18
Vegas
14
. Juli 2144
Vom Himmel regnete es Pixel, und die Markisen der Verkaufsstände sonderten kühle Nebelschwaden ab. Vegas in seiner klimatisierten Blase kannte keine Temperaturschwankungen. Projektoren malten ein Phantasiewetter auf die Kuppelinnenseite, heute Jupiters nachlassenden Megasturm, dessen grellroter, träger Wolkenstrudel den Strip in ein surreales rötliches Licht tauchte.
Die Touristen hinter Eliasz drängelten sich zum Fenster der Tram, um die monumentale Architektur der Stadt zu bestaunen. Silberne und goldene Gebäude zogen vorbei, schmal wie auf den Kanten stehende Spielkarten, daneben zwiebelförmige Paläste, umgekehrte durchsichtige Pyramiden und natürlich die berühmten Gärten mit ihren Feuerskulpturen und Wasserspielen, wilden Tieren, hünenhaften Robotern und maßstabgetreuen Replikaten von antiken Sklavenschiffen.
Überall, ob auf den vollen Gehsteigen oder den von Hologrammen verpesteten Straßen, wurde menschliche Ware angeboten. Jedes Einkaufszentrum hatte seine eigene Spezialität: Gärtner, Hausdiener, Sekretäre, Techniker oder Buchhalter. Gut ausgebildete Kontraktarbeiter waren teuer und wurden, verborgen vor den Blicken der Schaulustigen, einzeln in speziellen Verkaufsräumen ausgestellt, zusammen mit den Gerätschaften ihrer Profession
.
Andere waren teuer wegen ihrer Schönheit. Die wurden nicht versteckt, sondern an Schauleinen präsentiert, die Haut schimmernd von Kosmetik, das Haar kunstvoll aufgetürmt. Wegen ihnen entstand unter Eliasz’ Mitreisenden immer wieder aufgeregtes Gemurmel. Die Leute seufzten auf beim Anblick solcher künstlich verstärkten Schönheit und rissen Witze – reich genug müsste man sein, um sich so einen leisten zu können.
Bei jedem Halt spuckte die Tram einen Teil ihrer menschlichen Ladung aus, sowohl Kaufwillige als auch Flaneure, bis Eliasz allein in Richtung Wynn Market unterwegs war. Im Vorbeifahren sah er eine Frau in einem aufgesprühten Ganzkörperanzug aus mattem Gummi. Sie wirkte fast wie ein Roboter. Als sie seinen Blick bemerkte, drehte sie sich langsam um sich selbst, perfekte Lippen formten einen perfekten Kuss. Ein gelangweilt dreinblickender Verkäufer hielt ihre Leine, über sein Hemd rieselte das unleserliche Logo der Firma, die sie zum Verkauf anbot.
Eliasz dachte an Paladin, die sich autonom auf ihrer Mission in Vancouver befand, und schwor sich, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit sie diesen Ort niemals zu sehen bekam. Dann kam die Tram in Wynn an, und nun musste er alle Gefühle beiseiteschieben und äußerst wachsam bleiben.
Wynn Market war um die Ruinen einer spielkartenförmigen Ruine errichtet worden. Wie die meisten Einkaufszentren am Strip war dieser früher ein Luxushotel gewesen. Im 21
. Jahrhundert war es von irgendeiner Katastrophe heimgesucht worden, die von den Penthäusern nichts als geschmolzene Skelette übriggelassen hatte. Allein die noch erhaltenen unteren Etagen befanden sich innerhalb der Kuppel, die hier eine scharfe Kurve vollzog. Zu Füßen des Gebäudes breitete sich ein riesiger Basar aus Ständen, Containern und Baracken aus, der labyrinthartige
Markt zog sich die Wynn Lane hinunter, die den Strip an dieser Stelle querte. Vegas lag eigentlich nicht unter einer Kuppel, sondern innerhalb eines Tunnels: Von oben sah der Strip aus wie ein langgezogener, leicht gekrümmter Zylinder. Eine Seite endete in einem Transportterminal, die andere verzweigte sich in kleinere Tunnel wie die Nebenflüsse eines Hauptstroms. Manche dieser Tunnel waren kaum mehr als improvisierte Zeltverhaue mit lauwarmer, abgestandener Luft. Im Zentrum der Verzweigungen befand sich Wynn Market, wo man die billigsten Kontrakte erwerben konnte.
Eliasz’ war auf dem Weg zu den Nebenflüssen mit ihrer halblegalen Ware. Diesen Teil von Vegas kannte er gut.
Wenn Frankies Informationen korrekt waren und Jack sich mit einem AU
-Jungen mit einer Nummer als Name zusammengetan hatte, dann wusste Eliasz, wo dieser Junge mit großer Wahrscheinlichkeit verkauft worden war. Er schlenderte durch den Basar, imitierte den lässigen Gang eines Einkäufers und blieb hin und wieder stehen, um einen Blick ins Innere des Gebäudes zu werfen. Während ihrer Versteigerung lebten Kontraktarbeiter über Wochen oder Monate in den Verkaufsräumen der Stadt, die nur mit notdürftigen Betten und winzigen Badezimmern ausgestattet waren. Die Räume im Wynn Market waren schäbig, aber anderswo auf dem Strip konnten sie so nobel sein wie die Häuser und Geschäftsräume, wo die Kontraktarbeiter ihre Verträge erfüllen würden. Dort, wo Eliasz hinwollte, gab es überhaupt keine Zimmer.
Die Wynn Lane verengte sich hier zu einem Fußweg, dicht gesäumt mit Ständen und großen Kisten. Darin wurden teilnahmslose angeleinte Menschen ausgestellt, die standen oder auf dem Boden schliefen. Viele hatten primitive Prothesen aus der Massenfertigung – die Kontraktarbeiter hier stammten entweder aus Militärbeständen oder waren vorher als Maschinis
ten eingesetzt worden. Fast alle waren zu beschädigt, um ihre ursprünglichen Kontrakte zu erfüllen. Manche Verkäufer spezialisierten sich eben auf Mängelware, die schnell und mit Rabatt abgestoßen wurde.
Eliasz bog schließlich in eine namenlose Gasse ab, deren getöntes Dach sich nur wenige Meter über seinem Kopf wölbte. Die dunkle Gasse war ein verborgenes Rinnsal des Wohlstands, die Luft war hier süß und rein. Auf beiden Seiten glänzten lange Reihen ordentlich aufgereihter, unbeschrifteter Frachtcontainer, die von dicken Stoffbahnen verhängt waren. Nach etwa einem Kilometer endete die schmale Straße in einer Sackgasse. Manche Ware hier war kostbarer und begehrter als alles, was man auf dem Strip bekam. Andere Container waren vollgepackt mit Ausschuss, der aber noch jung und frisch genug war, um einen anständigen Preis zu erzielen.
In der Freihandelszone war es nicht erlaubt, Minderjährige unter Kontrakt zu nehmen, doch es wurde trotzdem ständig gemacht. Manchmal bewusst, manchmal versehentlich, aber immer handelte es sich um Kindesmisshandlung. In dieser Gegend hatte Eliasz’ Laufbahn begonnen, hier war er erstmals gegen Eigentumsdelikte vorgegangen, hatte den Abschaum verfolgt, der Jugendliche unter sechzehn verkaufte. Das war kein leichtes Geschäft. Nicht immer ließen sich die Minderjährigen von den Erwachsenen unterscheiden. Manche der angebotenen Kinder waren in jungen Jahren mit Vive vollgepumpt worden – oder hatten es selbst getan –, um auf ewig wie verletzliche Schuljungen und Lolitas auszusehen. Zwanzigjährige, die wie dreizehn wirkten, waren keine Seltenheit. Nach Eliasz’ Auffassung hatte jemand, der gewillt war, einen Volljährigen zu kaufen, der wie ein Kind aussah, vermutlich auch bei einem echten Kind keine Skrupel, doch die Stadt ließ ihn nur die eindeutigen Kriminellen verfolgen, Typen, die Ware aus Wirt
schaftszonen importierten, wo Kontraktschulen und eine unklare Gesetzeslage es ihnen leichtmachten, zehnjährige Dachputzer und vierzehnjährige Sexobjekte zu erwerben.
Ein paar solcher Typen gab es in dieser Gasse, wenn auch die meisten Geschäfte hier in einer rechtlichen Grauzone stattfanden, die er damals lediglich hatte beobachten dürfen.
Er erreichte sein erstes Ziel, der Ort sah noch genauso aus wie vor zwei Jahren. Auf einem kleinen rotgoldenen Schild stand »QUALITY IMPORTS
«. Ob das der Name des Ladens war oder ob damit seine Ware angepriesen wurde, konnte Eliasz nicht sagen. Drinnen war es kühl durch einen zusätzlichen Satz Luftreiniger. Einer davon war direkt auf den Oberkörper eines Mannes gerichtet, der von der verschwommenen Projektion über dem Ladentisch verdeckt wurde.
»Wie schön, dass man dich immer noch hier findet, Calvin«, grüßte Eliasz den Mann.
Die Projektion löste sich auf, und zum Vorschein kam ein kleiner Mann mit sorgsam gekämmtem grauem Haar, der vor einem Serverschrank saß. Zu seiner Rechten befand sich die Tür zum Verkaufsraum, der den meisten Platz des Containers einnahm.
»Kann nicht behaupten, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht«, gab der Mann zurück. »Schikanierst du mal wieder rechtschaffene Geschäftsleute, oder ist das hier ein Höflichkeitsbesuch? Der alten Zeiten wegen?«
»Ich suche nach einem Kind namens Dreinull. Klingt wie eins von deinen.« Eliasz schickte eine Identifizierung an Calvins Projektor. »Ich arbeite nicht mehr in Vegas – das hier ist ein offizieller Besuch der IPC
. Also, du schaust jetzt in deinen Unterlagen nach und sagst mir, ob du ein Kind namens Dreinull an jemanden verkauft hast, der vielleicht in der Arktis gearbeitet hat.
«
»Hey, hey, reg dich ab. Die Polizei kann jederzeit meine Unterlagen einsehen, das weißt du doch. Ich bin sauber.«
»Komm mir nicht mit dem Scheiß – lass mich selbst nachsehen.«
Der Mann fuhr unwillig zusammen, dann öffnete er mit ein paar raschen Gesten die zweidimensionale Seite einer Datenbank. Calvins fliegende Finger gaben »30
« unter KENNZEICHNUNG
ein. Für NAME
gab es kein Feld. Ein Dutzend Ergebnisse, die fünfzehn Jahre zurückreichten, stapelten sich in der Luft.
Eliasz zog sie zur Sicherheit auf sein Handy, dann ging er die vor Calvins Gesicht schwebende Liste durch. Vermutlich war Dreinull erst vor relativ kurzer Zeit, während der letzten ein oder zwei Jahre verkauft worden. Fünfundsiebzig Prozent aller Straftaten von Flüchtigen ereigneten sich im ersten Jahr eines Kontrakts. Das engte die Auswahl ziemlich ein. Übrig blieben sechs Datensätze: kurze Texte mit kleinen Porträtbildern von Jungen aus der AU
oder der Föderation, die Mienen betont ausdruckslos. Emotionen wirkten abschreckend auf potentielle Käufer.
Alle Jungen in Calvins kurzer Liste sahen jünger als sechzehn aus, auch wenn die Unterlagen etwas anderes behaupteten.
»Wer hat die Kontrakte gekauft?«, fragte Eliasz und deutete mit dem Finger auf die kleinen Fotos. Calvin öffnete sämtliche Dateien und blätterte sie mit einer Handbewegung durch. »Diese beiden sind an eine Farm oben im Norden gegangen«, murmelte er, während er durch die Daten scrollte. »Den da habe ich erst neulich verkauft, an eine Molekülfertigungsanalage.«
Eliasz zeigte auf das KÄUFER
-Feld beim vierten Treffer. »Und 45030
hast du an einen Arbeitslosen namens Pseudo Nym verkauft?«, fragte er scharf
.
Mit schmalen Augen musterte Calvin den Eintrag. »Der Käufer war gerade zwischen zwei Jobs, ID
und Credits waren in Ordnung. Es muss auch nicht bei jedem Kontrakt eine genaue Tätigkeit angegeben werden. Die Leute kaufen ständig persönliche Assistenten. Außerdem konnte ich von Glück sagen, dass ich den überhaupt losgeworden bin. War echt ein aufsässiges Stück Scheiße.«
Eliasz’ Hand schloss sich fester um seine Perimetersteuerung. »Was meinst du damit?«
»Er kam aus einer dieser Kontraktschulen in der AU
– dachte, er wäre schlauer als der Rest der Welt. Hat gesagt, er wäre ein Star auf Memeland und bräuchte einen Platz mit gutem Netzzugang. Wie kommen diese Jungs nur auf solche Ideen? Die können doch von Glück sagen, wenn überhaupt jemand bereit ist, sie die nächsten zehn Jahre durchzufüttern.«
Eliasz kämpfte gegen die aufsteigende Wut an. Er brauchte mehr Informationen, der Junge schien perfekt zu dem gesuchten Profil zu passen. Ein anonymer Käufer ohne festen Job, der mit Typen wie Calvin Geschäfte machte, konnte leicht die Pfade von Schmugglern kreuzen. Er schnippte mit den Fingern, um auf seinem Handy ein Fenster zu öffnen, und gab auf Memeland eine Reihe von Suchbegriffen ein: Dreinull, Kontrakt, Sklave,
AU
, Arktis, Jack, Jack Chen, Judith Chen, Pirat, Medikamente, Kranke Pillen.
Auch Quality Imports
und Vegas
fügte er hinzu. Wenn dieser Junge über sein Leben schrieb, dann würden zumindest manche diese Begriffe in Kombination auftauchen. Der Suchverlauf schwebte als leuchtend weiße Pfütze unter Calvins Datenbank.
»Wieso glaubst du, dass dieser Pseudo Nym 45030
durchfüttern wird?« Er deutete auf das kleine Bild, das einen überdurchschnittlich hübschen Jungen mit brauner Haut zeigte, dem das schwarze Haar in lockeren Strähnen in die Stirn fiel. Seinen vor
herigen Kontrakt hatte er bei einer Maschinenwerkstatt in der AU
gehabt.
»Ich habe nichts Unrechtes getan, okay? Du hast meine Unterlagen überprüft – das sind alles legale Verkäufe. Der Mann hat einen Kontrakt unterschrieben und sich damit bereit erklärt, für den Bengel zu sorgen.«
»Kanntest du den Käufer? Hast du ihm schon mal was verkauft?«
»Weiß ich nicht mehr, und selbst wenn, dann bin ich nicht verpflichtet, es dir zu sagen.«
Eliasz langte über die Theke, um Calvins Arm zu berühren, und schickte einen Impuls durch sein Perimeter, ausreichend für einen starken Schock. Der Mann stieß einen Schrei aus, kippte vom Stuhl und krachte in Krämpfen auf den Boden.
»Sorry, Calvin. Hat das vielleicht deiner Erinnerung nachgeholfen?«
»Er … er hatte ein U-Boot. Brauchte jemanden, der sich mit Motoren auskennt. Dafür wollte er den Jungen.«
»Warum deckst du bloß diesen miesen Abschaum? Wie lautet sein richtiger Name?« Er trat Calvin gegen das Steißbein und verpasste ihm zur Sicherheit noch einen Schock.
»Ich weiß es nicht!« Calvin würgte und spuckte Blut. Er hatte sich auf die Zunge gebissen. »Scheiße, warum kümmert dich das überhaupt?« Ein höhnisches Grinsen verzerrte das blutbeschmierte Gesicht. »Hat dir jemand deinen Sklavenjungen geklaut? Bist du jetzt der Racheengel von Vegas?«
Eliasz würde hier nicht weiterkommen. »Das ist nichts Persönliches«, sagte er tonlos und widerstand dem Drang, Calvins Hirn auf der Wand zu verschmieren.
»Kann ich aufstehen, oder schlägst du mich dann wieder? Ich glaube nicht, dass die Abteilung für innere Angelegenheiten
sonderlich erfreut darüber sein wird, wie du hier einen unbescholtenen Geschäftsmann behandelst.«
»Kannst ja Beschwerde einreichen.« Eliasz griff sich eine Handvoll Daten aus der Luft und wandte sich zum Gehen.
Die dicken Samtvorhänge von Quality Imports bauschten sich in einem nahezu perfekten Bogen und schlugen hinter ihm zusammen. Calvin würde nicht so dumm sein, mit einer offiziellen Beschwerde die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und außerdem war Eliasz nicht länger an die hiesige Gesetzgebung gebunden. Er war einer höheren Instanz verpflichtet: der IPC
.
Die namenlose Gasse roch nach Lavendel. Auf der anderen Seite stand ein Mann in legerer Geschäftskleidung, der leise auf ein junges Mädchen mit unnatürlich blonden Ringellocken einredete. Der Mann bot dem Mädchen eine Spritze an, dann setzte er sich auf eine Mahagonibank, um ihr etwas auf seinem Handy zu zeigen. Sie schmiegte sich an ihn und blickte mit verwirrten Augen auf ein holographisches Gebilde. Sechs Meter weiter stand ein Verkäufer im Eingang eines pinkfarbenen Containers mit der Aufschrift »The Alice Shop« und lächelte den beiden zu. Vielleicht schickte er seine Waren für einen Probelauf raus, oder er hatte sie gerade verkauft.
Eliasz wandte sich ab und spazierte zur Wynn Lane zurück. An der Kreuzung wurde er von feuchtwarmen Dunstschwaden erfasst, die nach menschlichen Körpern in den unterschiedlichsten Stadien der Erschöpfung oder Erregung rochen. Vor einer Drogerie, die Generika verhökerte, fand er eine etwas schäbige Plastikbank und setzte sich. Eliasz stellte die Projektion seines Handys so ein, dass sie nur für seine Augen sichtbar war, und begann, die Memeland-Suchergebnisse durchzugehen.
Die ersten Treffer waren nur Müll – Leute, die über Politik und übers Biohacken schrieben und dabei aus einer Kopie von
Kranke Pillen
zitierten, die auf einem freien Textrepo in Anchorage lag. Das half ihm zwar nicht weiter, doch er sandte eine kurze Nachricht an den IPC
-Geheimdienst und wies ihn auf das Archiv hin. Diese Art von Texten sollte nicht öffentlich zugänglich sein.
Er las weiter. Noch mehr nutzloses Zeug über diverse Judith Chens. Doch dann fand er einen vielversprechenden Eintrag, der erst vor wenigen Wochen von jemandem namens SlaveBoy verfasst worden war.
Ich bin wieder da. Eine Weile ist es nicht so gut gelaufen – bin auf dem Sklavenmarkt in Vegas von einem schmierigen Typen ausgestellt worden, der seine Hände nicht bei sich lassen kann und seinen Kunden »Qualitätsimporte« verspricht. Über den Begriff beschwere ich mich nicht, wenn ich nicht Qualitätsware bin, wer dann? Ansonsten will ich es dabei bewenden lassen, dass meine Abenteuer in der Arktis weit weniger angenehm waren, als in einem heißen Maschinenraum in den Arsch gefickt zu werden. Aber: Mein Glück hat sich gewendet. Ich habe jetzt eine neue Herrin, die mich mit Essen und einem Handy versorgt hat, und ich muss dafür nur ein bisschen das Dienstmädchen spielen. Bestimmt will sie bald mehr. Das wollen sie immer. In dieser Hinsicht bin ich halt unwiderstehlich.
Es ist komisch, wieder mitten im Ozean zu sein, aber diesmal frei. Mit frei meine ich nicht frei wie autonom, sondern nur nicht gefesselt wie in einer Transportkapsel auf einem Frachtschiff. Dieses U-Boot ist zwar klein, aber verglichen mit dem Schiff, das mich nach Vegas gebracht hat, ist es ein verdammter Palast. Und meine neue Herrin scheint über unbeschränkte Medikamentenvorräte zu verfügen, also wird mein Arm vielleicht doch nicht verrotten. Lange Geschichte. Nur so
viel: Mein letzter Herr dachte, Salzwasser würde desinfizieren, weil es brennt.
Unter dem Post befand sich ein Zickzack aus mindestens fünfhundert Kommentaren, die teilweise aufeinander Bezug nahmen. Die meisten waren Einzeiler auf Englisch oder Chinesisch, die SlaveBoy zu seiner Rückkehr beglückwünschten und ihre Erleichterung zum Ausdruck brachten, dass er noch am Leben war. Bei anderen handelte es sich um lange, persönliche Geschichten, die Eliasz ohne viel Interesse überflog.
Ein weiterer Post, zwei Tage später:
Jeder Herr fickt gern seinen Sklaven. Das ist ein Naturgesetz oder vielleicht auch kulturelle Prägung. J ist nicht schlecht im Bett, auch wenn die Motoren ihres kleinen U-Boots in einem katastrophalen Zustand sind. An die lässt sie mich aber nicht ran. Obwohl sie mich in ihre Gotch lässt. So nennt man Unterhosen da, wo sie aufgewachsen ist, irgendwo in der Zone.
Und dann, vor acht Tagen:
J hat mich gefickt, bis ich geschrien hab. Echt, ich hab geschrien. Freiheit macht komische Sachen mit deiner Libido. Sie hat nämlich meinen Chip verbrannt. Wir würden jetzt in die Zone kommen, hat sie gesagt, und sie würde mich von der Leine lassen. Ich bin frei. Jedenfalls frei, um die Hure zu spielen. Wozu sind hübsche Jungen ohne offizielle Berufserfahrung sonst gut?
Sie hätte mich auch umbringen können, schätze ich, in der Nacht, als wir uns kennengelernt haben. Hat sie aber nicht, was echt nett von ihr war. Und sie hat mich ins Netz gelassen,
noch bevor wir überhaupt gefickt haben. Auch echt nett. Aber verdammt, wie soll ich einen Job finden, wenn ich alles verheimlichen muss, was ich bisher gemacht hab?
Na, jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, wohin sie will: in irgendein Labor in der Zone. Für jemand, der in Sicherheitsfragen so paranoid ist, hält sie sich nicht gerade bedeckt. Was mir nur recht sein kann, denn ich seh sie echt gerne nackt. Überhaupt mag ich J gerne, auch wenn sie keinen Schimmer von nix hat. Ich glaub, sie versucht, das Richtige zu tun. Aber was die Kontraktarbeit angeht, da begreift sie echt noch nicht mal die allergrundlegendsten Dinge.
Eliasz hielt inne. Das war ganz offensichtlich Dreinull, und »J« war Jack.
Es gab noch zwei weitere Einträge, einen von gestern, aber sie lieferten keine Hinweise darauf, wo sich Dreinull befand. »J« war aus dem Journal verschwunden, stattdessen schrieb der Junge eine Menge über Roboter und Autonomie.
Anscheinend hatte Paladin recht: Jack stand noch immer mit den ehemaligen Kranken Pillen
in Kontakt, darunter auch die Unruhestifter von der Anti-Patent-Bewegung, die dieses freie Labor betrieben. Wahrscheinlich finanziert von einer IPC
-kritischen Non-Profit-Organisation.
Er klinkte sich in Paladins Datenfeed ein. Sie befand sich gerade in Broners Büro und sprach mit dem Wissenschaftler über Hirnschnittstellen. Er schickte ihr den Befehl, den Mann auf der Stelle zu verhören, und hängte die Koordinaten für einen Extraktionspunkt an.
Es wurde Zeit zuzugreifen. Eliasz und Paladin würden sich auf Vancouver Island treffen und von dort … Eliasz startete eine Suche nach freien Laboren in der nördlichen Zone. Die Ergebnisse verwiesen alle auf einen Ort: das Free Lab an der Univer
sity of Saskatchewan in Saskatoon. Wenn Jack nicht da war, dann würde man in dem Labor vermutlich wissen, wo sie zu finden war.
Da er ein paar Stunden Zeit totschlagen musste, kaufte sich Eliasz eine Limo und schlenderte zum Wynn Market zurück. Freie Zeit war gefährlich. Am Rande der Wahrnehmung lauerten immer noch die Dinge, die er bei seiner Arbeit hier gesehen hatte. Oder seine Erinnerungen an Warschau.
Als Eliasz vor über einem Jahrzehnt volljährig geworden war, hatte er Glück gehabt. Sein Vater hatte begrenzte Bürgerrechte für ihn erworben, so dass Eliasz in Warschau arbeiten konnte, solange er bei der Kirche angestellt war. Seinen Schwestern erging es weniger gut. Eine nach der anderen verließ die Heimat, um bei Firmen in Übersee unter Kontrakt zu arbeiten.
Bei seinem ersten Job hielt Eliasz in den Schlafsälen junger Praktikanten Wache, die einen Kurs in den Werkshallen der Kirche absolvierten. Tagsüber sah er den Jungen dabei zu, wie sie in der kirchlichen Roboterfabrik Körperteile zusammensetzten, Algorithmen überprüften und Unterricht in Roboteranatomie erhielten. Sie sollten sich grundlegende technische Fertigkeiten aneignen, damit sie später bessere Chancen auf einen guten Kontrakt haben würden. Während der Nächte leistete Eliasz Schichtdienst in den Schlafsälen, hörte zu, wie die Jungen sich in den Schlaf weinten oder über Nichtigkeiten aneinandergerieten.
Während einer jener langen Nächte erfuhr er, was dabei herauskommt, wenn heranwachsende Jungen den ganzen Tag mit Robotern verbringen müssen. Eigentlich gab es in der Fabrik nicht viele funktionierende Videosensoren, doch einer von ihnen nahm über Infrarot eine Bewegung wahr und alarmierte Eliasz
.
Verborgen hinter einem Haufen ausrangierter Arme und Beine, entdeckte er zwei der Praktikanten mit einem unprogrammierten, weiblich aussehenden Biobot. Die Jungen hatten sie offensichtlich aus ein paar Schrottteilen zusammengebastelt – die Haut nur Flickwerk, der Verstand noch unformatiert. Als die Jungen Eliasz bemerkten, schmissen sie den Bot hastig zurück auf den Haufen mit Armen, hechteten durch ein Fenster und rannten zurück zu den Schlafsälen. Da Eliasz wusste, was ihnen blühte, wenn er sie den Priestern meldete, entschied er, den Fehltritt für sich zu behalten. Allerdings war er unschlüssig, was er mit dem Bot tun sollte.
Er sah aus wie ein junges Mädchen im Teenageralter – zumindest auf den ersten Blick. Die Jungen hatten sich mit der Unterwäsche mehr Mühe gegeben als mit dem Gehäuse. Einer ihrer Arme war länger als der andere. Das Gewebe an ihren Schenkelinnenseiten hätte dringend Nährstoffe gebraucht. Es war kein Verstand installiert, aber ihr Haar war zu glänzenden Locken aufgedreht und das Gesicht mit Make-up beschmiert. Sie hatten sie nach dem Vorbild eines sehr beliebten Sexbots in den Bezahl-Feeds gestaltet. Eliasz hob sie sanft auf, ratlos hielt er den leichten Karbonfaserkörper in den Armen. Je länger er sich ansah, was die Jungen aus ihr gemacht hatten, desto mehr faszinierte und ekelte es ihn.
Am besten erschien es ihm, sie wieder auseinanderzunehmen, also verbrachte er eine qualvolle Stunde damit, den Bot in seine Einzelteile zu zerlegen, bis nichts mehr übrig war als ein Haufen Gliedmaßen, Rumpfstücke, ein Kopf ohne Sensoren und eine Rolle aus zerrissenem Gewebe, das zu beschädigt war, um es zu recyceln. Ihr Endoskelett konnte aber noch von Nutzen sein. Er trug sie stückeweise zum Abfalleimer und den Behältern für Ersatzteile.
»Danke.
«
Die Stimme erklang hinter ihm, von dem gleichen Müllhaufen, wo er die Jungen mit ihrem Bot entdeckt hatte.
Als er sich umdrehte, entdeckte Eliasz einen unfertigen Bot, der mit in die Seiten gestemmten Armen dastand. Mit seinen offenliegenden Metallfasermuskeln war er in dem Müll nicht zu erkennen gewesen. Auf seinem zerbeulten Brustpanzer – sein einziges Stück Außenhülle – sah man die detaillierte Lasergravur eines etwas absonderlichen, muskelbepackten Christus am Kreuz. Zum zweiten Mal in dieser Nacht war sich Eliasz unsicher, was er tun sollte.
»Was machst du hier?«, fragte er.
Der Bot sah ihn zunächst nur an. »Ich kann nicht weggehen. Ich halte hier Wache, meistens stumm. Aber heute Nacht habe ich beschlossen, etwas zu tun.«
»Bist du bei der Kirche unter Kontrakt?«
»Ich bin Scrappy. Du bist Eliasz. Ich gehöre Piotr.«
Eliasz trat näher. Sprach dieser Bot von Vater Piotr?
Eliasz’ war erschöpft, und er war noch immer völlig durcheinander wegen des Sexbots. Immer wieder schossen ihm die Bilder ihrer reglosen Körperteile durch den Kopf. Wie er so neben Scrappy stand, fragte sich Eliasz, wie es wohl wäre, das zu tun, was die Jungen mit dem Bot getan hatten.
Scrappy wirkte quicklebendig, und bei ihm gab es keine Gewebefetzen, die mit Make-up beschmiert waren. Als er beim Sprechen gestikulierte, bewegten sich seine Arme voller Anmut. Unbestreitbar war er auf seine Art schön. Eliasz versuchte, nicht auf das matte Schwarz seiner Knochen zu blicken oder die darüberliegenden künstlichen Muskeln.
Der Bot deutete auf einen Haufen Hände. »Ich bewache das da. Und als die Jungs kamen, habe ich den Alarm gesandt.«
Verzweifelt suchte Eliasz nach Worten, versuchte den Bilder
strudel in seinem Kopf zu unterdrücken. »Warum kannst du nicht denn weggehen?«
»Meine Beine.« Scrappy deutete nach unten, um Eliasz zu zeigen, dass er mit dem Boden verbunden war. Eliasz kannte zwar nicht alle Einzelheiten der Kontraktgesetzgebung, aber er wusste, dass niemand dauerhaft gefesselt werden durfte. Er kniete nieder, um die Nahtstelle zwischen Botbeinen und Boden zu untersuchen, überlegte, wo die Molekularregulatoren aufbewahrt wurden. Es würde nur ein paar Minuten dauern, Scrappy zu befreien, allerdings würde er ihm Füße anfertigen müssen.
Als er aufsah, konnte Eliasz die ineinander verflochtenen Muskelfasern von Scrappys Nacken sehen. Da, wo der Panzer des Bots knapp oberhalb der Hüften endete, erhaschte er einen Blick auf seine Aktoren.
Scrappy sprach wieder. »Es kommt jemand.«
Ein Scharren vor dem Fenster, und Eliasz sah drei der älteren Jungen, beinahe schon im Kontraktalter und nur ein paar Monate jünger als er selbst. Er erstarrte, das Gesicht wenige Zentimeter entfernt von dem glatten Kugelgelenk, das Scrappys Oberschenkelknochen mit der Hüfte verband.
»Schaut – das ist der Wachmann!« Einer der Jungen brach in johlendes Gelächter aus.
»Der bläst Scrappy einen.«
»Die Schwuchtel!« Noch mehr Gelächter.
»Immer schön blasen, Schwuchtel!«
Eliasz stand auf, schob seinen Körper zwischen den Bot und die Jungen.
Das Blut schoss ihm ins Gesicht, und Wut stieg in ihm auf. Seine einzige Waffe war ein Schlagstock, aber Eliasz war schon immer gut mit Waffen gewesen, und er bewegte sich blitzschnell. Zumindest einer der Jungen würde für lange Zeit nicht
mehr das Wort »Schwuchtel« aussprechen können. Für Menschen ohne Bürgerrechte gab es in Warschau eine Wartezeit von drei Monaten, bis sie beim Knochendrucker an die Reihe kamen. So lange würde der Junge mit seinem zerschmetterten Unterkiefer leben müssen.
Eliasz hatte viel Übung darin, solche kleinen Erlebnisse aus den Gedanken zu verbannen. Nur wenn er unbeschäftigt war, überfielen sie ihn ganz plötzlich.
Also konzentrierte er sich auf eine gute Erinnerung. Er dachte an Paladins wunderschönen Körper, an ihren schnittigen Panzer, an die Art, wie sie an jenem Nachmittag in Casablanca in seinen Armen gezittert hatte. Bei ihrem Zusammenbruch war der Panzer durch eine Fehlfunktion immer wieder kurz unsichtbar geworden. Andere Köper, andere Missionen und andere Länder drohten, die Erinnerung an ihr Gesicht zu verdrängen, doch das ließ er nicht zu.
Eliasz war durchdrungen von einem Gefühl weit mächtiger als jede Demütigung, die er vor langer Zeit erduldet haben mochte. Es fiel ihm leicht, dieses Gefühl zu erkennen – es war Liebe.