12. Kapitel

Obwohl der gemeinsame Filmabend durchaus amüsant gewesen war, neigte Melissa inzwischen fast dazu, ihn zu bereuen. Es war Montagnachmittag, und sie musste zum wiederholten Male gegen einen toten Punkt ankämpfen. Sie war einfach nicht daran gewöhnt, so spät ins Bett zu gehen, schon gar nicht an einem Sonntagabend. Nach einigem Hin und Her hatten sie sich für Stirb langsam – jetzt erst recht entschieden, weil er zufällig gerade im Fernsehen gelaufen war. Im Anschluss war noch eine Dokumentation über die Stirb langsam-Filme sowie Bruce Willis gelaufen, die sie ebenfalls noch gemeinsam angeschaut hatten. Somit war es bereits kurz vor Mitternacht gewesen, als ihre Gäste sich verabschiedet hatten. Natürlich hatten sie den Abend absichtlich so lange bei ihr verbracht und den Abschied hinausgezögert, damit sie sich nicht allein fühlte. Dafür war sie den vier Freundinnen und Freunden sehr dankbar. Nicht nur, um sie zu beruhigen, sondern auch sich selbst, hatte sie ihnen mehrfach versichert, dass sie wunderbar allein zurechtkommen würde. Natürlich machte ihr der Gedanke, dass Matthias deutlich weniger als eine Autostunde von ihr entfernt wohnte, nicht wenig Angst. Auf der anderen Seite hatten ihr die Bemühungen der vier sowie ihre Versicherungen, dass sie stets für Melissa und Andy da sein würden, wirklich Mut gemacht. Sie war nicht allein, musste es nicht sein, wenn sie nicht wollte. Sie hatte jetzt sogar diese App auf dem Handy und sämtliche Telefonnummern, unter denen sie jederzeit jemanden erreichen konnte, wenn sie Hilfe brauchte.

Dass ganz besonders Lennart sich praktisch als ihr Beschützer und Notfallkontakt angeboten hatte, machte sie hingegen ein wenig ratlos und verwirrte sie. Natürlich war sie nicht dumm, sie hatte längst begriffen, dass sein Interesse an ihr echt war. Sie war nur nach wie vor hin- und hergerissen, wie sie darauf reagieren sollte. Sie wusste einfach nicht, was sie selbst empfand oder wie sie die Gefühle, die sie in seiner Gegenwart überfielen, einordnen sollte. Deshalb hielt sie sich vorerst lieber bedeckt und blieb zurückhaltend ihm gegenüber. Falls er davon enttäuscht war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er hatte sich den gesamten Abend über locker und nett verhalten und ebenso fürsorglich wie alle anderen. Nicht mehr und nicht weniger.

Oder hatte sie sich sein Interesse doch nur eingebildet? Nein. Er hatte schließlich selbst zugegeben, dass sie ihm gefiel. Doch das konnte natürlich vieles bedeuten und nicht zwangsläufig auf ernste Absichten schließen lassen. Vielleicht gehörte er auch einfach nur zu den Männern, die gerne flirteten und grundsätzlich hilfsbereit waren. Dass er sich so viel Mühe mit der Höhle für Andy gegeben hatte, rechnete sie ihm hoch an. Es gab wahrscheinlich nicht viele Männer, die sich gerne mit den Kindern von ihnen fast völlig fremden Frauen abgaben. Selbst dann nicht, wenn sie tatsächlich Interesse an der besagten Frau hatten.

»Träumst du?« Janas Stimme riss sie aus den Gedanken, und erst jetzt bemerkte sie, dass sie seit mehreren Minuten ununterbrochen mit einem Staubtuch eine der Vitrinentüren im Laden bearbeitete. Als sie sich wie ertappt zu ihrer Freundin und Arbeitgeberin umdrehte, kicherte diese. »Aus welchem Traumland habe ich dich denn jetzt herausgerissen?«

»Aus gar keinem.« Verlegen hob Melissa die Schultern. »Ich war nur gerade in Gedanken bei …«

»Lennart?«

Melissas Wangen wurden heiß. »Nein!«

»Also ja.« Jana trat neben sie und nahm ihr das Staubtuch aus der Hand. »Ist doch okay. Lennart ist ein toller Typ, über den darf eine Frau schon mal nachdenken, insbesondere wenn sie wie du Single ist.« Sie zwinkerte ihr zu. »Ist doch nichts dabei.«

»Doch, also …« Melissa seufzte. »Für mich ist das alles nicht so einfach.«

»Kann sein.« Jana begann nun ihrerseits, die nächste Vitrine abzustauben. »Aber mach es dir bitte auch nicht zu kompliziert. Findest du ihn nett?«

Wieder hob Melissa die Schultern. »Ja, schon, irgendwie.«

»Was spricht dann dagegen, ihn näher kennenzulernen? Du musst ihn ja nicht gleich heiraten. Du musst überhaupt nichts.« Sie hielt inne und drehte sich zu Melissa um. »Aber du darfst, wenn du möchtest.«

Melissa nickte vage. »Schon, ja, das weiß ich alles. Es ist nur im Augenblick alles so verwirrend, und dann noch die Sache mit Matthias …«

»Das schaffst du schon.« Jana lächelte ihr zu. »Andy und du, ihr schafft das. Ach Quatsch, wir alle zusammen schaffen das«, korrigierte sie sich energisch. »Du weißt, dass du immer auf uns zählen kannst, ja?«

Unwillkürlich lächelte Melissa. »Ja, das weiß ich, nachdem ihr es mir jetzt so oft gesagt habt. Auch das ist für mich ein bisschen ungewohnt«, gab sie zu. »Ich hatte noch nie Freunde. Zumindest keine echten, keine so wie euch.«

»Dann wurde es ja wirklich Zeit«, stellte Jana lapidar fest und knuffte sie freundschaftlich gegen die Schulter, dann drückte sie ihr das Staubtuch wieder in die Hände. »Warum lässt du mich eigentlich die Vitrinen abstauben? Dir dürfte doch inzwischen klar sein, dass ich so etwas nur mache, wenn ich in einer Schaffenskrise stecke. Dabei weiß ich doch genau, und du ebenfalls, dass Staub wischen dann überhaupt nicht hilft. Ich habe bis eben in meiner Werkstatt gestanden und versucht, diese verfluchte Tannenbaumskulptur hinzubekommen. Vorhin habe ich das ganze Glas wieder eingeschmolzen.«

»Wirklich?« Erschrocken starrte Melissa sie an. »Das war doch so eine wunderbar große Skulptur! Hast du sie wirklich zerstört?«

»Und wie ich das habe.« Grimmig verzog Jana die Lippen. »Es war einfach nicht richtig. Die Farben sind mir nicht so gelungen, wie ich sie haben wollte, und auch die Form war irgendwie ein bisschen zu dadaistisch.« Aus ihrem grollenden Tonfall wurde ein Lachen. »Das Ding war potthässlich! Also fange ich einfach noch einmal von vorne an, aber mir fehlt schlicht ein winziges Detail an Inspiration, weißt du? Das Tüpfelchen auf dem i, wenn du so willst. Der richtige Dreh …« Von einer Sekunde zur nächsten hellte sich ihre Miene auf. »Der richtige Dreh! Das ist es! Mensch, dass ich darauf nicht gleich gekommen bin. Ich muss das Ding drehbar machen und mit LEDs beleuchten, sodass es je nach Betrachtungswinkel völlig neu aussieht. Danke, Melissa, danke!«

»Was? Wofür denn?« Verwirrt blickte Melissa Jana nach, die bereits wie ein Wirbelwind den Laden verlassen hatte. Dabei wäre sie beinahe mit einer blonden Frau Mitte zwanzig zusammengestoßen, die die Tür geöffnet hatte. Auch die Frau blickte ihr ein wenig überrascht nach, trat dann jedoch ein und zielstrebig auf Melissa zu. Sie war etwa eine Handbreit kleiner als Melissa und zierlich, mit dichtem, schulterlangem blondem Haar und fröhlich blitzenden dunkelblauen Augen, die von einer dezent silbern gerahmten Brille betont wurden. Melissa erkannte sie von einigen früheren Zusammentreffen als Lennarts Schwester Lena.

»Guten Tag, Frau Lange.« Lenas Stimme war so sanft, wie ihre gesamte Erscheinung wirkte. Liebenswürdig, dezent, unauffällig, wenngleich sie durchaus geschmackvoll gekleidet war. Sie trug eine hellblaue Kombination aus Hose und Jackett und dazu eine cremeweiße Bluse, alles bestimmt Designerstücke – oder doch zumindest vom teuren Ende der Stange. »Was ist denn mit Jana los? Sie hatte es ja unglaublich eilig.«

Melissa lächelte der Frau zu. »Guten Tag, Frau Overbeck. Ich weiß auch nicht genau, was in Jana gefahren ist. Ich glaube, sie ist gerade von der Muse geküsst worden oder so etwas. Eben noch haben wir über eine Skulptur gesprochen, die sie vorhin vollständig eingeschmolzen hat, und plötzlich hatte sie wohl einen Geistesblitz, denn sie ist einfach mitten im Gespräch losgerannt. Ich nehme an, wir sehen sie so schnell nicht wieder. Ganz bestimmt verschanzt sie sich jetzt wieder in ihrer Werkstatt.«

Lena schmunzelte. »Daran ist wohl das Künstler-Gen schuld. Oliver hat uns schon einiges darüber erzählt. Er sagt, wenn sie einmal mitten in einem Schaffensprozess steckt, dann darf man sie unter keinen Umständen stören, weil sie einem sonst im schlimmsten Falle irgendetwas an den Kopf schmeißt. Ein bisschen kann ich sie ja verstehen. Wenn ich gerade dabei bin, an einer neuen Software zu programmieren oder an einer App, dann darf mich auch niemand ungestraft ansprechen. Geworfen habe ich in solchen Fällen zwar bisher noch nie etwas, außer Worte, aber vielleicht sollte ich mir das angewöhnen.« Sie gluckste. »Vor allem dann, wenn Papa oder Lennart es mal wieder mit irgendetwas besonders eilig haben und mich stören.« Bewundernd sah sie sich im Laden um. »O Mann, jedes Mal, wenn ich hier hereinkomme, gibt es jede Menge neue schöne Sachen zu entdecken. Es ist wirklich gefährlich, für euch zu arbeiten. Ich gerate jedes Mal in Gefahr, mein halbes Monatsgehalt hierzulassen. Wie schaffen Sie es, den ganzen Tag hier im Laden zu stehen und standhaft zu bleiben?«

»Reine Gewohnheit.« Melissa lachte. »Allerdings könnte ich es mir auch nicht leisten, meinen halben Monatslohn in Glasskulpturen anzulegen oder in Glasschmuck. Dann würden mein Sohn und ich wohl bald verhungern – und auf der Straße stehen.«

»Trotzdem würde es mir fürchterlich schwerfallen, hier zu arbeiten. Ich könnte mich wahrscheinlich niemals von all den schönen Sachen trennen, wenn sie jemand kaufen möchte.« Mit der flachen Hand klopfte Lena leicht auf die dunkelbraune Umhängetasche aus Leder, die sie mitgebracht hatte. »Ich habe die Software-Updates mitgebracht, über die Sie vergangene Woche mit Lennart gesprochen haben, und noch ein paar andere Kleinigkeiten, um die bestehende Sicherheitsinstallation zu verbessern. Da Jana offenbar jetzt nicht verfügbar ist, wäre es okay, wenn ich mich allein darum kümmere, solange Sie hier im Laden stehen? Bei der Gelegenheit kann ich auch gleich noch einmal einen Komplettcheck der gesamten Anlage durchführen. Das dauert alles in allem etwa dreißig bis vierzig Minuten. Sehr gerne kann ich mir auch Ihre Website ansehen, um die Einstellungen der Firewall zu überprüfen.«

Da in diesem Moment ein älterer Herr eintrat, nickte Melissa hastig. »Selbstverständlich. Die Computeranlage steht hinten im Büro.« Sie deutete auf die Tür hinter dem Verkaufstresen. »Soll ich Ihnen alles zeigen?«

»Nein, nicht nötig.« Lena hatte sich bereits auf den Weg gemacht. »Ich war ja schon ein paarmal hier und kenne mich aus. Bis später dann.«

»Ja, bis später.« Melissa folgte Lena kurz mit Blicken, bis die Bürotür sich hinter ihr schloss, dann wandte sie sich dem Kunden zu, der sich neugierig im Laden umsah. »Guten Tag. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

***

»Frau Lange, kann ich Sie mal kurz sprechen?« Lenas ernster Tonfall ließ Melissa aufmerken, die gerade dem vermutlich letzten Kunden des Tages geholfen hatte, einen Karton mit einer großen Glasskulptur zum Auto zu tragen, und nun die Ladentür hinter sich zuzog. Lena lehnte mit der Schulter am Türstock zum Büro und schien schon einen Moment auf sie gewartet zu haben.

Rasch trat Melissa auf sie zu. »Selbstverständlich, worum geht es denn?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher.« Lena stieß sich ab, drehte sich um und kehrte ins Büro zurück. »Würden Sie sich das hier bitte einmal kurz ansehen? Bei der Überprüfung der Einstellungen aller Videokameras ist mir etwas aufgefallen. Ich kann mich natürlich auch irren, aber sicherheitshalber wollte ich Sie doch darauf aufmerksam machen.« Sie hatte sich mittlerweile auf den Bürostuhl gesetzt und den Kamerafeed aufgerufen, über den man den Bereich hinter dem Laden zur Werkstatt hin bis zu Janas großem Holzwohnhaus sehen konnte, in dem sie mittlerweile seit fast einem Jahr zusammen mit Oliver und Scottie lebte. Der Kamerawinkel war ganz genau vermessen worden, damit er wirklich nur den Teil erfasste, der Janas Grundstück beinhaltete, jedoch keinen öffentlichen Weg und keine Straße. Nur am ganz äußersten oberen Rand war der Übergang des Grundstücks zu einem Feldweg zu erkennen, der am nahegelegenen Wald entlangführte. Genau auf diese Stelle deutete Lena. »Sehen Sie diesen Geländewagen? Wissen Sie zufällig, ob der zu einem ortsansässigen Jäger oder Förster gehört?«

Melissa beugte sich ein wenig vor, um auf dem Computerbildschirm etwas erkennen zu können. »Es ist nicht der Wagen unseres Försters Leon Marbach«, befand sie schließlich. »Der ist viel größer. Er hat vor ungefähr zwei Monaten mit den Kindern aus Andys Klasse eine Wanderung durch den Wald gemacht und ihnen ganz viel zu Bäumen und Sträuchern erklärt. Deshalb kann ich mich noch gut daran erinnern; ich war nämlich als Aufsichtsperson mit dabei. Die örtlichen Jäger kenne ich allerdings nicht. Warum? Was ist mit diesem Wagen?«

»Das weiß ich eben nicht so genau.« Lena holte ein paar weitere Aufnahmen auf den Bildschirm, die in den letzten vierzehn Tagen entstanden waren, und öffnete sie nebeneinander, sodass immer wieder der gleiche Wagen an fast derselben Stelle zu erkennen war. »Hier, sehen Sie? Der Wagen steht ziemlich häufig dort, und das zu allen möglichen Tageszeiten. Und sehen Sie«, sie vergrößerte zwei der Aufnahmen ein wenig, »hier und hier kann man erkennen, dass jemand mit einem Fernglas zum Laden herüberblickt. Wenn das ein Jäger wäre, müsste er doch eigentlich in die entgegengesetzte Richtung schauen, oder? Zum Wald hin.«

Melissas Pulsschlag beschleunigte sich unangenehm. In ihrer Magengrube stieg ein ungutes Gefühl auf. »Glauben Sie, da beobachtet mich jemand?«

Aufmerksam blickte Lena zu ihr auf. »Warum glauben Sie, dass Sie beobachtet werden?«

Melissa biss sich auf die Unterlippe. »Hat Lennart Ihnen nichts erzählt?«

»Nein, hätte er das tun sollen?«

»Eigentlich nicht.« Melissa richtete ihren Blick wieder auf den Bildschirm. »Ich dachte nur, weil Sie seine Schwester sind …«

»Wenn Sie ihm irgendetwas im Vertrauen gesagt haben, dann wird er es niemandem weitersagen, auch nicht mir.«

Melissa zog die Schultern ein wenig hoch. »Ich habe nicht gesagt, dass er es nicht weitererzählen soll, aber natürlich ist es besser, wenn nicht zu viele Leute darüber Bescheid wissen.«

»Worüber Bescheid wissen?« Lena rückte ein wenig mit dem Bürostuhl zurück und bedeutete Melissa, sich auf den zweiten Stuhl zu setzen, der in der Zimmerecke stand. »Worum geht es denn?«

Melissa schüttelte den Kopf, eilte hinüber in den Laden und schloss rasch die Tür ab, nur für den Fall, dass doch noch späte Kundschaft auftauchen würde. Nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass sie noch etwas mehr als eine halbe Stunde Zeit hatte, bevor sie Andy aus der Ganztagsbetreuung abholen musste. Rasch kehrte sie ins Büro zurück und setzte sich Lena gegenüber. »Ich bin seit ungefähr anderthalb Jahren auf der Flucht vor meinem Exmann.« Sie seufzte. »Zumindest dachte ich, ich wäre es. Allerdings hat Oliver gestern herausgefunden, dass Matthias offenbar die ganze Zeit wusste, dass ich mich hier aufhalte. Er ist von Berlin nach Köln gezogen, und wir müssen herausfinden, ob er etwas vorhat. Oder nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, ob er etwas vorhat, sondern was.«

»Sie glauben also, dass er Sie möglicherweise beobachten lässt?«

Das ungute Gefühl wandelte sich in leichte Übelkeit. »Es ist nicht ausgeschlossen.«

Lena rückte wieder an den Schreibtisch heran und versuchte, das Video noch etwas größer zu ziehen, doch durch den Zoom wurde es zu stark verpixelt. »Leider ist hier kein Gesicht zu erkennen. Das Fernglas sieht man auch nur wegen der Spiegelung der Gläser in der Sonne.« Noch einmal stieß sie sich vom Tisch ab und rollte bis zum Fenster, von dem aus man den Waldweg ebenfalls im Blick hatte. »Im Augenblick kann ich den Wagen nicht entdecken. Leider dürfen wir nicht so einfach eine weitere Kamera auf diesen Weg richten, da er öffentlich zugänglich ist. Dazu müssten wir mindestens einen begründeten Verdacht hegen. Leider reicht da ein Geländewagen, der öfter mal dort parkt, nicht aus. Insbesondere dann nicht, wenn nichts weiter passiert. Aber vielleicht sollten Sie zukünftig häufiger mal ein Auge auf diesen Weg haben, um herauszufinden, ob er wirklich regelmäßig dort steht oder ob das nur ein vorübergehendes Phänomen war.« Sie stockte, zögerte, dann rollte sie mit ihrem Stuhl auf Melissa zu und musterte sie eindringlich. »Wie … gefährlich ist Ihr Exmann?«

Melissa erschrak. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, Sie sind ja wohl nicht grundlos vor ihm in Deckung gegangen, nicht wahr? Was könnte schlimmstenfalls passieren, wenn Sie die Person, die sie möglicherweise beobachtet, darauf ansprechen, wenn Sie sie das nächste Mal sehen?«

Ratlos zuckte Melissa mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich konnte ein Kontaktverbot zu mir und Andy erwirken. Matthias darf sich uns beiden in keiner Weise physisch nähern oder in irgendeiner Form Kontakt zu uns aufnehmen. Allerdings gehe ich davon aus, dass er mindestens einen Privatdetektiv auf mich angesetzt hat. Oliver ist ebenfalls dieser Meinung, denn anders hätte er mich hier ja nicht aufspüren können. Er denkt sogar, dass Matthias mich wahrscheinlich schon seit der Zeit beobachten lässt, die ich mit Andy in einem Frauenhaus verbracht habe.«

Lena dachte eingehend nach, bevor sie antwortete: »Okay, ein Kontaktverbot also. Das gilt zwar nicht für einen Privatdetektiv, aber wenn Sie einen guten Anwalt haben, könnte der trotzdem etwas daraus machen. Allein die Tatsache, dass Ihr Mann Sie möglicherweise überwachen lässt, könnte schon einen Verstoß gegen das Verbot darstellen. Denn sobald Sie auf einen solchen Beobachter aufmerksam werden, besteht ja in gewisser Weise eine Kontaktaufnahme oder doch zumindest ein psychischer Druck, der ursprünglich durch Ihren Exmann verursacht wird. Haben Sie einen guten Anwalt?«

Melissa nickte. »Meine Anwältin ist absolut kompetent. Sie befasst sich fast ausschließlich mit solchen Fällen wie meinem, ist also sehr erfahren.«

»Dann sollten Sie mit ihr darüber sprechen«, befand Lena. »Ich kann Ihnen die Videoaufnahmen gerne rasch auf einen Speicherstick ziehen, damit Sie sie an Ihre Anwältin weiterreichen können. Außerdem sollten Sie auch sonst die Augen offen halten. Falls sich der Verdacht bestätigt, dass das hier jemand ist, der dafür bezahlt wird, Sie im Auge zu behalten, dann taucht er vielleicht auch noch irgendwo anders auf. Zum Beispiel beim Einkaufen, bei Ihnen zu Hause … Sie sind gerade umgezogen, nicht wahr? Lennart hat mir erzählt, dass er Ihnen dabei geholfen hat.« Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Er scheint Sie zu mögen.«

Melissa zuckte leicht zusammen. »Ja, äh, also …«

»Was bedeutet, dass Sie eine nette Person sein müssen«, fuhr Lena fort, ohne auf Melissas Reaktion zu achten. »Diesen Eindruck hatte ich im Übrigen auch, deshalb frage ich mich gerade, warum wir uns eigentlich noch siezen? Ich kenne Jana schon seit der Sache im vergangenen Jahr, und wir sind uns ja auch schon einige Male begegnet, wenn auch immer nur kurz.« Zu Melissas Überraschung streckte sie ihr die rechte Hand entgegen. »Ich bin Lena.«

Melissa ergriff ihre Hand. »Melissa.«

»Sehr gut. So lässt es sich doch gleich viel besser reden«, stellte Lena grinsend fest. »Jetzt musst du mir allerdings noch verraten, ob du Lennart ebenfalls magst.«

Schon wieder zuckte Melissa zusammen. »Also …«

»Aha.« Lenas Grinsen verbreiterte sich noch. »Ein Blick sagt mehr als tausend Worte.«

»Nein!« Verlegen suchte Melissa nach den richtigen Worten. »So ist das nicht.«

»Wie denn dann?« Lena beugte sich vor und tätschelte Melissas Arm. »Keine Sorge, ich sag’s nicht weiter.«

»Da ist überhaupt nichts zwischen uns.«

»Nichts oder noch nichts?«

Melissa wand sich. »Das ist nicht so einfach.«

»Weil du einen kleinen Sohn hast?« Lena winkte ab. »Das ist vielleicht für manch einen Kerl ein Grund, für Lennart aber bestimmt kein Hindernis.«

»Also, nein, nicht wegen Andy. Oder doch, weil …« Verzagt brach Melissa ab. So verwirrt war sie noch nie gewesen, und sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass Lena sie so direkt darauf ansprechen würde.

»Er hat dich ganz schön aus dem Gleichgewicht gebracht, was?« Lenas Grinsen wandelte sich in ein durchaus zufriedenes Lächeln. »Mehr muss ich für den Anfang gar nicht wissen. Aber um noch mal auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen: Sprich mit deiner Anwältin darüber und achte unbedingt darauf, ob du sonst noch jemanden bemerkst, der dich möglicherweise beobachtet. Mehr kann ich dir im Augenblick leider nicht raten. Aber wenn irgendetwas sein sollte …« Sie griff in die Umhängetasche, die sie über die Lehne des Schreibtischstuhls gehängt hatte, und zog ein Visitenkärtchen daraus hervor. »Du kannst mich jederzeit anrufen.«

»Danke.« Melissa wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Sie war einfach nicht daran gewöhnt, dass die Menschen ihr so spontan und offen ihre Hilfe anboten. Oder hatte sie sich einfach nur in den vergangenen Jahren so sehr in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, es könnte Menschen geben, die bereit waren, ihr zu helfen? »Lennart hat mir schon seine Telefonnummer gegeben und sogar diese Notfall-App installiert. Die hast du programmiert, oder?«

»Nicht alleine, aber zusammen mit einem befreundeten Programmierer«, bestätigte Lena. »Sehr gut. Das beruhigt mich. Du solltest auch Jana, wenn sie aus ihrer Werkstatt wiederauftaucht, über diesen Geländewagen berichten. Vielleicht weiß sie ja mehr darüber. Oder Oliver.«

»Das mache ich auf jeden Fall.« Melissa blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich fürchte, ich muss dich jetzt hinauswerfen. Ich habe nämlich jetzt Feierabend und muss Andy von der Schule abholen.«

»Liebe Zeit, wie spät ist es denn schon?« Lena warf einen Blick auf ihre eigene Armbanduhr und stöhnte. »Ich habe mich natürlich mal wieder total verquatscht! Aber egal, das war ja wirklich wichtig. Die Software-Updates sind aber komplett aufgespielt und alle Systeme kontrolliert und auf dem bestmöglichen Stand. Eure Website schaue ich mir ein andermal an, okay?« Sie erhob sich und nahm ihre Tasche. Mit wenigen Griffen hatte sie einen Speicherstick daraus hervorgezogen und die Videoaufnahmen darauf überspielt, dann reichte sie ihn Melissa. »Hier, bitte sehr, für deine Anwältin. Ich mache mich dann mal wieder vom Acker. Wie gesagt, wenn irgendetwas sein sollte, weißt du, wie du mich erreichen kannst. Oder auch Lennart.« Sie drückte im Vorbeigehen noch einmal sanft Melissas Arm, dann durchquerte sie bereits den Laden.

Melissa eilte rasch hinterher und schloss ihr die Tür auf. »Danke«, sagte sie zum Abschied. »Für alles. Vor allem dafür, dass dir dieser Wagen aufgefallen ist. Ich hätte ihn bestimmt nicht bemerkt.«

»Das war reiner Zufall«, gab Lena zu. »Oder ein leichter Verfolgungswahn.« Sie grinste schief. »Wenn man in meinem Business arbeitet, hat man ja häufiger mit den seltsamsten Dingen zu tun. In neun von zehn Fällen ist alles nur Einbildung oder halb so schlimm, aber der eine, zehnte Fall …« Sie hob die Schultern. »Also, mach’s gut, ja?«

»Du auch.« Melissa sah Lena noch zu, wie sie in den orangefarbenen Ford-Kombi einstieg, der offenbar ebenfalls einer der Firmenwagen von Securifant war, und davonfuhr. Erst als er außer Sichtweite war, atmete sie einmal tief durch, bevor sie in den Laden zurückkehrte, um rasch den Kassenabschluss zu machen und ihren Feierabend einzuläuten.