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Ein Arbeitsunfall
17
. Juli 2144
Med schob ein Update des Retcon-Projekts auf den Free-Lab-Server und machte sich auf den Weg zu einem Spaziergang über die University Bridge. Im ersten Morgenlicht wurde der schwarze Fluss blau, und sie erspähte das v-förmige Kielwasser eines Bibers, der ein letztes Maulvoll Schilf in seinen Bau brachte, bevor er sich für den Tag zur Ruhe legte. Die Nachricht über die neue Therapie verbreitete sich allmählich, in den Ärzteforen wurde bereits heftig darüber diskutiert, besonders im Norden – die meisten Patienten hatten dort nur begrenzte Bürgerrechte, patentfreie Medikamente waren häufig ihre einzige Option.
Einmal pro Sekunde sah Med in den Projektforen nach, doch es würde Tage dauern, bis sie genug Daten für eine Analyse hatte. Um sich abzulenken, wechselte sie zu ein paar Feeds und ließ die Überprüfung der Foren im Hintergrund ihres Verstandes laufen. Hunderte Millionen sahen derzeit eine neue Serie, eine Komödie über wichtigtuerische Roboter. Durch die Rekordernten auf dem Mars wurde die Zuwanderung billiger. Ein beunruhigender Arbeitsunfall hatte New York City unter Wasser gesetzt, und die Polizei machte Drogenmissbrauch dafür verantwortlich.
Noch bevor sie den Beitrag las, wusste Med, dass es sich um einen weiteren Zacuity-Zusammenbruch handelte, vielleicht um den schlimmsten bislang. Dieses Mal ging es um eine junge
Ingenieurin, frisch von der Universität, deren Arbeit darin bestanden hatte, die Software für die Steuerung des komplexen Systems aus Aquädukten, Pumpen und Ventilen zu überwachen, das die ansteigenden Wassermassen des Atlantiks davon abhielt, bis nach Manhattan durchzusickern. Nach mehreren schlaflosen Nächten fing sie an, das gesamte Prinzip des künstlichen Sumpfgebiets, das zwischen der Stadt und ihren Wasserstraßen wie ein riesiger Schwamm wirkte, in Frage zu stellen. Sie begann mit eigenen Experimenten und machte sich dabei unaufhörlich Notizen.
Unglücklicherweise brauchte die Ingenieurin, wie sie mit fünfzehntausend Wörtern und vielen Fußnoten auf Memeland selbst darlegte, für ihr Experiment auch eine Kontrolle. Das hieß, sie musste sich New York City möglichst im Urzustand, also unter Wasser stehend, ansehen. Bevor jemand sie aufhalten konnte, flutete die Ingenieurin die U-Bahnen und Straßen Manhattans – Dutzende unterirdisch lebender Menschen ertranken, es gab eine ausgedehnte Evakuierung. Noch immer wurden viele vermisst. Die Ingenieurin war verhaftet worden, doch es würde Tage dauern, ihr Werk rückgängig zu machen. Die führenden Politiker der Freihandelszone hatten den Notstand ausgerufen.
Während Med im Höchsttempo zum Labor zurückrannte, ging sie die Entscheidungsbäume und Modelle ihrer Optionen durch.
Die Nachricht über Retcon verbreitete sich nicht schnell genug, um den Schaden, den Zacuity anrichtete, aufzuhalten. Sie durften sich nicht auf Freeculture-Textrepos und Wissenschaftsforen als einzige Mittel zur Informationsverbreitung verlassen, in der Hoffnung, dass irgendwann die gesamte Zone von der neuen Therapie erfahren würde. Es wurde Zeit für eine richtige wissenschaftliche Veröffentlichung, mit der sie zeigten, dass es
sich bei der raubkopierten Droge, die schon so viele das Leben gekostet hatte, in Wahrheit um rekonstruierte Zaxy-Pillen handelte. Beim Namen Zaxy würden sich auch die größeren Nachrichten-Feeds auf die Geschichte stürzen. Und dann würden selbst Ärzte in New York City von Retcon erfahren.
Med platzte in Krishs Büro und schlug auf seinen Schreibtisch, um den Feed aus New York zu aktivieren. »Wir müssen an die Öffentlichkeit gehen, wir müssen offenlegen, was wir über Zacuity wissen.«
Als Krish sich ansah, wie die U-Bahn-Eingänge schmutziges Wasser und Schlimmeres erbrachen, breitete sich das elektrische Muster der Angst auf seiner Kopfhaut aus.
»Das ist echt schrecklich, aber ich weiß nicht, ob wir schon bereit sind, einem der größten Konzerne der Zone an den Karren zu fahren.«
»Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir genug Aufmerksamkeit bekommen, um weitere solcher manischen Ausbrüche zu verhindern. Wir haben doch Jacks genaue Darstellung von dem rekonstruierten Zacuity.«
»Ja, wir haben die Darstellung von Zacuity. Ja, wir haben eine Therapie für eine illegale Droge, von der eine Piratin behauptet
, es wäre Zacuity.«
»Aber es ist der exakt gleiche Wirkstoff! Das können wir beweisen!«
Krish seufzte. »Das können wir, und alle Wissenschaftler mit etwas gutem Willen werden uns das auch glauben. Aber die IPC
-Vertreter, die Öffentlichkeit, die Medien können keine Darstellung einer Rekonstruktion lesen, und sie werden nur hören, dass irgendeine Anti-Patent-Terroristin Zaxy ans Bein pinkeln will – der Firma, die die Leute mit all den bekannten und geliebten Blockbuster-Pillen versorgt.« Krish wischte die Feeds und Berichte beiseite und seufzte. »Ohne etwas, das die Medien ver
stehen können, wird uns die Sache um die Ohren fliegen, sobald wir an die Öffentlichkeit gehen.«
Der Bot schüttelte den Kopf. »Wir müssen es tun. Zaxy hat einen schlimmen Fehler begangen, und die Leute müssen erfahren, dass diese Firma illegale Suchtmittel mit schrecklichen Nebenwirkungen herstellt.«
»Ich weiß, und ich wünschte, es wäre so einfach. Aber immerhin haben wir Retcon zur Verfügung gestellt.«
Wütender als je zuvor in ihrem Leben, schlug Med die Tür von Krishs Büro hinter sich zu. Kurz genoss sie die Luftschwingungen des Nachhalls. Sie würde den Beweis finden, den sie brauchte.
Sechs Stunden später musste sich Med eingestehen, dass sie keinen Schritt weitergekommen war. Die Suche in den Foren und medizinischen Textrepos hatte nichts ergeben. Ihre alten Kollegen schickten ihr noch mehr vorläufige Ergebnisse, die sie nicht in einem Fachmagazin veröffentlichen konnte, ganz zu schweigen vom öffentlichen Netz. Med war so vertieft in ihre Misere, dass sie nichts um sich herum wahrnahm, bis ihr jemand die Hände auf die Schultern legte und »Buu!« rief. Dreinull war vom Loft heruntergekommen und hatte sich von hinten angeschlichen.
Erschrocken blickte sie ihn mit der Kopfrückseite an und las seine Biosignale mit den Partikelsensoren ab, die in die toten Zellen ihrer Haare eingearbeitet waren. Sein Muskeltonus war entspannter, als sie es bei ihm je erlebt hatte – die extreme Anspannung schien nachzulassen.
»Woran arbeitest du? Du scheinst ja stinksauer zu sein.« Anscheinend konnte auch Dreinull ihre psychische Verfassung anhand von Signalen ablesen, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie aussandte
.
Sie signalisierte dem Netzwerk, die Gestenkontrolle abzuschalten, und zuckte mit den Schultern. »Ich suche nach einem Weg, den Medien zu erklären, dass Zaxy an diesen Unfällen schuld ist. Nach etwas, das jeder kapieren wird.«
Dreinull setzte sich neben sie an die Laborbank. »Hast du schon mal in Memeland nachgesehen?«
»Wozu? Hier geht es doch um etwas, von dem nur Wissenschaftler wissen.«
»Auf Memeland geht es ständig um Drogen. Such einfach nach … ich weiß nicht, Zacuity, Retcon, Sucht, Manien, Ausraster, Arbeitsdrogen … Schau einfach, ob irgendjemand über so was redet.«
Med war verblüfft. »Ich verstehe nicht, wie das helfen würde. Außerdem ist es eine ganze Menge, was ich mir da ansehen müsste. Ich brauche etwas jetzt sofort.«
»Ich kann mich ja mal für dich auf die Suche machen. Hab noch etwas Zeit vor der Arbeit.« Dreinull zog sein Handy heraus und schüttelte eine Projektion aus dem Display. Med fiel auf, dass sein Kragen die Nummer an seinem Hals verdeckte. Im Geschäft hatte er mit Hilfe einer Nähmaschine seine Brusttasche mit dem Namen »John« versehen.
Med war gerade in einem Diskussionsforum in die sechzehnte Ebene eines Threads abgetaucht, als Dreinull eine Datei in ihren gemeinsamen Arbeitsbereich wischte. Es handelte sich um den Post einer Entwicklerin bei Quick Build Wares in Vancouver. Sie war Mitglied in einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die nach Zacuity-Konsum unter Depressionen litten. Sie schrieb über eine Schwarzmarktdroge namens Retcon, das erste Therapeutikum, das sie ausprobiert hatte und das tatsächlich ihre Symptome linderte. Auf ihr Drängen hin hatten es andere Quick-Build-Angestellte auch genommen. In der
Diskussion unter ihrem Beitrag ging es um die Nebenwirkungen.
Das Merkwürdigste war, dass die Leute sich nicht mehr daran erinnern konnten, dass sie jemals für Quick Build hatten arbeiten wollen. Zwar erinnerten sie sich noch daran, wie sie ihren Job bekommen und dass sie gute Arbeit geleistet hatten, und sie besaßen auch immer noch die Fähigkeiten, die man brauchte, um Schaltkreise zu entwickeln und Moleküle zu modifizieren. Doch die Vorstellung, diese Fähigkeiten für Quick Build einzusetzen, erfüllte sie mit Abscheu. Manche berichteten sogar, dass sie sich übergeben mussten, wenn sie versuchten, morgens zur Arbeit zu gehen.
Das war ein neues Problem. Anders als die Menschen, die für ein paar Wochen raubkopiertes Zacuity geschluckt hatten, waren die Angestellten schon ein ganzes Jahr auf Droge gewesen. Sie nahmen Zacuity unter der Aufsicht lizenzierter Ärzte und nur zu einem einzigen Zweck: um schwierige Projekte bei der Arbeit fertigzustellen. Mit der Zeit schien in ihrem Leben nichts mehr von Bedeutung zu sein, mit Ausnahme der Arbeit unter Zacuity. Wenn sie dann deswegen zum Arzt gingen, bekamen sie keine ordentliche Diagnose – schließlich sollte die Droge im Grunde genauso funktionieren. Retcon linderte nun die Gier nach der suchterzeugenden Tätigkeit, in diesem Fall die Arbeit bei Quick Build – sie schwand im gleichen Tempo, wie ihre Dopaminrezeptoren wieder aufblühten. Die nachwachsenden Rezeptoren saugten nun wieder Dopamin auf, das von allen möglichen freudvollen Aktivitäten erzeugt wurde. Plötzlich wollten die Quick-Build-Arbeiter Rad fahren gehen, mit ihren Kindern spielen, Filme ansehen oder Software für private Projekte entwickeln. Nur für Quick Build wollten sie partout nicht mehr arbeiten.
Es war noch viel zu früh, um sagen zu können, ob es sich da
bei um eine vorübergehende Erscheinung handelte, doch Med glaubte das nicht. Von dem raubkopierten Zacuity hatten sich die Leute rasch erholt, doch die Angestellten waren plötzlich mit Erinnerungen an viele Monate konfrontiert, die keinen Sinn ergaben. Vielleicht würden sie nie wieder zur Arbeit gehen können, ohne sich zu übergeben.
Wirtschaftlich gesehen standen die Menschen, die den legalen Stoff genommen hatten, womöglich vor einer Katastrophe. Das war nicht gerade ein ideales Ergebnis, aber jetzt hatte Med den Beweis, dass Retcon bei diesen Leuten wirkte. Und das war etwas, was sogar die Medien verstehen würden.
Med sandte die Daten an Krish. Als sie sein Büro betrat, zuckten seine Finger bereits über den Tisch, um eine Nachricht zu formulieren. »Super Arbeit, dass du diese Gruppe bei Quick Build gefunden hast«, begrüßte er sie, ohne aufzusehen. »Ich werde mit meinem Freund beim Institut für Pharmarecht sprechen. Der wird ein paar Ideen haben, wie wir das formulieren. Du solltest dein Paper zu Ende schreiben.«
Der Bot dachte noch einmal über die Menschen nach, die die Droge über längere Zeit eingenommen hatten. »Diese Leute, die Zacuity genommen haben. Sie werden sich neue Erinnerungen aufbauen müssen, um wieder Freude an ihrer Arbeit zu haben. Zaxy wird für eine ganze Menge Arbeitslosigkeit verantwortlich sein. Die Leute könnten sogar auf Schadenersatz klagen.«
Dreinull, der zugehört hatte, feixte. »Na, gratuliere, Med. Du hast diesen Leuten ihre Freiheit zurückgegeben, und jetzt können sie nicht mehr arbeiten.« Er verstummte abrupt, als er Meds besorgtes Gesicht sah. Und als er weitersprach, war sein Ton sanfter und auch nicht mit dem üblichen Sarkasmus durchsetzt. »Aber ich schätze, es ist gut, dass sie endlich wieder wissen, wie sich Arbeit wirklich anfühlt.«