Substanz entwickeln, die genau das bewirkt? Warum etwas in deine Medikamente einbauen, das durch einen Katalysator getriggert werden muss? Das ist einfach viel zu kompliziert und schwierig.«
»Vielleicht ist der Katalysator ein Bild oder ein Wort. Etwas,
das man medial übertragen könnte.« Der Typ mit der Schädelmodifikation wurde richtig aufgeregt, in seinen Muskeln zuckte ein elektrischer Sturm. »Wie sonst erklärst du dir, dass sich der Smaxo-Vizepräsident mit dem Verteidigungsminister der Handelszone trifft? Glaubst du, die haben einfach nur Smileys ausgetauscht? Die Wirtschaftszonen hätten natürlich gerne was, womit sie die Leute davon abhalten können, gegen ihre Scheiße zu protestieren.«
»Schon klar, natürlich macht Smaxo Geschäfte mit der Zone, aber eine pharmazeutische Hintertür, mit der man das Hirn in einen Thetawellenmodus versetzen kann?« Der Mann, der jetzt sprach, hatte kurzgeschnittenes Haar und trug ein weißes Hemd, das ihn klar als einen Firmenangestellten auswies. »Sorry, aber das glaub ich einfach nicht.«
Die Gruppe drängelte sich inzwischen um die Bar, ihre Körper bildeten rund um Paladin und Eliasz ein warmes Netz aus Hindernissen; aus ihren Poren drangen Schweiß, Erregung und die Abbauprodukte von Euphorika.
»Ich hab schon mal was hinbekommen, das genau so funktioniert hat.«
Alle in der Gruppe verstummten und lauschten nun der großen Frau, deren Ellbogen leicht gegen Paladins Arm drückte. Ein kleines Büschel pinkfarbenes Haar prangte auf ihrem ansonsten kahlen braunen Schädel, und sie trug das traditionelle geknöpfte Hemd der Eurozone. In der Brusttasche steckte ein Massenspektrometer. »Bakterien, die auf ein bestimmtes Geräusch reagieren. Ich hab mal einen ganzen Club gekapert, indem ich die Getränke mit den Viechern gepimpt hab. Hab alle Jungs einen Poledance machen lassen und dann das Video davon online gestellt.« Sie war viel ruhiger als der Rest der Gruppe, und eine Blutprobe ergab, dass sie außer Koffein keine Drogen intus hatte. Als ihr Hemdsärmel Paladins Arm streifte, nahm er
Moleküle wahr, die er aus Luftreinigungssystemen kannte. Sie hatte länger in einer Kuppel oder unter der Erde verbracht, bevor sie hierhergekommen war.
Die ganze Gruppe hörte nun der Frau zu, die in ihren Hosentaschen nach einem Gerät kramte. Die Körperhaltung der Leute ließ erkennen, dass es sich bei der Frau um einen sozialen Knoten handelte. Sie war der Mittelpunkt der Gruppe, der Mensch, den sie alle kannten.
»Das Video war wirklich der Hammer«, grölte der Mann mit der phrenologischen Karte. »Episch.« Er wandte sich der Frau und damit auch Paladin zu, und nun sah der Bot, dass das Knochengebirge über seinen Augen mit »WTF
« beschriftet war.
Eliasz, der sich zu Paladins Linken befand, gab sich gelassen, strahlte aber höchste Wachsamkeit aus. Slavoj, eingeklemmt zwischen dem sozialen Knoten und What-the-fuck, versank in seinem Stuhl und konzentrierte sich ganz auf seine Kekse. Offensichtlich kannte er diese Leute, doch Paladin konnte sich nicht entscheiden, ob seine Haltung ein Versuch war, unerkannt zu bleiben, oder ob er im Gegenteil die Gruppe auf sich aufmerksam machen wollte.
»Bitte eine Runde Schwarzen für meine Freunde«, sagte die Knotenfrau höflich zu dem Teemann.
»Das Übliche?«, erwiderte der und langte nach einem Glas mit teuren getrockneten Blättern.
»Ja, danke. Wir sind im Hinterzimmer.«
»Eine Runde von Frankie! Smooth!« Der Mann in Geschäftskleidung klopfte ihr anerkennend auf den Arm.
»Smooth!«, wiederholte die Spielerin, nahm ihre Montur vom Gesicht und setzte sie auf einen Sensorstreifen, der rund um ihren Schädel verlief. Der Blick ihrer vollkommen schwarz gefärbten Augen fiel nun auf Slavoj.
»Oh, hey«, sagte sie
.
»Hey, Mecha«, murmelte Slavoj und befingerte sein Teeglas.
Frankies Gruppe erhob sich, folgte ihr durch einen Perlenvorhang am Ende der Bar. Mecha, die zurückgeblieben war, zupfte an Slavojs Ärmel.
»Und, was treibst du so?«, fragte sie.
»Komm grad von der Arbeit.«
»Arbeitest du immer noch bei Promoter, an eurem Projekt Dritter Arm?«
»Ja, aber wir warten gerade auf die Finanzierung und arbeiten solange als Consultants, um über die Runden zu kommen.«
Nachdem Paladin das Grundmuster von Slavojs Sprechweise analysiert hatte, konnte er mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Mann jetzt log.
»Ich muss los, aber wir sollten uns mal wieder treffen. Hab dich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.« Mecha lehnte sich gegen Slavoj, um sich einen Keks von dem dahinschwindenden Haufen in der Schüssel zu nehmen. Sein Körper spannte sich kurz an, als wollte er etwas sagen, doch dann ließ er es sein. »Übrigens, was machst du heute Abend?« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie ihre Montur auf und neigte den Kopf. »Komm doch auf die Party bei Hox.«
Slavoj tippte an seine Brille und las den Text, den sie ihm geschickt hatte. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt – ja, er würde dort sein.
Paladin suchte nach einer Möglichkeit, wie er seinen neuen Freund dazu bringen könnte, sie mitzunehmen. Partys waren ein guter Ort, um Leute kennenzulernen.
Auf ihrem Weg zum Perlenvorhang fuhr Mecha leicht mit den Fingern über Paladins Rücken. »Schickes Gehäuse«, sagte sie anerkennend. »Ich wette, das kann auch negative Brechung, richtig?«
»Ja, kann es«, sagte Paladin laut
.
»Sieht toll aus«, sagte sie und richtete ihre Gamer-Montur auf die verdeckten Mündungen in seiner Brust. »Nettes Abwehrperimeter für einen Laborbot.«
Paladin wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. »Danke. Slavoj und ich haben uns gerade über das Leben im Labor unterhalten.«
Bevor sie durch den Perlenvorhang entschwand, drehte sich Mecha noch einmal um. »Bring doch deinen hübschen Bot-Freund mit!«, rief sie Slavoj zu.
Slavoj kippte den letzten Rest seines Tees hinunter und grinste Paladin und Eliasz an. »Und? Wollt ihr mitkommen?«
Hocherfreut sah Paladin, wie sich Eliasz’ Gesicht zu einem seltenen Lächeln verzog. Ganz ohne Hilfe hatte der Bot zum ersten Mal erfolgreich unter Menschen ermittelt.
Sie verabschiedeten sich von Slavoj und traten wieder auf die Straßen der Medina hinaus. Auch wenn Paladin gelegentlich in der Menge einen Biobot erspähte, war diese Stadt ganz offensichtlich für Menschen erbaut. Eine Gottesanbeterin wie Fang hätte niemals durch die engen Gassen gepasst, und die Verkaufsstände sandten keinerlei Metadaten aus.
»Das war ein guter Anfang, Partner. Ich würde vorschlagen, du machst gleich ein bisschen weiter.« Eliasz deutete auf eine Straße, die leicht nach Norden abbog und deren Mauern erst kürzlich mit einer schnell trocknenden Flüssigkeit voll biolumineszierender Bakterien und Netzwerkpartikel übertüncht worden war. Paladin zögerte.
»Wie es scheint, gibt es in dieser Stadt nicht besonders viele Bots.«
»Stimmt. Aber selbst in einer Stadt voller Bots werden Menschen dich anders behandeln. Damit musst du klarkommen. Und einen Weg finden, daraus Kapital zu schlagen.
«
Der Bot ließ sich etwas zurückfallen und folgte Eliasz – neben ihm hätte er keinen Platz gefunden. Sie kamen an einer verwahrlosten Katze vorbei, die auf einem niedrigen Balkon schlief, und an vier Kindern, die sich um einen uralten Wasserhahn drängten.
»Wie soll ich daraus Kapital schlagen?« Paladin deutete auf sein Gesicht.
Eliasz lachte, und der Bot merkte plötzlich, dass er den Verlauf sämtlicher Sonnenstrahlen abspeicherte, die von den Fenstern über ihm reflektiert wurden, obwohl es nicht den geringsten Grund dafür gab. Er wollte nur einfach diesen seltenen Moment bis ins letzte Detail einfangen – den Moment, in dem Eliasz lachte und die Lichtwellen länger wurden und versprengte Wassermoleküle durch die Luft flogen.
»Paladin, glaubst du wirklich, du wärst der erste Agent, der auffällt wie ein bunter Hund? Schau mich doch mal an! Meine Haut hat die Farbe von Kuhmilch. Jeder sieht sofort, dass ich hier nicht hingehöre. Oder nimm unseren neuen Freund Slavoj. Der ist auch ein Außenseiter. Jeder ist ein Außenseiter, wenn man nur tief genug gräbt. Der Trick besteht darin, dass du den Leuten vermittelst, du wärst ihre Art von Außenseiter.«
»So wie ich, als ich Slavoj gesagt habe, dass wir Probleme hätten, Arbeit zu finden.«
»Genau! Du bist vielleicht ein Kohlenwasserstoffe saufender Bot, aber er mag dich, weil du mit dem gleichen Problem kämpfst. Ihr teilt dieselben Sorgen.«
Sie erreichten nun einen offenen Platz, gesäumt von Innenhöfen und Geschäften. In der Mitte drängten sich Dutzende von Ständen mit Elektro- und Biotechkram. Paladin hatte eine Idee.
Im Gegensatz zu Eliasz konnte Paladin Darija-Arabisch sprechen, die in dieser Region gebräuchlichste natürliche Sprache.
Er ließ Eliasz stehen und ging zu einem Mann, der Muskelfasern verkaufte, ganz ähnlich denen, die sich unter dem Panzer des Bots spannten.
»Ich muss meine Muskulatur aufstocken«, sagte Paladin auf Darija. »Bedauerlicherweise kennt sich mein Herr nicht mit Bots aus und spricht nur Englisch. Aber du siehst aus, als hättest du, wonach wir suchen. Das ist eine schöne Auswahl.«
Der Mann sah zu Paladin auf, dann ging sein Blick kurz zu Eliasz. »Eurozone?«, fragte er. »Wo? Osten?«
»Hat er mir nicht gesagt. Auf jeden Fall irgendwoher, wo man kein Darija lernt.«
Damit erntete er ein trockenes Grinsen. »Alles klar, mein Freund. Welche Länge und Abstimmung brauchst du?«
Durch seine hinteren Sensoren konnte Paladin sehen, dass Eliasz selbst ein ganz ähnliches Grinsen zu unterdrücken suchte.
Während er mit dem Muskelverkäufer über die verschiedenen Fasern feilschte, versuchte Paladin, mehr aus dem Mann herauszubekommen.
»Kriegt man hier irgendwo markenloses Biotech?« »Markenlos« war der hiesige Ausdruck für raubkopierte Ware. »Mein Herr sucht nach etwas Billigem für sich selbst.«
»Über markenlos weiß ich nichts.« Der Verkäufer sah kaum vom Tisch auf, wo er Paladins gerade erstandene Muskelstränge sorgsam in ölgetränkte Membranen wickelte. »Aber billiges Zeug? Da schaut ihr am besten mal beim Hafen.«
Als Paladin Eliasz von dem Fehlschlag erzählte, hob der die Augenbrauen.
»Das war kein Fehlschlag, Partner. Du hast wirklich etwas rausgefunden. Niemand wird dir direkt sagen, wo man illegale Ware findet. Es war klug, nach etwas Billigem zu fragen. So konnte er dir antworten, ohne zuzugeben, dass er irgendetwas weiß.
«
»Interessante Perspektive. Vielleicht hast du recht.«
Eliasz zuckte mit den Achseln. »So ist das eben mit den Menschen. Die Leute bilden sich immer ein, dass sie super gut darin sind, Dinge zu verschleiern. Aber eigentlich wollen sie dir unbedingt alles sagen, was sie wissen. Sobald du erst mal ein Vertrauensverhältnis hergestellt hast, schütten sie dich mit Informationen zu. Ich wette, für dich ist es sogar noch einfacher, weil sie sich gar nicht vorstellen können, dass ein Bot so raffiniert vorgehen könnte wie ein Mensch.«
Paladin dachte gewissenhaft über diese Informationen nach. Bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass er besser als Eliasz in HUMINT
sein konnte?
»Wenn du hier schon groß mit deinem Darija angibst, warum besorgst du mir nicht was zum Essen, bevor wir uns auf den Weg zum Hafen machen?« Eliasz deutete auf einen Verkäufer, der gerade eine Lage Fleisch auf einen Spieß steckte. Am Stand nebenan gab es Sesambrot und stapelweise frisch gebackene, fettige Kringel.
Es wurde Abend, die Mauern begannen zu leuchten und in den Straßen sammelten sich die Schatten. Eliasz, der im Gehen aß, stieß in kameradschaftlicher Lässigkeit gegen den Bot. Einer Katze, die hoffnungsvoll neben ihnen hertrottete, warf er ein Stück Fleisch zu, und Paladin fragte sich, ob er nun den Menschen kennenlernte, der Eliasz abseits seiner Mission war. Als er mit seinen Schultersensoren Eliasz’ Biowerte auslas, fiel ihm auf, dass der Mann gespannt zu ihm hinübersah. Paladin drehte sein Gesicht Eliasz zu, damit er wusste, dass er den Blick erwiderte. Für ganze zwei Sekunden betrachtete Eliasz seine visuellen Sensoren, ohne dass Paladin den Grund verstand. Vielleicht hätte Eliasz gesagt, dass der Grund offenkundig war. Vielleicht mochten sie einander einfach.
Während sie auf der Suche nach seinem nächsten HUMINT
-Übungsobjekt zum Hafen spazierten, dachte Paladin darüber nach, was der Blick wohl zu bedeuten hatte.
Um Mitternacht trafen Eliasz und Paladin bei der Adresse ein, die Slavoj ihnen genannt hatte, ein Kellerlabor drei Stockwerke unter den Zwillingstürmen. Früher einmal eine Hochglanz-Einkaufsmall, war das Twin Center heute ein Labyrinth aus Büroräumen, Laboren und Freizeitangeboten.
»Kann gut sein, dass das eine Sackgasse ist«, warnte ihn Eliasz. »Vielleicht sind das einfach nur Biopunks, die die Szene cool finden. Aber Frankie sollten wir im Auge behalten – sie ist schon mal für den Besitz von unlizenzierten Laborgeräten verhaftet worden. Achte darauf, mit wem sie spricht, okay, Partner?«
»Mach ich.«
»Und sieh zu, dass du ein paar neue Kontakte knüpfst.« Grinsend stieß ihn Eliasz in die Seite, und Paladin schubste spielerisch zurück. Ein ungewohntes Gefühl. Menschliches Fleisch war so zart, verglichen mit einem Botpanzer.
Aus der feuchtwarmen Abendluft traten sie in ein klimatisiertes Foyer. Vor über einem Jahrhundert war dieses Gebäude das Juwel von Casablanca gewesen, ein Monument für dessen Reichtum und Verwestlichung, zu einer Zeit, als der Kontinent durch Seuchen, Unruhen und Kriege destabilisiert worden war. Jetzt wurde es von den luxuriösen Wolkenkratzern rund um den Platz der Vereinten Nationen überschattet. Aus den früheren Boutiquen und Luxusapartments waren die überfüllten Domizile von Künstlern, Herumtreibern und radikalen Systemkritikern geworden.
Zwei Frauen teilten sich neben dem Aufzug gerade etwas 420
. Sie trugen schwarze, von roten Heizdrähten durchzogene Kaftane, und ihre dunklen Gesichter schimmerten von Glitter
.
»Geht ihr zur Party?«, fragte eine von ihnen, als Eliasz auf den Aufzugsknopf für die Fahrt nach unten drückte.
»Jepp.«
»Ihr kommt gerade rechtzeitig für die Orgie.« Die beiden kicherten und winkten ihnen mit zierlichen Händen zu, als sich die Aufzugstür schloss.
Kurz darauf traten Paladin und Eliasz in einen Raum, dessen Atmosphäreregler offensichtlich überfordert waren von der Hitze und dem Schweiß, den die dichtgedrängte Menschenmenge ausdünstete. In einer Ecke hatte man eine Tanzfläche freigeräumt, auf der ein paar Dutzend Menschen im Stroboskopblitzlicht umherhüpften. Zur Linken hatte man eine Reihe von Labortischen zu einer Bar umgerüstet. Der Mann mit dem WTF
-Tattoo auf der Stirn stand hinter dem improvisierten Tresen, mixte eine Reihe von Drinks und reichte sie in durchsichtigen geschäumten Bechern an die schwitzenden Menschen weiter, die Schlange standen. Über ihm befand sich eine Art Loft mit verspiegelten Fenstern, »VORSICHT
!« warnte ein Schild an der Tür.
Am Rand der Tanzfläche und an der Bar standen kleine Grüppchen, in denen Code diskutiert und mit neuen Mods und Gadgets geprahlt wurde. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und zart bepelzten Flügeln wurde von einer Gruppe Neugieriger umringt, darunter auch Mecha und Slavoj. Beide konnten schon nicht mehr ganz gerade stehen. Er breitete die an den Schulterblättern entspringenden Flügel aus, die denen einer Fledermaus nachempfunden waren, und Mecha streichelte einen davon andächtig.
Plötzlich kam Frankie eilig die Treppe vom Loft hinunter und schob mit entschlossener Miene ein paar Leute beiseite, die sie begrüßen wollten. Sie hielt gradewegs auf What-the-fuck zu, teilte mühelos den Menschenpulk und flüsterte ihm etwas ins
Ohr. Er las eine Anzeige an seinem Handgelenk ab und nickte. Paladin versuchte zu verstehen, was die beiden sagten, doch der Umgebungslärm war zu groß. Der Bot begnügte sich damit, sie mit den Sensoren in seinem Hinterkopf zu beobachten, während er und Eliasz sich zu der Gruppe von Mecha und Slavoj gesellten.
»Der süße Bot!«, quiekte Mecha, schlang die Arme um seinen Körper und verschmierte ihn dabei mit den Zuckerverbindungen ihrer Trunkenheit. Sie richtete den Blick ihrer schwarzen Augen auf Eliasz. »Ist das deiner? Wie heißt er denn?«
»Wieso glaubst du, dass er jemandem gehört?« Eliasz hatte einen leicht ironischen Tonfall angeschlagen und sich damit der Gruppe angepasst. Ganz mühelos fügte er sich ein, nutzte seine Begabung zur Konformität, um rasch ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Jemand hatte ihm einen Becher mit einer leuchtenden orangefarbenen Flüssigkeit in die Hand gedrückt, deren molekulare Signatur Wodka verriet, und er wippte leicht mit dem Kopf zum Takt der Musik, die aus den Lautsprechern entlang der Decke drang. Mecha lachte und sandte über ihre Gamer-Montur eine Nachricht, die Paladin mühelos abfing, entschlüsselte und an Eliasz weiterleitete.
Habt ihr da oben noch Platz für einen mehr? Der Typ hier ist echt heiß.
Die Nachricht ging an jemanden im Loft, der ein Wegwerfgerät ohne zurückverfolgbare ID
benutzte. Die Antwort lautete:
Ja, einer geht noch, aber nicht mehr. Wir sind beinahe so weit.
Hinter ihnen lief Frankie wieder die Treppe hoch, gefolgt von einem Mann mit einem Umhang voll blinkender LED
s. Als sich die Tür zum Loft öffnete, konnte Paladin einen Blick in den Raum dahinter erhaschen – er war mit geschäumten Kissen
ausgelegt, und ein Schwarm winziger Projektoren warf wabernde Muster an die Wände.
Ein schnellerer Rhythmus fegte nun durch die Tanzenden, und Frankie schlug die Tür zum Loft zu. Mecha stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Eliasz’ ins Ohr: »Möchtest du mit mir und Frankie hochkommen? Du darfst mitspielen.«
An Eliasz’ Körperhaltung konnte Paladin ablesen, dass er misstrauisch war. Aus dem Kontext schloss er, dass Mecha ihn einlud, irgendein selbstgebasteltes Molekül auszuprobieren, vermutlich dazu gemacht, Hemmungen abzubauen und intensive Emotionen auszulösen: Freude, Angst, Traurigkeit, Heiterkeit, Zorn. »Was spielt ihr denn?«, fragte er.
»Wir haben da eine Kleinigkeit, die Frankie zusammengebraut hat. Nachdem sie ein bisschen Ellondra rekonstruiert hat.« Ellondra war eine gängige euphorisierende Stimulans. Eliasz entspannte sich.
»Ich geb nur kurz meinem Freund Bescheid, dass er auf mich warten soll«, sagte er zu Mecha. Er zog Paladin beiseite und flüsterte, unhörbar leise für menschliche Ohren: »Ich gehe mit Mecha hoch und sehe zu, was ich über Frankie rausfinden kann. Gegen die Droge, die sie verwenden, bin ich gepatcht, sollte also kein Problem sein. Aber wenn ich in einer Stunde nicht wieder runterkomme, hol mich raus, okay?«
In dem Moment öffnete Frankie die Tür einen Spaltbreit und gab Mecha ein verstohlenes Zeichen. Sie tippte Slavoj und Eliasz an. »Geht schon mal rauf. Ich hol die anderen.« Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge; die Sensoren auf ihrem Körper blitzten im Stroboskoplicht. Dezent tippte sie auf ihrer Runde einzelne Leute an. Nachdem sie etwa zwanzig ein Zeichen gegeben hatte, winkte sie Paladin kurz zu, eilte die Stufen hinauf und zog die Tür hinter sich zu.
Paladins Countdown zählte die sechzig Minuten in Nano
sekunden herunter. Während er dastand, ging er ein paar Frequenzbereiche durch auf der Suche nach lokalen Netzen, die ihm vielleicht Informationen liefern würden. Es gab ein offenes Netzwerk namens Hox, das mit einem lokalen Server verbunden war, der wissenschaftliche Veröffentlichungen und Videos enthielt.
Während der Bot weitersuchte, wandte sich der Mann mit den Flügeln an ihn und fragte: »Und was sagst du dazu?« Paladin spielte die Audioaufnahme der letzten Minute noch einmal ab und begriff, dass er sich mitten in einer Debatte über die Regulation von Gewebekonstruktionen befand. Nach einer neuen, von der Freihandelszone vorgeschlagenen Gesetzgebung mussten künftig alle Körpermodifikationen, bei denen patentierte Gerüststrukturen zum Einsatz kamen, durch eine lizenzierte Fachkraft durchgeführt werden.
Paladin war klar, dass Gesetze zum Schutz von geistigem Eigentum hier nicht sonderlich beliebt waren. »Die Patenthalter können dadurch kontrollieren, was du mit deinem eigenen Körper machst«, sagte er und zitierte damit wörtlich ein Anti-Patent-Textrepo, das er rasch geplündert hatte.
»Genau! Glaubst du, ich hätte diese Flügel, wenn die Zone ihre puritanischen Ansichten in den anderen Wirtschaftszonen durchsetzen könnte?« Der Mann breitete seine schönen, nutzlosen Flügel aus. »Ich bin übrigens Casey.«
»Ich bin Pack.«
»Und was tust du so, Pack? Du siehst nicht gerade aus wie ein Laborassistent.« Casey klopfte auf Paladins Panzer. »Das fühlt sich eher nach Militäreinsätzen an.«
»Ich stehe bei Aleksy unter Kontrakt. Wir sind auf der Suche nach Arbeit im Bereich Genentwicklung.«
»Ach, du bist der Sklave von dem Typen, der mit Mecha nach oben gegangen ist?
«
Darauf wusste Paladin nichts zu sagen, also entschied er sich dafür, eine Gegenfrage zu stellen. »Was machst du denn so?«
»Ich mache maßgeschneiderte Penisse.« Casey tippte sich gegen die Handfläche und sandte Paladin die Adresse eines Servers, der vollgepackt war mit Bestellinformationen über die perfekten Geschlechtsorgane. »Da steckt gutes Geld drin. Aber gerade überlege ich, ob ich nicht eher als Consultant für Firmen arbeiten sollte, die frei zugängliche Gewebegitter entwickeln und einsetzen. Du weißt schon, um diese neue Regulierung zu umgehen.«
»Interessant«, sagte Paladin und scannte den Raum. Eliasz war inzwischen fast eine halbe Stunde weg.
»Eigentlich siehst du ja so aus, als könntest du selbst meine Dienste gebrauchen, mein Freund«, lachte Casey und klopfte auf die glatte Legierung zwischen den Beinen des Bots. »Warum haben sie dich nicht mit einem Schwanz gebaut?«
»Hast du sie nicht mehr alle?«, kicherte Mecha, die gerade überraschend die Treppe hinter ihnen heruntergekommen war. Sie schwankte und klammerte sich an Paladins Arm. »Weißt du denn gar nichts über Bots, Casey? Dieser hübsche Kerl hier …« Sie verstummte und lief rot an, erzitterte unter chemisch induzierten Wohlgefühlen. »Der hübsche Bot hier hat was Besseres als einen deiner Schwänze. Er hat ein Gehirn, genau da.« Sie tippte auf Paladins Panzer, auf die Kammer, in der sein menschliches Gehirn still und leise Daten über menschliche Gesichter verarbeitete.
Mecha stand kurz vor dem nächsten Verzückungsanfall. In ihrer Erregung schmiegte sie sich an den Bot. Sie fuhr mit dem Daumen über seinen Torso und hinterließ eine Schweißspur, die von einem verborgenen Waffensystem zum anderen führte. »Ich bin schon mal in deinem Modell drin gewesen«, flüsterte sie. »In RoboCity.« Bei der Erwähnung der beliebten Spielewelt
sackten ihr die Beine weg. Paladin ging leicht in die Knie, hob ihren vor Ekstase zuckenden Körper auf und trug sie die Treppe zum Loft empor. Dort auf den Kissen und unter Menschen, die ebenfalls unter Drogen standen, würde sie besser aufgehoben sein.
Paladin empfand allmählich eine eigenartige Furcht – jeder in diesem menschlichen Netzwerk schien zu wissen, dass er ein Militärbot war. Nicht mehr lange, und irgendjemand würde sich ernsthaft Gedanken machen. Gut möglich, dass er und Eliasz aufflogen. Diese Party konnte gefährlich werden.
Als Paladin mit Mecha über der Schulter das Loft betrat, entdeckte er sofort Eliasz und Frankie, die in einer Ecke saßen und sich unterhielten. Vor ihnen auf dem Boden breitete sich zwischen den Kissen eine Lache aus Menschen aus, in deren Blut Ellondra kreiste.
Als er Mecha ablegte, wurde sie kurz klarer und deutete durch den Raum auf Frankie. »Siehst du die? Ich liebe
sie.« Sie wandte sich an Paladins Oberarm, blickte auf einen Bereich, in dem etliche Sensoren platziert waren. »Wusstest du, dass sie ihren Namen nach Rosalind Franklin gewählt hat – der Wissenschaftlerin, die die Struktur der DNA
entdeckt hat? Das war auch ihr Pseudonym, als sie für Kranke Pillen
geschrieben hat.«
Als Mecha in die Kissen sank, suchte Paladin bereits Fragmente von abgespeicherten oder im Cache verbliebenen Versionen von Kranke Pillen
heraus. »Frankie ist einfach so … sie ist umwerfend. Du solltest mal mit ihr reden.« Dann streckte Slavoj einen Arm aus der menschlichen Drogenlache, und Mecha floss ihm entgegen.
Frankie und Eliasz kamen nun zu Paladin hinüber, der noch in der Tür stand, sie umschifften dabei die auf und zwischen den Kissen liegenden Leute.
»Aleksy hat mir von deinen Fähigkeiten als Gen-Hacker er
zählt«, sagte Frankie und blickte in die Vertiefungen in Paladins Gesicht, die die meisten Menschen für Augen hielten. »Er hat mir erzählt, dass ihr beide immer zusammenarbeitet.«
»Tun wir.«
»Er hat mir auch erklärt, wie er sich gegen Ellondra gepatcht hat. Sehr beeindruckend.«
»Nicht wirklich, wenn man was von seinem Job versteht«, erwiderte Eliasz – eine wohlkalkulierte Prahlerei.
»Oh, ich glaub, ich hab schon eine ganz gute Vorstellung davon, wie schlau du bist.« Mit einem Grinsen schlug Frankie einen Dermalinjektor gegen Eliasz’ Hals, bevor dieser reagieren konnte. Eliasz’ Pupillen weiteten sich fast augenblicklich. Sie zwinkerte Paladin zu und streckte ihm den Arm entgegen. »Wie es aussieht, ist dein Herr gegen das hier nicht abgesichert.«
Hilflos sackte Eliasz gegen den Körper des Bots. Paladin hob ihn auf die gleiche Weise hoch wie zuvor Mecha und sandte dabei eilig ein Kommando, das Teile von Eliasz’ Perimetersystem abschaltete. Die Körpertemperatur des Mannes war erhöht, und eine rasche Blutprobe bestätigte Paladins Verdacht: erhöhte Dopaminwerte und eine Serotoninkaskade. Eliasz wand sich ekstatisch in seinen Armen, alle Sinne auf irgendeine Halluzination gerichtet, die sein Gehirn als Genuss interpretierte.
Frankie öffnete die Tür und stieß ein bellendes Lachen aus. »Bis später, Kinder.«
Paladin stieg mit Eliasz in seinen Armen die Treppe hinunter; er schaltete seinen Kopflaser an, während er an der Bar vorbei zum Aufzug ging. Dort machte er sich gar nicht erst die Mühe mit den Knöpfen, sondern schickte ein Kommando an das Gebäudesystem, das alle anderen Anfragen überging und den Aufzug ins dritte Untergeschoss schickte. In höchster Gefechtsbereitschaft betrat er die Kabine. Hätte jemand versucht, ihn aufzuhalten, hätte er ihn erschossen
.
Glücklicherweise achtete die Partycrowd vor allem auf die Ankommenden und weniger darauf, wer das Gebäude verließ. Und niemand störte sich an einem Bot, der seinen Herrn, seufzend und stöhnend im offensichtlichen Vollrausch, durch die warmen, frühmorgendlichen Straßen trug. Ein kurzer Molekülcheck ergab, dass die Droge nicht tödlich war, doch Eliasz würde für Stunden außer Gefecht sein.
Im Hotel angekommen, legte ihn Paladin auf die Pritsche und positionierte sich dann, immer noch auf höchster Alarmstufe, in der Mitte des Raums. Doch Eliasz wollte einfach nicht still liegen. Frankies Droge hatte ihn aufgeputscht. Er kroch vom Bett und umklammerte Paladins Beine, befühlte die kühlen Panzersegmente und stieß dabei keuchend kaum verständliche Sätze aus. Kurz verkrampfte er sich, dann gab er ein leises Stöhnen von sich, sein ganzer Körper in der Geiselhaft einer scheinbar endlosen aufgezwungenen Belohnungsschleife.
Paladin kniete neben Eliasz nieder, der sich jetzt auf dem Teppich in einer Embryohaltung zusammengerollt hatte.
»Lass uns ins Bett gehen, Paladin«, flüsterte Eliasz. »Zusammen. Nur dieses eine Mal, das ist schon in Ordnung …« Die Worte verloren sich. Mit seiner neuen Hand konnte Paladin spüren, wie die Erregung in Wellen durch Eliasz’ Körper brandete.
»Ich werde dich zum Bett tragen.«
»Leg dich neben mich.« Wieder fasste er nach Paladins Bein und blickte ihn aus geweiteten Pupillen an. »Du bist so schön. Ich möchte dich neben mir spüren.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag sahen sie einander ins Gesicht. Doch anders als in der Medina wirkte der Anblick von Eliasz’ dunklen Augen jetzt wie ein Wurm, der Paladins Geist mit unsinnigen Zeichenfolgen füllte und seine Handlungsprioritäten überschrieb. Es war nicht leicht, Eliasz’ Worte zu ignorieren
und sich ans Protokoll zu halten. »Das ist zu gefährlich«, sagte der Bot leise. »Man hat uns bedroht. Frankie hat dich unter Drogen gesetzt.«
Schwitzend und zitternd zog sich Eliasz an Paladin hoch, bis er wieder auf den Beinen stand, dann schlang er seine Arme um den Bot und presste sein Gesicht gegen die gepanzerte Schulter. »Bleib, bleib, bleib, bleib, bleib«, wimmerte er in einem leisen Singsang.
Es war zu gefährlich. Doch Paladin wollte
sich neben Eliasz auf die schmale Pritsche legen, wollte mit seinen Sensoren das von der Droge verstärkte Begehren studieren, um in dem Gesicht des Menschen vielleicht eine Entsprechung zu seinen eigenen chaotischen Gefühlen zu entdecken. Also wählte er einen Kompromiss zwischen Sehnsucht und Programmierung.
Er legte Eliasz wieder aufs Bett und ließ sich neben ihm nieder. Mit feinsten Bewegungen seiner Aktoren balancierte er auf der Bettkante, sein Körper ein Schild für den verletzlichen Körper des Mannes. Er blickte Eliasz an und suchte zugleich die Umgebung nach Anzeichen für eine Bedrohung ab. Seine Hand ruhte auf der Seite des Mannes, die feinen Nadeln seiner Handfläche saugten winzige Blutproben ein. Während der Mensch immer wieder von Wellen der Euphorie erfasst wurde, nahm der Bot jede molekulare Veränderung in seinem Körper wahr. Er wünschte, es gäbe noch andere Arten, Eliasz zu berühren und besser zu verstehen, was in ihm vorging.
»Warum hast du gesagt, dass es falsch ist?« Zitternd durchlief Eliasz einen weiteren Höhepunkt, alle Muskeln bis zum Zerreißen angespannt. Er starrte in Paladins Gesicht und presste drängend seine Finger gegen dessen Brust.
»Es ist nicht falsch, was wir tun. Ich mache mir nur Sorgen um deine Sicherheit; aber ich kann Wache halten.«
»Aber du hast gesagt, es wäre falsch. Zwei Männer dürften
nicht beisammenliegen.« Keuchend holte Eliasz Luft, sein Puls raste, während er halluzinierte und zu jemandem sprach, der nicht da war.
Paladin versuchte, ihn wieder in die Realität zurückzuholen. »Ich bin Paladin. Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Bot. Ich gehöre der Afrikanischen Föderation.«
Eliasz begann zu weinen, das Salz seiner Tränen war nicht zu unterscheiden vom Salz seines Schweißes. Paladin wusste nicht, was er sagen sollte. Ohnehin war es unwahrscheinlich, dass der Mann sich in ein paar Stunden noch an irgendetwas würde erinnern können. Wieder verkrampfte sich Eliasz in einem Anfall von Ekstase. Er brachte kein Worte mehr hervor. Der Bot ließ es geschehen, dass der Mann ihn ansah, einen Arm und ein Bein um seinen Panzer schlang und sich mit aller Kraft an ihn klammerte. Es fühlte sich gut an, so als ob Eliasz ihm endlich alles sagen würde, was er wissen wollte.