9. Kapitel

»Ich schicke meine Schwester am Montag mit den Software-Updates her«, versprach Lennart und schüttelte dabei Justus Sternbachs Hand. »Sie wird sich außerdem sicherheitshalber noch einmal alle Installationen der Sicherheitstechnik ansehen, aber ich gehe davon aus, dass es keine größeren Änderungen oder Reparaturen geben wird. Die Firma Rosenbaum und Söhne hat hervorragende Arbeit geleistet.«

Justus erwiderte den Händedruck mit einem Lächeln. »Ich finde es gut, dass dein Vater diese Kooperation mit Aaron Rosenbaum eingegangen ist. Wie ich hörte, ist dessen Firma momentan extrem ausgelastet, wenn nicht sogar beinahe überlastet.«

»Ja, stimmt, sie haben momentan überdurchschnittlich viel zu tun.« Lennart lachte. »Das gilt zwar auch für uns, aber glücklicherweise haben wir noch ein paar Kapazitäten frei, sodass wir vorläufig den Wartungsauftrag übernommen haben. Außerdem halte ich es für selbstverständlich, dass sich die Firmen hier am Standort gegenseitig unterstützen. Ein gutes Geschäftsklima im Ort wirkt sich für alle Beteiligten positiv aus und gibt auch der Kundschaft ein gutes Gefühl.« Er hob den Kopf, als er ein Auto näher kommen hörte. Als er den grünen Corsa auf den Parkplatz des Resorts einbiegen sah, meldete sich überraschenderweise ein leichtes Ziehen in seiner Magengrube, dass sich noch verstärkte und schließlich zu einem heftigen Stich auswuchs, als er beobachtete, wie Melissa aus dem Wagen ausstieg. »Donnerwetter«, entfuhr es ihm.

»Wie bitte?« Justus folgte seinem Blick und hüstelte unterdrückt. »Oha, ich stimme dir zu. Ist das Melissa Lange? Sie sieht so anders aus als sonst.«

Lennart versuchte, sich zusammenzureißen. »Sie hat eine neue Frisur.«

Justus grinste. »Und die gefällt dir offenbar ausnehmend gut.«

»Halt die Klappe.«

»Das hättest du wohl gerne.« Justus’ Grinsen verbreiterte sich noch, wich dann aber im nächsten Moment einem höflichen Lächeln, als Melissa zusammen mit ihrem kleinen Sohn an der Hand näher kam. »Guten Abend, Melissa. Du bist ja pünktlich wie die Maurer.« Er nickte auch Andy zu. »Alles klar?«

Andy lächelte schüchtern und nickte, blieb aber wieder einmal dicht bei seiner Mutter und drückte sich gegen ihre Seite.

»Hallo, kleiner Mann.« Lennart versuchte es ebenfalls mit einem Lächeln in Richtung des Jungen, der aber zunächst nicht reagierte. Also wandte er sich an dessen Mutter. »Guten Abend, Melissa. So schnell sieht man sich wieder. Allerdings hätte ich Sie beinahe nicht erkannt. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Die neue Frisur steht Ihnen ganz ausgezeichnet.«

»Danke, äh, und guten Abend.« Melissa hob die Hand, so als wolle sie in ihr Haar fassen, ließ sie jedoch auf halber Strecke wieder sinken. Verlegen wich sie seinem Blick aus und wandte sich an Justus Sternbach. »Wir wollen dich nicht lange aufhalten. Bestimmt hast du eine Menge zu tun. Ich hoffe, es war von Ricarda und Viola nicht zu voreilig, mir zu versprechen, die Wohnungsübergabe heute schon zu erledigen.«

»Nein, das ist überhaupt kein Problem.« Justus winkte lässig ab. »Eigentlich hätte ich auch selbst darauf kommen können. Wir haben das Häuschen nach den letzten Mietern, die ein halbes Jahr dort verbracht haben, noch einmal vollkommen auf Vordermann gebracht, aber das ging schneller, als ich kalkuliert hatte. Da inzwischen alles fix und fertig ist, könnt ihr theoretisch jederzeit dort einziehen. Ihr braucht auch für die Übergangszeit bis zum offiziellen Beginn des Mietvertrags nicht extra zu bezahlen. Immerhin musst du ja noch die Restmiete für deine alte Wohnung berappen, nicht wahr?«

Auf Melissas Gesicht zeichnete sich Freude und Erleichterung ab. »Das ist wirklich unglaublich nett von euch. Je eher wir aus der winzigen Wohnung ausziehen können, desto besser. Ich werde also das ganze Wochenende mit Packen beschäftigt sein.« Sie blickte zu Andy hinab. »Und du hilfst mir, okay?«

»Ja.« Andy nickte mit ernster Miene und wandte sich im nächsten Moment überraschend an Lennart. »Wo ist denn Sissy?«

Lennart ging einen Schritt auf den Jungen zu, jedoch nicht zu nah, und ging vor ihm in die Hocke. »Sissy ist heute Abend bei meinem Vater. Er passt auf sie auf, weil ich mehrere Kunden besuchen musste und sie leider nicht mitnehmen konnte.« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. »Da waren nämlich gleich zwei Kunden dabei, die Angst vor Sissy haben. Kannst du dir das vorstellen?«

»Echt?« Andy machte große Augen. »Aber Sissy ist doch ganz lieb.«

»Du weißt das, und ich weiß das.« Lennart zwinkerte ihm zu. »Aber manche Menschen haben trotzdem Angst vor großen Hunden. Darauf muss ich natürlich Rücksicht nehmen, und deshalb ist sie heute bei meinem Vater im Büro geblieben. Hättest du sie gerne wiedergesehen?«

Andy nickte. »Macht sie jetzt ihr Kissen wieder kaputt oder so, weil du nicht da bist?«

Lennart lachte. »Ich hoffe nicht. Mein Vater wird sich bestimmt gut um sie kümmern. Wahrscheinlich geht er jetzt gerade noch mit ihr spazieren.« Er richtete sich wieder auf. »Da wir ja nun alles geklärt haben«, wandte er sich an Justus, »mache ich mich am besten auf den Rückweg. Wie gesagt, Lena wird am Montag mit den Updates herkommen und noch einmal alles kontrollieren.«

»In Ordnung.« Justus nickte ihm zu. »Aber weißt du was, du könntest mir noch kurz helfen, die Kartons mit dem Weihnachtsschmuck zu den Autos zu tragen.« Er lächelte Melissa ein wenig schief zu. »Willst du wirklich all diese Sache übernehmen?«

Befremdet runzelte Melissa die Stirn. »Warum all diese Sachen? Ricarda und Viola hatten mir nur angeboten, ein paar ausrangierte Dekoartikel zusammenzupacken, weil eure Mutter neue Sachen für die Hotels kaufen möchte.«

Justus stieß ein trockenes Lachen aus. »Mama geht jedes Jahr auf Weihnachtsdeko-Raubzug, und dieses Jahr nimmt sie Viola und Ricarda mit. Sonst ist sie immer nur mit einer von beiden losgezogen. Uns schwant jetzt schon Böses, denn schon zu zweit haben sie immer jede Menge Zeug angeschleppt. Das kann dieses Jahr nur noch schlimmer werden. Und was die paar Dekoartikel angeht …« Er trat ein Stück beiseite und öffnete die Tür des Lieferanteneingangs, vor der sie sich befanden. »Da haben die zwei, fürchte ich, ein klein wenig untertrieben. Ganz ehrlich, wenn dir das alles zu viel ist, dann lass die Sachen einfach hier. Wir finden schon jemanden, der sie uns abnimmt.«

Melissa warf einen Blick durch die Tür und stutzte. »Du liebe Zeit, wie viele Kartons sind das? Die sind doch nicht alle für mich, oder?«

»Doch, wenn es nach meinen Schwestern geht, dann schon.« Auch das erneute Lächeln auf Justus’ Lippen geriet einigermaßen schief. »Es sind genau sieben Kartons, und die sind alle hoch voll und teilweise richtig schwer.«

»Die kriege ich doch gar nicht alle in mein Auto.«

»Einen Teil kann ich mit meinem Auto transportieren«, beruhigte Justus sie. »Natürlich nur, wenn du wirklich alles übernehmen möchtest. Oder weißt du was? Wir bringen erst einmal alles rüber zum Haus, dann suchst du dir die schönsten Sachen aus und gibst uns den Rest einfach irgendwann wieder zurück. Wenn wir jetzt nämlich anfangen, in den Kisten zu wühlen, kommen wir wahrscheinlich heute Abend hier nicht mehr weg. Ich muss aber in etwa einer Stunde wieder hier sein und Kathrinchen übernehmen. Laura hat heute Abend ein Onlineseminar, und ich habe versprochen, mich in der Zeit voll und ganz um unser Tochter-Teufelchen zu kümmern.« In seinen Augen glitzerte es vergnügt. »Die Kleine hat nämlich gerade so eine Phase, in der sie auf gar keinen Fall zu einer bestimmten Uhrzeit ins Bett gehen möchte. Von schlafen ganz zu schweigen. Sie ist jetzt gerade anderthalb und anscheinend in einer Art erster Trotzphase. Ich werde also nachher noch eine ganze Weile mit ihr beschäftigt sein.«

»Okay, also …« Noch einmal warf Melissa einen ungläubigen Blick auf die großen Kartons. »Dann schauen wir mal, ob wir überhaupt auch nur einen davon in meinem Auto transportiert bekommen.« Schon eilte sie, dicht gefolgt von Andy, zurück zu ihrem Corsa.

»Ich hole mal rasch mein Auto her«, wandte Justus sich an Lennart. »Da kriegen wir deutlich mehr hinein, und wir können bei der Gelegenheit vor Ort gleich die Übergabe der Wohnung erledigen.«

Lennart blickte ihm nach, wie er zu seinem Auto ging und einstieg, dann warf er selbst einen Blick auf die sieben Kartons. Enthielten die wirklich alle Weihnachtsschmuck? Er lachte in sich hinein. Nach allem, was er inzwischen über die Sternbachs wusste, hätte Melissa wohl mit so etwas rechnen müssen. Allerdings wusste er nicht, wie gut sie mit der Familie befreundet war. Natürlich kannten sie sich alle über Jana, doch das musste ja nicht viel heißen. Überrascht drehte er sich wieder um, als er Justus in einiger Entfernung fluchen hörte. »Stimmt etwas nicht?«

»Anscheinend ist die Batterie leer.« Justus war wieder aus seinem Wagen ausgestiegen und knallte die Tür zu. Augenblicke später öffnete er die Motorhaube und blickte stirnrunzelnd in den Motorraum.

Lennart eilte zu ihm, öffnete die Fahrertür und setzte sich auf den Sitz. Da der Schlüssel noch steckte, drehte er ihn, doch der Motor gab keinen Mucks von sich. Lediglich mehrere Lämpchen am Armaturenbrett blinken kurz auf und erloschen gleich darauf wieder. »Sieht ganz so aus. Hast du das Licht angelassen?«

»Nein.« Justus schüttelte verärgert den Kopf. »Ganz sicher nicht. Zumindest war es eben ausgeschaltet.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar. »Tja, was machen wir nun? Kannst du mir Starthilfe geben? Meine Ladekabel sind mal wieder auf Wanderschaft, vermutlich hat Ricarda sie sich geliehen, wie so oft. Sie ist aber im Augenblick drüben im Stadthotel.«

»Klar.« Lennart war schon auf dem Weg zum Kastenwagen der Firma Securifant, mit dem er heute unterwegs war. »Geht ganz schnell.« Er öffnete die Türen zum Laderaum und wollte nach dem Koffer mit den Überbrückungskabeln greifen, doch der befand sich seltsamerweise nicht an dem Platz, der dafür vorgesehen war. Irritiert sah Lennart sich um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. »Das gibt es doch gar nicht.« Kopfschüttelnd verließ er den Laderaum wieder. »Irgendjemand hat meine Ladekabel aus dem Wagen genommen. Tut mir wirklich leid.« Er blickte zu Melissa hinüber. »Haben Sie ein Ladekabel im Auto?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich wollte mir zwar immer welche anschaffen, weil ich fürchte, dass meine alte Kiste so etwas auch irgendwann brauchen könnte, aber irgendwie habe ich es bisher immer aufgeschoben.«

»Dann muss ich mir den Wagen meiner Eltern leihen.« Justus schloss die Motorhaube wieder. »Allerdings ist darin weniger Platz, also müssen wir wahrscheinlich zweimal fahren. Oder ich bringe die verbleibenden Kisten später irgendwann vorbei.«

»Warum machen wir es nicht ganz anders?«, schlug Lennart vor. »In meinem Transporter ist genug Platz für alle sieben Kisten. Ich fahre sie einfach kurz rüber zu dem Häuschen, das geht doch ganz fix. Justus, du kannst ebenfalls mitfahren, wenn du willst, dann bringe ich dich nachher wieder hierher zurück.«

»Das würdest du tun?« Justus lächelte erleichtert. »Es kann aber einen Augenblick dauern, weil ich mit Melissa noch die offizielle Hausübergabe unter Dach und Fach bringen muss.«

»Ist schon in Ordnung.« Lennart winkte ab. »Wie gesagt, Sissy ist bei meinem Vater in guten Händen, und ich habe heute keine weiteren Termine mehr.«

»Also gut, dann lass uns rasch die Kartons einladen.« Justus kehrte zum Lieferanteneingang zurück, und Lennart folgte ihm auf dem Fuße. Als sich Melissa ihnen anschloss und einen Karton nehmen wollte, hielt er sie rasch davon ab. »Vergessen Sie es. Diese klobigen Dinger passen nicht einmal ansatzweise in Ihren Kofferraum. Selbst auf dem Rücksitz wird es eng, und dort sitzt ja auch noch Andy, nicht wahr? Wir packen einfach alle Kartons in den Transporter, das ist überhaupt kein Problem.« Während er sprach, hatte er sich bereits eine Kiste geschnappt und stieß einen überraschten Laut aus, denn sie war tatsächlich nicht gerade leicht. »Du lieber Himmel, was ist denn da drin? Ich wusste nicht, dass Weihnachtskugeln so schwer sein können.«

Justus lachte. »Du hast garantiert nicht die Kiste mit den Kugeln erwischt. Da drin ist, glaube ich, jede Menge Dekozeug aus Holz, möglicherweise auch aus Stein.«

Ächzend stellte Lennart den Karton auf der Ladefläche des Kastenwagens ab. »Aus Stein?« Er warf einen Blick über die Schulter auf Melissa. »Da haben Sie sich ja was angelacht.«

Melissa lächelte kläglich. »Tut mir leid. Wenn ich gewusst hätte, dass es so ein Umstand wird, dann hätte ich nicht …«

»Ach was«, unterbrach er sie lachend. »Wie sagt man so schön? Einem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul. Oder in den Karton.«

Es dauerte nicht allzu lange, bis sie alle Kisten sicher im Transporter verstaut hatten. Justus stieg mit ihm zusammen ein, dann machten sie sich, gefolgt von Melissa und Andy, auf den Weg zum Blockhaus am Rand der Feriensiedlung.

***

»Ich weiß jetzt gar nicht, wie ich mich bei Ihnen bedanken soll.« Ebenso dankbar wie verlegen, blickte Melissa auf die sieben großen Kartons, die sich nun mitten in ihrem zukünftigen Wohnzimmer stapelten. »Das wäre wirklich alles nicht nötig gewesen.«

»Und wie das nötig war.« Lennart lachte. »Wie hätten Sie denn all die Kisten hierherbringen sollen? Das war wirklich nicht der Rede wert.«

»Doch, war es«, widersprach Melissa. »Jetzt kann ich Ihnen nicht einmal etwas zu trinken oder so anbieten, weil ich noch gar nichts hier habe.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst.« Justus Sternbach ging an ihr vorbei in den offenen Küchenbereich, der sich vom Eingang aus gesehen auf der rechten Seite befand. Es gab eine für ein Ferienhaus äußerst großzügig gestaltete, L-förmige Küchenzeile mit Spüle, Spülmaschine, einem auf Augenhöhe eingebauten Ofen nebst Mikrowelle und einer doppelflügeligen Kühl- und Gefrierkombination von geradezu enormen Ausmaßen, die Melissa jedes Mal, wenn sie dorthin sah, eine regelrechte Gänsehaut bereitete. Ein großes Induktionskochfeld war in die ebenfalls großzügige Arbeitsinsel eingelassen und besaß einen modernen Dunstabzug, der alle Gerüche nach unten absaugte. An die Insel schloss sich ein Frühstückstresen mit vier gepolsterten Barhockern an. »Meine Schwestern dachten, es wäre eine gute Idee, dir ein paar Vorräte vorbeizubringen, damit du während des Umzugs hierher nicht verhungerst und verdurstest.« Er öffnete den Kühlschrank, drehte sich zu ihr herum und deutete hinein. »Du hast Wasser, Orangensaft, Apfelschorle, Milch und sogar alkoholfreies Bier und Radler.« Er grinste breit. »Ich wünschte, unser Kühlschrank wäre immer so gut gefüllt. Meistens schaffen wir das nur zweimal im Monat, wenn wir zusammen einkaufen gehen.«

»Du liebe Zeit, damit hatte ich ja gar nicht gerechnet!« Überwältigt trat Melissa an den Kühlschrank heran und begutachtete dessen Inhalt. Neben den Getränken gab es auch noch Butter, Margarine, Käse, etwas Aufschnitt sowie Marmelade, ein paar Becher Joghurt und im Gemüsefach Karotten, einen Eisbergsalat und mehrere rote, gelbe und grüne Paprikaschoten. »Das kann ich doch gar nicht annehmen! Ich muss das bezahlen.«

»Untersteh dich.« Justus schüttelte energisch den Kopf. »Das ist ein Begrüßungsgeschenk der Familie Sternbach.« Er schloss die Kühlschranktür wieder und klappte den Brotkasten auf der Anrichte auf. Darin befand sich ein Brot, und daneben stand ein großes Glas mit Bügelverschluss, das offenbar gleich ein ganzes Kilogramm hell rosafarbenes Himalaja-Kristallsalz enthielt. »Brot und Salz gehören natürlich ebenfalls dazu, wie es die Tradition will.« Er machte eine ausholende Geste. »Herzlich willkommen in eurem neuen Zuhause.« Mit der anderen Hand zog er einen Schlüsselbund mit mehreren Schlüsseln aus der Tasche seines dunkelgrauen Cashmeremantels und hielt ihn ihr hin. »Hier, bitte sehr, die Schlüssel zu eurem neuen Reich. Alle in dreifacher Ausführung. Ich habe sie jeweils mit Schildchen versehen, die du natürlich abmachen kannst, wenn du sie nicht benötigst. Hauseingang, Kellereingang«, er deutete auf eine unauffällige Tür, die sich unter der geschwungenen Holztreppe befand, die ins Obergeschoss führte. »Außerdem der Schlüssel für den Briefkasten und für das Gartenhäuschen«, zählte er auf.

Melissas Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, als sie ihm den Schlüsselbund aus der Hand nahm. Plötzlich erschien ihr die Situation regelrecht unwirklich. Nach der winzigen Wohnung, in der sie die letzten anderthalb Jahre verbracht hatte, kam ihr dieses Blockhaus wie der Inbegriff von Luxus und das reinste Paradies vor. »Danke«, brachte sie mit leicht brüchiger Stimme gerade so heraus.

»Nichts zu danken.« Justus wandte sich zur Tür. »Ich hole mal rasch die Papiere. Übergabevertrag, Mietvertrag usw., dann können wir noch einmal kurz alles durchgehen und unterschreiben, und dann lasse ich euch in eurem neuen Reich alleine.« Schon war er nach draußen verschwunden.

»Darf ich mich hier hinsetzen, Mama?« Andy berührte zaghaft einen der Barhocker und blickte sie fragend an.

»Selbstverständlich, mein Schatz.« Rasch ging Melissa zu ihrem Sohn und zog den Hocker ein Stückchen unter dem Frühstückstresen hervor. »Soll ich dir helfen?«

»Nö.« Da der Hocker Querstreben zwischen den Beinen hatte, gelang es Andy ganz leicht hinaufzuklettern. Stolz ließ er sich auf der Sitzfläche nieder. »Das ist jetzt mein Lieblingsplatz«, verkündete er mit einem breiten Lächeln und fuhr mit den Handflächen geradezu zärtlich über die hellgrau marmorierte Oberfläche des Tresens.

»Sieht bequem aus«, machte Lennart sich bemerkbar und setzte sich wie selbstverständlich ebenfalls auf einen Barhocker, jedoch am gegenüberliegenden Ende des Tresens, sodass zwischen ihm und Andy ein größerer Abstand blieb. »Tatsächlich, sehr gemütlich.«

Verunsichert blickte Melissa zwischen Andy und Lennart hin und her. »Ja, also … Dann kann ich Ihnen anscheinend doch etwas zu trinken anbieten.« Hastig öffnete sie die Kühlschranktür. »Möchten Sie lieber Saft, Wasser oder vielleicht ein alkoholfreies Bier?«

»Wenn Sie mich so nett fragen, dann nehme ich gerne ein Bier, aber nur, wenn Sie ebenfalls etwas trinken.« Er warf Andy einen Blick zu. »Und du auch?«

»Ich möchte einen Saft, Mama«, antwortete Andy prompt.

Melissa nahm das Gewünschte aus dem Kühlschrank, ebenso wie eine Flasche Radler für sich selbst, sah sich dann aber erst einmal suchend nach Gläsern um. Natürlich gab es noch keine, da sie mit Justus vereinbart hatte, dass sie das Ferienhaus-Inventar nicht nutzen wollte. Noch verlegener als zuvor, drehte sie sich zu Lennart um, doch dieser grinste sie bereits wissend an.

»Ich brauche kein Glas.« Er zwinkerte ihr zu. »Bin ein Flaschenkind.«

Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Wenn Sie mir nun noch verraten, wie wir die Flaschen aufbekommen …«

»Nichts leichter als das.« Er nahm ihr die Bier- und die Radlerflasche ab und öffnete beide mithilfe eines winzigen Flaschenöffners, der sich an seinem Schlüsselbund befand. »Sehen Sie?« Er gab ihr die Radlerflasche zurück.

»Danke.« Sie stellte die Flasche auf dem Tresen ab und beäugte zweifelnd die große Orangensaftflasche. »Und was machen wir jetzt damit?«

»Ich hab Durst, Mama.« Andy hampelte ein wenig auf seinem Hocker herum. »Haben wir gar keine Gläser?«

»Nein, die sind noch zu Hause. In der alten Wohnung«, korrigierte sie sich rasch. Vorsichtig öffnete sie die Flasche. »Ausnahmsweise darfst du auch aus der Flasche trinken, Andy. Aber nur ganz langsam und vorsichtig.« Sie hielt ihrem Sohn die Flasche an die Lippen und achtete darauf, dass sie weder ihm noch ihr entglitt. Er trank ein paar Schlucke, dann stellte sie die Flasche zurück und drehte den Verschluss darauf.

»Na, ihr habt es euch ja schon richtig bequem gemacht«, erklang hinter ihnen Justus’ Stimme. Er hatte das Haus mit einem schmalen Aktenköfferchen in der Hand betreten und legte dieses nun auf der Anrichte ab. Es klickte leise, als er die Verschlüsse öffnete. »Hier sind alle erforderlichen Papiere. Vielleicht sollten wir aber zunächst noch einmal einen kurzen Rundgang durch das Haus machen, damit du dich überzeugen kannst, dass alles so ist, wie wir es besprochen hatten.«

»Ja, okay, das ist bestimmt sinnvoll«, stimmte Melissa zu. Nicht ganz sicher, wie sie sich verhalten sollte, wandte sie sich Lennart zu. »Ich will Sie nicht aufhalten …«

»Tun Sie nicht, keine Sorge.« Er winkte lässig ab. »So viel Zeit muss sein. Ich warte einfach hier, bis Sie mit Justus alles Wichtige besprochen haben.« Er blickte zu Andy. »Was meinst du, leistest du mir so lange Gesellschaft?«

Andy blickte ihn mit großen Augen an, zögerte, dann sprang er hastig vom Hocker herunter und griff nach Melissas Hand.

Melissa hatte sich bereits gedacht, dass Andy so reagieren würde. Er traute sich nicht einmal, mit Oliver länger als ein oder zwei Minuten allein in einem Raum zu bleiben. Und ihn kannte er schon deutlich länger als Lennart. Als sie jedoch etwas zu Lennart sagen wollte, bemerkte sie, dass er ihr warm zulächelte und obendrein auch noch fröhlich zwinkerte. Er nahm Andys Ablehnung also offenbar nicht im Mindesten persönlich. Sie rang sich ebenfalls ein Lächeln ab.

»Alles okay?« Justus musterte sie fragend.

Hastig nickte Melissa. »Selbstverständlich.«

»Gut, dann mal los.« Noch einmal machte Justus eine ausholende Bewegung mit beiden Händen. »Hier im Erdgeschoss ist, wie du siehst, alles so, wie wir es ursprünglich eingerichtet hatten.« Er deutete auf den weitläufigen Wohnbereich mit einem großen Ecksofa aus hellbraunem Lederimitat sowie den beiden schweren und überaus bequem aussehenden dazu passenden Sesseln, die sich um einen großen Wohnzimmertisch aus Pinienholz gruppierten. Auch Schränke, Kommoden und Regale waren in Pinienholz gearbeitet und verbreiteten ein klassisch-gemütliches Landhausflair. Auf der linken Stirnseite des Raumes hing ein riesiger Flachbildschirm, darunter befand sich eine niedrige Kommode mit Platz für einen DVD-Player und sogar eine Stereoanlage sowie Fächern für CDs und DVDs. Das Beeindruckendste war jedoch die riesige Fensterfront, die zum Garten hinaus zeigte und durch die sicher viel Licht in das Haus fiel. Durch eine breite Schiebetür konnte man die Terrasse betreten.

Der Fußboden war mit großen Fliesen in Holzoptik ausgelegt, unter denen sich eine Fußbodenheizung befand, sodass man problemlos auch im Winter auf dem Boden sitzen konnte, wenn man wollte. Mit wenigen Schritten war Justus beim Treppenaufgang und öffnete nacheinander die beiden Türen, von denen die rechte zu einem großen Einbauschrank gehörte, den Melissa hauptsächlich als Garderobe benutzen wollte. Die linke führte hinunter in den Keller. Justus schaltete das Licht ein und ließ ihr und Andy den Vortritt. Da das gesamte Blockhaus unterkellert war, gab es unten sehr viel Platz. Rechter Hand befand sich der Heizungsraum, in dem sich die Holzpelletanlage befand, sowie ein großer Pelletspeicher, der von außen befüllt werden konnte und von dem aus eine Förderschnecke das Brennmaterial automatisch zum Ofen brachte. Obwohl er es schon einmal getan hatte, erklärte Justus ihr die Funktionsweise des Ofens, die jedoch denkbar einfach war, sodass sie sich keine Gedanken machte, damit nicht umgehen zu können. Außerdem lag in einem Regal neben dem Ofen auch noch die Bedienungsanleitung, falls doch einmal Fragen aufkommen sollten.

Dem Heizungsraum gegenüber lagen ein kleiner Hausanschlussraum, eine Waschküche, in der sie ihre Waschmaschine sowie den Trockner unterbringen konnte und zudem noch Platz für eine aufklappbare Wäscheleine übrig blieb. Ein weiterer kleiner Raum stand bis auf ein paar Regale an den Wänden leer und könnte theoretisch als Vorratskammer benutzt werden.

»Wenn du Hilfe beim Anschließen deiner Waschmaschine und des Trockners benötigst, sag einfach Bescheid.« Justus wartete bei der Treppe, bis sie sich überall eingehend umgesehen hatte. »Unser Hausmeister oder einer seiner Gehilfen kann das gerne für dich übernehmen.«

»Danke, das ist nett. Ich glaube aber, das kann ich selbst. In meiner alten Wohnung habe ich die Geräte auch alle selbst angeschlossen.« Sie blickte zur Treppe. »Eher benötige ich Hilfe beim Heruntertragen.«

»Das lässt sich einrichten. Melde dich einfach, wenn es so weit ist.« Er deutete zum Aufgang. »Sollen wir oben weitermachen?«

Gemeinsam stiegen sie nach oben ins Obergeschoss, das aus drei Zimmern und einem geräumigen Badezimmer mit zwei Waschbecken, Toilette, einer Badewanne sowie einer unglaublich großen Dusche mit Handbrause und Regenfunktion bestand. Im größten Zimmer standen ein Doppelbett aus massivem Pinienholz und passende Schränke sowie ein schickes hohes Sideboard mit mehreren Schubladen. Von hier aus ging der Blick ebenfalls in den Garten und darüber hinaus über die gesamte Umgebung. Zusätzlich gab es direkt über dem Bett ein Dachfenster, durch das sich wahrscheinlich bei gutem Wetter ganz wunderbar die Sterne betrachten ließen. Die beiden Räume auf der gegenüberliegenden Seite waren annähernd gleich groß. Eines davon durfte Andy sich als sein Zimmer aussuchen, das andere würde vorerst leerstehen, bis Melissa sich darüber im Klaren war, ob sie es überhaupt benötigte und falls ja, wozu. Vielleicht würde sie zunächst nur ihr Bügelbrett dort hineinstellen – oder einen Schreibtisch. Vielleicht doch beides. Im Gegensatz zum großen Schlafzimmer waren die beiden kleinen Räume nicht möbliert. Sie wollte für Andy ganz neue Möbel kaufen oder doch zumindest schöne gebrauchte. Allerdings musste sie sich jetzt wohl ein bisschen schneller darum kümmern, als sie ursprünglich gedacht hatte. Für den Übergang würde er sich aber noch mit seiner alten Kinderzimmereinrichtung zufriedengeben müssen.

»Hast du dir schon überlegt, welches der beiden Zimmer deins sein soll?«, wandte Melissa sich an ihren Sohn, der ihnen bisher schweigend gefolgt war, ohne ihre Hand loszulassen.

»Mhm.« Andy nickte und deutete dann mit dem Zeigefinger auf die linke Tür direkt neben dem Treppenaufgang.

Überrascht musterte Melissa ihn. »Wirklich? Nicht das andere? Das hat einen Zugang zum Balkon, genau wie mein Schlafzimmer.«

»Mhmh.« Andy schüttelte heftig den Kopf. »Das andere ist besser, weil da ein großes Fenster im Dach ist. Und man kann durch das andere Fenster nach draußen auf den Fahrweg gucken und immer sehen, wer gerade kommt.«

»Gute Argumente«, befand Justus lächelnd. »So ein Dachfenster ist richtig cool, oder? Das andere Zimmer hat leider keins, weil dort drei Fotovoltaik-Elemente angebracht sind, über die ein Teil des Stroms für das Haus generiert wird.«

»Ich will das mit dem Dachfenster«, bestimmte Andy.

Melissa lachte. »So sei es. Dann werde ich mir in dem dachfensterlosen Zimmer mein Büro und Bügelzimmer einrichten, schätze ich.«

»Wie besprochen, haben wir die Möbel aus diesen beiden Zimmern entfernt«, ergriff Justus erneut das Wort. » Bist du so mit allem einverstanden?«

Hastig nickte Melissa. »Selbstverständlich. Es ist alles ganz wunderbar.« Sie versuchte, sich gelassen zu geben, doch in Wahrheit fuhr ihr Puls gerade Achterbahn vor lauter Aufregung. Sie würde sich hier geradezu fühlen wie in einem Schloss! Alles war so behaglich und liebevoll eingerichtet und entsprach voll und ganz ihrem Geschmack. Bis sie dieses Blockhaus gesehen hatte, hatte sie nicht einmal gewusst, was genau ihr Geschmack überhaupt war. Als Kind und Jugendliche hatte sie sich den puritanischen Gewohnheiten ihrer Eltern untergeordnet, später dann den etwas sterilen, wenn auch durchaus luxuriösen Stil in Matthias’ Haus akzeptiert. Nach ihrer Flucht hatte sie weder im Frauenhaus noch in ihrer jetzigen Wohnung viel Spielraum für eigene Entfaltung gehabt. Dieses Haus besaß klare Linien, war nicht kitschig oder zu verspielt, aber einladend, freundlich und gemütlich. Wie gerne wäre sie in einer Umgebung wie dieser aufgewachsen! Allerdings wurde ihr auch dies erst jetzt so richtig bewusst. Als Kind und selbst als Teenager hatte sie es vermieden, über solche Dinge nachzudenken. Da sie auch nie viele Freunde gehabt hatte, enge Freundinnen schon gar nicht, war sie auch nur selten bei anderen Kindern oder Jugendlichen zu Besuch gewesen, und falls doch einmal, dann hatte sie deren jeweiliges Zuhause zwar meist bewundert, jedoch bewusst nicht in Relation zu ihrem eigenen Elternhaus gesetzt. Sie hatte schon sehr früh gelernt, dass so etwas nicht guttat, vor allen Dingen, weil ihre Eltern sie dafür ganz sicher böse gescholten hätten.

»Sollen wir dann rasch den Papierkram erledigen?« Justus machte sich bereits wieder auf den Weg ins Erdgeschoss. »Du weißt ja, ich muss Kathrinchens wegen bald zurück nach Hause.«

»Oh, ja, klar.« Hastig folgte sie ihm zusammen mit Andy die Treppe hinab. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie alle Papiere und Verträge durchgesehen und unterzeichnet hatten. Andy war indes wieder auf den Barhocker geklettert und spielte an der Orangensaftflasche herum.

Justus versprach Melissa, ihr Kopien aller Unterlagen zukommen zu lassen, und wandte sich bereits zur Tür. »Ich breche dann mal auf.«

»Warte!« Erschrocken blickte Melissa zwischen Justus und Lennart, der nach wie vor am Tresen saß, hin und her. »Du musst doch mit Lennart zurückfahren.«

»Ach, Quatsch.« Justus winkte grinsend ab. »Trinkt ihr mal ganz in Ruhe euer Bier aus. Ich mache mich derweil zu Fuß auf den Weg.«

»Aber das geht doch nicht!«, protestierte Melissa erschrocken. »Du willst doch nicht etwa die ganze Strecke zurücklaufen, oder?«

»So weit ist es gar nicht«, beruhigte Justus sie. »Siehst du den Waldweg, der vom Hauptweg abzweigt?« Er war an eines der beiden Küchenfenster getreten, das zum Fahrweg hinaus zeigte. »Da vorne links. Das ist eine Abkürzung, über die man ganz schnell hinüber zum Resort gelangt. Das sind vielleicht siebenhundertfünfzig oder achthundert Meter, mehr nicht. Mit dem Auto kann man dort nicht fahren, aber zu Fuß oder mit dem Fahrrad ist es kein Problem. Als Kinder sind wir oft mit den Rädern quer durch den Wald gebrettert.«

Überrascht runzelte Melissa die Stirn, dann lachte sie leise. »Dann weiß ich jetzt auch, warum Viola und Ricarda diesen Weg heute Mittag genommen haben. Ich hatte mich schon gewundert, weil sie meinten, sie müssten rasch zurück, da ihre Mittagspause vorbei wäre.«

»Wie gesagt, eine hübsche Abkürzung.« Justus packte alle Papiere zurück in die Aktentasche und verschloss sie. »Also, macht euch um mich keine Gedanken; ich bin in gut zehn Minuten bei Weib und Kind.«

»Ein Vorteil, wenn man in unmittelbarer Nähe zum eigenen Hotel ein Haus gebaut hat«, befand Lennart. »So einen kurzen Arbeitsweg wünscht sich wohl jeder.«

»Exakt.« Justus salutierte scherzhaft. »Nah beim Arbeitsplatz aber dennoch versteckt genug, damit man auch mal komplett seine Ruhe hat. Man sieht sich.« Damit verließ er das Haus; die Tür klappte leise hinter ihm ins Schloss.

***

Aufmerksam beobachtete Lennart, wie Melissa sichtlich zögernd an die Arbeitsinsel trat und nach der Radlerflasche griff. Wieder einmal schien sie über Gebühr unsicher zu sein, und das war eine wahre Schande, denn es passte so gar nicht zu der Frau, von der er glaubte, dass sie sich irgendwo vor ihm und der Welt versteckte. Jemand, und er nahm an, dass es sich dabei um ihren Exmann handeln musste, hatte ihr gründlich jegliches Selbstbewusstsein genommen. Ihr ebenso wie dem kleinen Jungen, der seine Mutter nicht einen Augenblick aus den Augen ließ. »Ich hoffe, ich habe mich Ihnen nicht aufgedrängt«, sprach er sie an. »Wenn ich abhauen soll, müssen Sie es nur sagen. Wahrscheinlich wollen Sie nach einem langen Arbeitstag Ihre Ruhe haben und ungestört in den Kisten da kramen.« Er deutete auf die gestapelten Kartons mitten im Wohnzimmer.

»Ja … nein!« Sichtlich nervös spielte Melissa an der Flasche herum. »Sie haben sich nicht … Ich meine, Sie stören mich nicht.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich fange noch mal an.« Sie atmete einmal tief durch. »Ich hatte Sie doch selbst zu dem Bier eingeladen.«

Er lächelte leicht. »Das bedeutet nicht, dass Sie es sich nicht inzwischen anders überlegt haben könnten. Das wäre in Ordnung. Sie müssen sich nicht mit mir abgeben, nur weil ich die Kartons hergefahren habe.« Er warf einen kurzen Blick zur Tür, durch die Justus gerade verschwunden war. Er war sich nicht ganz sicher, was dessen plötzliche Entscheidung, zu Fuß durch den Wald zurückzulaufen, zu bedeuten haben könnte. Dachte er womöglich, zwischen ihnen beiden würde sich etwas abspielen?

»Vielen Dank noch mal für die Hilfe.« Melissa Stimme riss ihn aus den Gedanken und brachte ihn dazu, sie wieder anzusehen. Dabei stellte er erneut fest, dass die neue Frisur ihr mehr als nur ausgezeichnet stand. Sie machte eine völlig neue Person aus ihr. Nein, korrigierte er sich im Geiste. Keine neue Person, sondern die Person, die sie eigentlich war. Etwas davon war zuvor schon wahrnehmbar gewesen, überlegte er. Etwas, was ihn vom ersten Moment an fasziniert hatte. Es verbarg sich unter der Oberfläche und schien gelegentlich hervorzublitzen.

Als sie erneut zu sprechen ansetzte, wirkte sie wieder leicht verunsichert: »Stimmt etwas nicht?«

Verwundert hob er den Kopf. »Warum?«

»Sie haben mich angestarrt.«

»Entschuldigung.« Er verkniff sich das erneute Lächeln, das sich auf seine Lippen stehlen wollte, weil er ahnte, dass sie es möglicherweise falsch auffassen könnte. »Ich wollte nicht starren, höchstens bewundern.«

Zwischen ihren Augen bildete sich eine senkrechte Falte. »Was gibt es denn an mir zu bewundern?«

»Wissen Sie das wirklich nicht?« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Dann werde ich es Ihnen heute lieber nicht erzählen.«

»Warum nicht?«

Er trank einen Schluck von seinem Bier, um Zeit zu gewinnen. »Weil«, formulierte er schließlich vorsichtig, »Sie im Augenblick nicht bereit für solche Komplimente sind.«

»Bereit?«

Er nickte leicht. »Noch nicht. Ich hoffe sehr, das wird sich eines Tages ändern.« Mit einem weiteren tiefen Zug leerte er die Bierflasche und stellte sie zurück auf den Tresen. »Ich denke, ich mache mich jetzt auch auf den Heimweg.« Ehe sie protestieren konnte, war er schon bei der Tür, drehte sich dort jedoch noch einmal zu ihr um. »Haben Sie sehr viel in Ihrer alten Wohnung zu packen?«

Sichtlich irritiert über den Themenwechsel schüttelte sie den Kopf. »Na ja, nicht allzu viel. Es sind schon etliche Kisten. Vor allem Bücher und Andys Sachen und so. Aber sonst …« Sie zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich schaffen wir das an einem Tag. Viel länger wird es dauern, alles hierherzufahren. Sie wissen ja, wie klein mein Auto ist. Und die Möbel muss ich irgendwie anders transportieren. Oliver hat schon angeboten, mir dabei zu helfen. Allerdings weiß er noch nicht, dass wir jetzt viel früher umziehen.«

Lennart hatte sich so etwas bereits gedacht. »Wissen Sie was, ich habe am Sonntag Zeit. Warum geben Sie mir nicht einfach Ihre Adresse, und ich komme am späten Vormittag mit dem Transporter vorbei. Damit haben wir die Sachen bestimmt in Nullkommanichts hierher gefahren.«

Melissas Augen weiteten sich. »Das kann ich doch wirklich nicht von Ihnen verlangen. Sie … Ich meine, Sie kennen uns doch überhaupt nicht. Warum wollen Sie uns beim Umzug helfen?«

Nun lächelte er doch vorsichtig. »Ist das so wenig offensichtlich?« Als sich ihre Augen noch mehr weiteten, setzte er hinzu: »Auf diese Weise hätte ich Gelegenheit, Sie besser kennenzulernen.« Er richtete seinen Blick auf Andy, der ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. »Und dich ebenfalls, kleiner Mann.« Sein Blick wanderte wieder zu Melissa. »Selbstverständlich nur, wenn Sie das auch möchten. Andernfalls werde ich jetzt sofort verduften und Ihnen der gruselige hässliche Rocker nicht weiter auf den Keks gehen.«

»Sie sind doch nicht hässlich!« Offenbar erschrocken über ihren eigenen Ausruf, schnappte Melissa kurz nach Luft. Sie räusperte sich umständlich. »Also, ähm …« Sie runzelte die Stirn. »Clever, Lennart. Wirklich clever.«

Lennart grinste. »Nicht wahr?«

»Ich kann das nicht annehmen.«

»Warum nicht?« Aufmerksam musterte er sie. »Günstiger kommen Sie nicht an ein Umzugsunternehmen. Schon gar nicht an eines, das kurzfristig Zeit hat.«

»Ich könnte auch noch ein paar Tage warten. So eilig ist es nun auch wieder nicht.«

Beinahe hätte er gelacht. »Könnten Sie wohl, aber ich habe bemerkt, wie Sie dieses Haus angesehen haben, als wir eingetroffen sind. Geben Sie es zu, Sie können es kaum erwarten, hier einzuziehen. Warum sollten Sie es auch hinauszögern? Es ist wunderschön hier. Ruhig, mit viel Natur ringsum und perfekt für Kinder. Ganz zu schweigen von dem da.« Er deutete auf den überdimensionalen Fernsehbildschirm an der Wand. »Der kann was. Da erblasse ich vor Neid. Also …« Er ließ sein Grinsen noch breiter werden. »Wollen Sie wirklich noch länger warten, oder gehen Sie lieber das Risiko ein, mich als Möbelpacker zu missbrauchen und festzustellen, dass ich netter bin, als ich aussehe?«

»Sie sehen doch nicht …« Melissa brach abrupt ab und maß ihn mit einem beredten Blick. »Vergessen Sie es, darauf falle ich nicht noch einmal herein.«

»Nicht schlecht für den Anfang, Melissa.« Er sah, wie sich ihre Augen erneut weiteten, und nahm es als gutes Zeichen. »Also: Ihre Adresse?«

Die senkrechte Falte zwischen ihren Augen erschien erneut, als sie ihm Straße und Hausnummer nannte.

»Alles klar.« Er bemühte sich, sein Grinsen in ein Lächeln umzuwandeln. »Sonntag gegen elf? Oder lieber später?«

»Elf Uhr ist in Ordnung.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie gesagt, so viele Sachen haben wir gar nicht.«

»Sehr gut.« Er nickte ihr zu. »Ich werde pünktlich sein. Und … Melissa?«

»Was?«

»Sie dürfen sich ruhig freuen. Wenn schon nicht auf mich, dann zumindest darauf, schon bald hier wohnen zu dürfen.«

»Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich mich nicht …« Sie schoss einen verärgerten Blick auf ihn ab. »Sie halten sich wohl für oberschlau, was?«

Er ging nicht darauf ein, freute sich jedoch insgeheim, weil er glaubte, ein leichtes Zucken um ihre Mundwinkel wahrgenommen zu haben. »Bis Sonntag dann.« Er warf auch Andy noch einmal einen Blick zu. »Pass bis dahin gut auf deine Mama auf, okay?« Da er sein Glück nicht herausfordern wollte, machte er rasch, dass er wegkam.

***

»Mama?« Andys Stimme riss Melissa aus der leichten Starre, in die sie verfallen war, nachdem die Tür hinter Lennart Overbeck ins Schloss gefallen war. »Warum habt ihr euch denn gestritten? Ihr habt doch gestritten, oder? Ist der Mann böse?«

Verwirrt richtete sie ihren Blick auf ihren Sohn. »Nein, Schatz, er ist nicht böse. Überhaupt nicht.« Zumindest ging sie davon aus, aber was wusste sie schon? Mit ihrer Menschenkenntnis war es schließlich nicht allzu weit her. »Wir haben auch gar nicht gestritten, sondern …« Sie stockte und erschrak ein wenig. Sie hatten … Nein! Sie hatte doch nicht etwa … Hatte sie mit ihm geflirtet? Das konnte doch gar nicht sein! Sie hatte noch nie mit einem Mann geflirtet, nicht einmal mit Matthias, als sie ihn kennengelernt hatte. Sie wusste gar nicht, wie das ging! Und doch …

»Sondern? Was denn, Mama?« Andy wippte auf seinem Hocker auf und ab und strampelte leicht mit den Beinen.

Ein leises Gefühl der Verlegenheit durchrieselte Melissa, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Wir haben nur ein bisschen, ähm, Spaß gemacht, weißt du?«

»Ihr habt aber gar nicht gelacht.«

Wo er recht hatte, hatte er recht. »Ach, weißt du, das war so ein Erwachsenenscherz.«

Verwundert runzelte Andy die Stirn. »Aber du lachst doch sonst immer, wenn etwas lustig ist. Warum denn jetzt nicht?«

»Weil …« Himmel, wie sollte sie das bloß erklären? Sie verstand es ja selbst nicht. »Es war kein wirklich lustiger Scherz.« Ehe Andy noch einmal nachhaken konnte, setzte sie hinzu: »Weißt du was? Ich finde, wir sollten jetzt nach Hause fahren.« Sie lächelte. »Nein, in unsere alte Wohnung. Das hier ist ja jetzt unser Zuhause. Aber es ist schon reichlich spät, und wir haben noch gar nichts gegessen. Außerdem musst du bald ins Bett.« Sie blickte auf ihre Uhr und erschrak. »Deine Bettgehzeit ist sogar schon vorbei!«

Auf Andys Gesicht erschien ein breites Grinsen. »Muss ich dann überhaupt noch ins Bett? Wenn meine Bettgehzeit schon vorbei ist, kann ich doch eigentlich auch gleich aufbleiben.«

Spielerisch drohte Melissa ihm mit dem Zeigefinger. »Das hättest du wohl gerne, was? Nein, wir fahren jetzt. Hast du keinen Hunger?« Während sie sprach, stellte sie die Saftflasche zurück in den Kühlschrank und die Bierflasche auf die Anrichte. An ihrer Radlerflasche hatte sie bisher noch nicht einmal genippt! Etwas ratlos musterte sie sie, dann trank sie einen Schluck und noch einen. »Die muss ich erst noch austrinken, sonst wird sie schlecht«, erklärte sie Andy, der sie wie immer aufmerksam beobachtete. »Aber dann machen wir uns sofort auf den Weg.«

»Und was ist mit den Kartons? Gucken wir nicht rein, was da drin ist?«

»Nein.« Melissa setzte die Flasche erneut an und trank. »Die Kartons laufen uns nicht weg. Auspacken können wir sie auch erst, wenn all unsere Sachen hier sind. Dann haben wir auch viel mehr Zeit und Ruhe dazu.«

»Ich will aber wissen, was da drin ist.« Schon kletterte Andy vom Hocker herunter und strebte dem Kistenstapel zu. Melissa bekam ihn gerade noch am Arm zu fassen und hielt ihn zurück.

»Nichts da, mein Freund.« Mit einem letzten Zug leerte sie die Flasche und stellte sie ebenfalls auf die Anrichte. »Heute nicht mehr. Wir müssen jetzt wirklich los.«

Rasch sammelte sie Andys Jacke ein, die dieser irgendwann ausgezogen und einfach neben sich auf den zweiten Hocker gelegt hatte, und reichte sie ihm. Sie selbst hatte ihren Mantel noch gar nicht ausgezogen. Etwas wehmütig blickte sie sich ein letztes Mal um, bevor sie die Tür abschloss. Wie gerne wäre sie gleich hiergeblieben! Doch das ging nun einmal nicht. Erst musste sie all ihre Sachen packen. Und nachdenken. Sie musste ganz dringend nachdenken!