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Dein Körper gehört dir
13
. Juli 2144
Moose Jaw hatte sich in den vergangenen dreißig Jahren nicht viel verändert. Als Jacks Truck in die kleine Stadt einfuhr, kam sie zunächst an der riesigen Elchstatue vorbei, die rechts des Highways aufragte, dann fuhr sie durch schmale Straßen an alten, bereits zigmal renovierten Holzhäusern einer früheren Epoche vorbei.
Im Stadtzentrum gab es ein paar Casinos und ein Thermalbad, das Jacks Familie immer während der Weihnachtsferien besucht hatte. Das vor über zwei Jahrhunderten erbaute Bad war ein Wahrzeichen der Stadt und seine uralten Becken besonders während der Winterzeit einen Besuch wert, denn wenn man durch ein niedriges Gewölbe schwamm, fand man sich unvermittelt in einem dampfenden Außenbecken wieder. Als kleines Mädchen hatte Jack unendlich viel Spaß in diesem Becken gehabt. Sie war untergetaucht, um ihre Haare in dem salzigen Wasser nass zu machen, dann hatte sie den Kopf so lange an der eisigen Luft gelassen, bis ihr Haar rund ums Gesicht zu einem weißen Gewirr eingefroren war, das sie mit den Händen zerbröseln konnte.
Moose Jaw’s Hauptattraktion waren allerdings eine Reihe von Tunneln unterhalb der Stadt. Angeblich hatten darin Anfang des 20. Jahrhunderts chinesische Einwanderer gelebt. Die namenlosen Männer und Frauen hatten unter Tage in dunklen
Hütten gehaust und für die weißen Präriebewohner die Wäsche gewaschen. Nach einer Führung durch den modrigen Untergrund hatte Jack den anderen Kindern in der Grundschule erzählt, ihr Urururgroßvater habe einst unter der Stadt gelebt.
Ihr Vater war entsetzt, als er das herausfand. Es war das erste Mal, dass er ihr Handy mit dem Familienserver verband und sie selbst ein wenig Ahnenforschung treiben ließ. Er zeigte ihr, wo sie die Fotografien fand, die bewiesen, dass die Chens erst lange nachdem die Tunnel aufgegeben worden waren von Hongkong nach Vancouver gekommen waren, um sich zu Beginn des 21
. Jahrhunderts in Saskatchewan niederzulassen.
Jacks Interesse für Tunnel ebbte nicht ab, selbst als sie widerwillig die offizielle Version der Familiengeschichte akzeptiert hatte. Im Sommer zwischen ihrem ersten und zweiten Collegejahr war sie zusammen mit einer Gruppe von Freunden nach Moose Jaw zurückgekehrt, um als Freiwillige an einer archäologischen Ausgrabung teilzunehmen. Über Monate hoben sie ein Loch unter einer abbruchreifen Lagerhalle etwas abseits der Main Street aus.
Der Leiter der Ausgrabung hatte Gelder eingeworben, um herauszufinden, ob die Tunnel während der Zeit der Prohibition im 20
. Jahrhundert tatsächlich dem Alkoholschmuggler Al Capone gehört hatten. Da die meisten Tunnel vor über zwei Jahrhunderten geschlossen worden waren, erforderte das Projekt ausgiebige, behutsame Grabungen, eine dreidimensionale Abbildung von jeder Schicht und außerdem jede Menge gespannte Drähte, so dass die Grabungsstätte am Ende einem riesigen Spinnennetz glich.
Es konnte nie ganz geklärt werden, ob die Tunnel tatsächlich Al Capone gehört hatten oder nur irgendeinem unbekannten
Verbrecher. Die geräumigen und belüfteten Kammern, auf die sie stießen, enthielten immerhin noch Ausrüstung von Alkoholschmugglern, außerdem ein paar uralte Schusswaffen. Als die Finanzierung auslief, half Jack mit, den Eingang zu versiegeln, der sich inzwischen im Keller eines neuen Mietshauses befand. In der Hoffnung, irgendwann Mittel für weitere Ausgrabungen zu erhalten, ließen die Archäologen einen Zugang offen – erreichbar über eine kleine Falltür.
Jack, die bereits Erfahrungen mit Drittmittelprojekten gemacht hatte, war klar, dass niemand je wieder diese Tunnel betreten würde. Außer ihr. Sie hielt die Tradition aufrecht, indem sie die unterirdischen Gänge zum Schmuggeln benutzte. Während der letzten beiden Jahrzehnte hatte sie ein Luftreinigungssystem eingebaut, außerdem einen geheimen Stromanschluss und eine abgesicherte Netzverbindung, dazu ein Schlafquartier und einen versteckten Safe, wo sie ein sicheres Handy und mehrere Taschen voller Medikamente verwahrte.
Manchmal blieb Jack über Wochen hier, um von der Bildfläche zu verschwinden. Ihre Vorfahren mochten nie in diesen Tunneln gelebt haben, aber sie fühlten sich trotzdem wie ihr rechtmäßiges Erbe an.
Die alte Routine wiederaufzunehmen hatte etwas Beruhigendes. Sie mietete einen Parkplatz bei einem der Bäder und zog einen Faraday-Sack über ihren Truck, der außerdem einen Annäherungsalarm enthielt. Falls irgendjemand versuchte, in ihren Wagen zu gelangen, würde sie eine Warnung und einen Videofeed erhalten. Dann besorgte sie sich frisches Obst und eine Salami – sie besaß dort unten zwar eine Kochmaschine, brauchte aber dringend Trostessen.
Schließlich kam sie beim Hintereingang des inzwischen etwas heruntergekommenen Mietshauses an. Die Überwachungskameras überzog sie mit einem Infrarotstrahl und erzeugte für
ein paar Sekunden eine Bildstörung, während sie rasch durch die Falltür vom Keller in den Untergrund glitt.
»Licht«, sagte sie zu der staubigen Luft und wartete, bis sich die dunklen Schatten unter den aufflackernden Leuchtstoffröhren in einen Stapel Holz und einen Haufen zerbrochener Solarzellen verwandelten. Die schmutzige Kammer war eine weitere Sicherheitsmaßnahme. Falls jemand die nahezu unsichtbare Falltür fand, dann würde er erst einmal auf etwas stoßen, das wie ein Haufen Abfall aus dem letzten Jahrhundert aussah.
Ihr eigentliches Versteck befand sich im Haupttunnel, den sie allerdings mit einer dicken Lage aus geschäumtem Beton versiegelt hatte. Nur ein kleines Loch in Bodennähe hatte sie offen gelassen, das mit einem passend geformten Brocken aus demselben Material verschlossen werden konnte. Diesen Stöpsel zog sie nun hinter sich zu, als sie rückwärts durch das enge Wurmloch in den Haupttunnel kroch.
»Licht und Luft«, hustete sie. Das Schmugglernest wurde von gelbem Licht geflutet, und man hörte einen Lüfter anspringen.
Die niedrige gewölbte Tunneldecke war mit thermoplastischen Balken verstärkt und mit LED
-Drähten durchzogen. An den flachen, in die Wand gehauenen Haken hatten früher einmal Gerätschaften und Waffen der Schmuggler gehangen, aber womöglich stammten sie sogar noch aus der Zeit der Einwanderer, die ihre Haushaltsgegenstände daran verwahrt hatten. Ein Stück weiter befand sich eine Laborbank, zusammengebaut aus einer billigen Tür aus verarbeiteten Samenschalen, die sie auf ein paar Polymerstümpfe genagelt hatte, das Abfallprodukt einer Druckfabrik. Diese Bank enthielt ihr ganzes Leben: einen 3
-D-Drucker, einen Sequenzierautomaten und einen Projektor, alle aus den typischen nougatfarbenen Bauteilen zusammengesetzt. Sie waren an eine Antenne angeschlossen, die sich durch die Wände des Mietshauses über ihr schlängelte und Si
gnale aussandte, die aus Sicherheitsgründen von Frequenz zu Frequenz sprangen.
Ganz am Ende des Raums befand sich unter dem Luftreinigungskasten ihr Futon. Auf dem kalten Boden davor entrollte sie einen weichen, farbenprächtigen Teppich, den sie in Fez, einer Stadt südlich von Casablanca, gekauft hatte. Dieser Ort glich ihrem U-Boot: verborgen unter der Oberfläche, aber verbunden mit der Außenwelt.
Jack lehnte sich gegen die Wand, durch die sie gerade gekrochen war, streckte die Beine aus und seufzte. In Sicherheit. Vorerst.
Obwohl sie seit Tagen nicht mehr ordentlich geschlafen hatte und hundemüde war, scrollte sie auf dem Handy durch die Feeds, projizierte ein paar in die Luft und fragte sich, ob Retcon den von Zacuity angerichteten Schaden noch rechtzeitig eindämmen konnte.
Sämtliche Nachrichtenfeeds berichteten über einen weiteren Zusammenbruch am Arbeitsplatz. Wie üblich ergötzten sich die größeren Feeds ohne jeden Kontext an dem Gruselfaktor, nur die Reporter des investigativen Textrepos Internecine
stellten einen Zusammenhang zu dem Amoklauf im Zugkontrollzentrum von Calgary her.
Es ging um einen Botadmin in einer Timmo’s-Filiale in Toronto, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die Maschinen zu überwachen, die Donutlöcher in die fettigen Teigklumpen stanzten, die in endloser Folge aus dicken Kanülen in siedendes Öl plumpsten. Irgendwann fing er an, Überstunden zu beantragen und die Essenspausen auszulassen. Laut seinen Kollegen entwickelte er eine »unheimliche« Beziehung zu einem der Donut-Bots.
Irgendwann war der Admin zu dem Schluss gekommen, dass sich ein Donutloch auch in anderen Dingen gut machen würde.
In Abfall. Einer streunenden Katze. Den Händen seiner unglücklichen Zulieferer. Schließlich den eigenen Beinen. Binnen Minuten verwandelte sich die Timmo’s-Filiale in ein Schlachtfeld mit mindestens zwei Toten.
Internecine
zeigte ein paar kurze Aufnahmen, die aus dem Körperfeed eines Polizisten stammten.
»Wir machen doch einfach nur Donuts!«, schrie der Mann und hielt einen blutigen Klumpen in die Höhe. »Warum lasst ihr uns keine Donuts machen? Die Bots von Timmo’s machen … die … besten … Donuts!«
Jack starrte auf die Wurst, von der sie gerade hatte abbeißen wollen. Ihr wurde schlecht.