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Der PharmaBoss
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. Juli 2144
Med stand in den von Partikeln durchsetzten Sonnenstrahlen, die durch eines der hohen Fenster des Free Lab fielen. Über die photovoltaischen Bereiche in ihrer Haut absorbierte sie Energie. Gedankenverloren streckte sie die Hände aus, als wollte sie ihre Fingernägel überprüfen. Zum einhundertundsiebenundvierzigsten Mal betrachtete sie die kleinen Unterschiede in der Hauttextur, verglich den Originalarm mit ihrem neuen, der gestern installiert worden war.
Die Rettungssanitäter waren schon lange wieder gegangen, und Krishs Mutter war mit den sterblichen Überresten ihres Sohnes nach Vancouver zurückgekehrt. Trotz der jährlichen Vorsorgeuntersuchungen konnte man einen Schlaganfall nicht immer vorhersagen, hatten die Ärzte gesagt, und Krish war nie ein eifriger Selbstvermesser gewesen. Bei den Laborkameras kam es oft zu Störungen, es wunderte niemanden, dass sie während seines Todes gerade ausgefallen gewesen waren. Unterdessen erfuhr man über die Feeds, dass die von der IPC
gesuchte Piratin Judith »Jack« Chen – die in den Zehnerjahren wegen Terrorismus im Gefängnis gesessen hatte, bei einem Schusswechsel in ihrem Schlupfloch in Moose Jaw umgekommen war.
In Wahrheit versteckte sich Jack in einem Nebel aus gefälschten Partikeldaten in Meds Wohnung, erholte sich von ihren Ver
letzungen und brachte lila und schwarze Extensions an ihrem stoppeligen Kopf an. In einem Forum hatte sie die gif-Datei eines Bots gefunden, der eine Katze streichelte, darin Frankies steganographisch eingearbeitete Botschaft: »Lebe noch.« Jack war so überglücklich, als hätte sie Ellondra genommen. Sie hinterließ das Bild einer Katze, die sich auf dem Rücken räkelte und eine rosa Zunge herausstreckte, darin der heimliche Code für Frankie: »Ich auch.«
An einem einzigen verbissenen Arbeitstag beendete Jack die Pressemitteilung, die Krish begonnen hatte. »Zaxy von Zacuity nachweislich ein Suchtmittel«, lautete die Überschrift. Das allein verschaffte Med ein Exklusiv-Interview bei ZoneFeed, gefolgt von einem ausführlichen Bericht im New Scientist.
ZoneFeed würde das Interview veröffentlichen, sobald Med ihre Forschungsarbeit ins Textrepo des Free Lab eingestellt hatte. Dafür musste sich Med nicht an ihren Schreibtisch setzen und auf Tasten drücken, wie ein Mensch das getan hätte. Sie blieb mitten im Free Lab stehen, schickte über WLAN
einen Befehl an den Server und verschob die Datei. Im Geiste öffnete sie die Feeds und sah zu, wie die ZoneFeed-Story verbreitet wurde und immer aufgeregtere Nachrichten anderer Sender nach sich zog. Das Repositorium mit dem Code des Retcon-Projekts brach unter der Flut der Anfragen fast zusammen. Überall auf der Welt druckten Krankenhäuser den Wirkstoff aus, und die verantwortungsbewussteren Firmen begannen, eigene Pressemitteilungen zu veröffentlichen, in denen sie sich von Zaxy distanzierten und ankündigten, ihre Mitarbeiter nicht länger mit Zacuity zu versorgen. Med kehrte in ihr Büro zurück, um die Anfragen von Reportern zu beantworten, und kurz darauf konnte sie sich schon Ausschnitte der Interviews in den Feeds ansehen
.
Die gesamte Belegschaft des Free Lab hatte sich den Tag quasi freigenommen, um mitzuerleben, wie das Retcon-Projekt Berühmtheit erlangte. Um die Mittagszeit zapfte jemand ein Bierfass an, um drei Uhr nachmittags war die Party in vollem Gange. Catalyst projizierte vier verschiedene Nachrichtenfeeds in die Luft über den Laborbänken. Die Freihandelszone hatte endlich eine Erklärung abgegeben: Angesichts neuer Forschungsergebnisse der University of Saskatchewan kündigte der Sprecher eine unabhängige Untersuchung von Zaxys Leistungsverstärker an. Das gesamte Free Lab brach in Jubelrufe aus.
In einem NR
x-News-Feed wurde die Geschichte von zwei Kommentatoren diskutiert. »Aber Larry, lass uns nicht vergessen, dass diese Wissenschaftlerin ein Bot ist«, sagte der eine. »Gut möglich, dass sie von Zaxys Konkurrenten darauf programmiert wurde, solche Behauptungen in die Welt zu setzen – oder von radikalen Gruppen im Umkreis des Labors.«
Minuten später beendete eine Reporterin aus Sydney ein Interview mit Med. Sie machte eine dramatische Pause und stellte dann ihre letzte Frage. »Ich muss Sie das fragen, denn es wurde nun schon in mehreren Berichten angesprochen. Hat sich irgendjemand an Ihrer Programmierung zu schaffen gemacht? Könnte diese Entdeckung auch die Arbeit eines böswilligen Hackers sein, der Sie manipuliert hatte?«
»Nein.«
Med schloss den Feed durch einen Gedankenbefehl, stand auf und ging zu den Menschen, die um das Fass saßen und feierten. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, war Jack verschwunden. Dreinulls Handy lag noch immer da, auf dem Boden neben einem Haufen seiner Kleider.