16. Kapitel

Die Woche verlief arbeitsreich, denn am kommenden Wochenende würde der Weihnachtsmarkt beginnen, und dazu musste einiges vorbereitet werden. Da Jana immer noch jeden Tag die meiste Zeit in ihrer Werkstatt verbrachte, bekam Melissa sie nur selten zu Gesicht. Sie musste auch jeden Tag den Kassenabschluss allein machen, da Jana, Oliver und Janas Familie an den Abenden das große Verkaufszelt auf dem Weihnachtsmarkt aufbauten, einrichteten und dekorierten. Sie freute sich über die Verantwortung, die Jana ihr auf diese Weise übertrug; es machte ihr mittlerweile sehr viel Spaß, den Laden weitgehend selbstständig zu leiten. Da sie sich in den letzten Monaten viel mit dem Handwerk der Glasbläserei beschäftigt hatte, konnte sie der Kundschaft glücklicherweise auch immer besser beratend zur Seite stehen oder ihnen die Verfahren erklären, mit denen verschiedene Skulpturen oder Schmuckstücke hergestellt worden waren.

Sie war froh über die viele Arbeit, die sie von ihren Problemen ablenkte. Auf diese Weise musste sie nicht ständig abwechselnd an den bevorstehenden Gerichtstermin oder an Lennart denken. Nach Feierabend verlangte dann natürlich Andy ihre volle Aufmerksamkeit. Obgleich sie sich nicht sicher war, ob es richtig war, sprach sie mit ihm nicht über die neuesten Entwicklungen und die Anhörung vor Gericht. Auch über ihr Treffen mit ihrer Anwältin am gestrigen Donnerstag hatte sie ihm nichts erzählt. Sie hatte mit Jana vereinbart, den Laden für den Nachmittag geschlossen zu lassen, um sich mit Frau Dr. Bremer beraten zu können. Die Anwältin hatte sie sanft, aber bestimmt, auf die Möglichkeit vorbereitet, dass Matthias mit seiner Forderung nach Aufhebung des Kontaktverbots gute Chancen haben könnte, ihr jedoch gleichzeitig Mut gemacht und versprochen, die mögliche Überwachung durch Privatdetektive als Störung des Kontaktverbots geltend zu machen. Matthias’ Anwalt hatte ihr bereitwillig vorab Auskunft über die Therapie gegeben, die sein Mandant absolvierte, doch Melissa glaubte nicht an deren angeblichen Erfolg und fühlte sich von den Veränderungen, die ihr ins Haus standen, geradezu bedroht. Allein der Gedanke, nach so langer Zeit Matthias wieder gegenüberzustehen, löste Herzrasen und Magenschmerzen bei ihr aus. Beides war nicht leicht vor Andy zu verbergen, doch sie wollte ihn nicht in Angst und Schrecken versetzen, jetzt, da er gerade anfing, sich hier im Ort, in seiner Schule und in seinem neuen Zuhause wohlzufühlen und seine Scheu abzulegen. Es fiel ihr bereits schwer genug, selbst mit ihren Ängsten umzugehen, deshalb war sie sich nicht sicher, ob sie mit denen ihres Sohnes zusätzlich zurechtkommen würde.

Ihre Furcht vor den drohenden Entwicklungen war die eine Sache, die andere ihre Unsicherheit, wenn es um Lennart ging. Sosehr sie sich auch bemühte, es zu ignorieren, schlich er sich doch immer wieder unerwartet in ihre Gedanken, wenn sie nicht sehr achtgab. Dazu trug wohl auch bei, dass er sie jeden Abend gegen acht anrief, um mit ihr über den Tag zu reden. Sie wusste natürlich, dass er das tat, damit sie sich sicher fühlte. Zwar hatte sie nicht mehr den Eindruck, dass jemand sie zu Hause beobachtete, dennoch halfen ihr diese Gespräche, ihre Sicherheit wiederzugewinnen, die sie überhaupt dazu veranlasst hatte, in das Blockhaus zu ziehen. Es war einfach schön hier, und eines Tages, das hatte sie für sich beschlossen, würde sie genug Geld gespart haben, um sich an einem hübschen Ort ganz in der Nähe ein eigenes Haus in diesem Stil bauen zu lassen. Sie hatte sogar schon bei der Firma Wohnen in Holz, die von Justus’ jüngerem Bruder Patrick geführt wurde, Prospekte angefordert, um in etwa einschätzen zu können, wie lange sie wohl brauchen würde, um das Geld zusammenzukratzen. Da sie keinerlei Gegenwert zu bieten hatte, würde es wohl eine ganze Weile dauern, denn keine Bank würde ihr unter den gegebenen Umständen einen so hohen Kredit einräumen, und an ihre Großeltern würde sie sich deswegen nicht wenden. Vermutlich würden die sie sowieso mit dem Argument abkanzeln, sie könne nicht mit Geld umgehen und würde es zum Fenster hinauswerfen. Etwas anderes wäre es wahrscheinlich, wenn sie wieder heiraten würde, denn dann nähme sie erneut den Status ein, den ihre Großeltern von ihr erwarteten. Aber sie würde den Teufel tun und sich auf solch einen Deal einlassen. Wenn sie jemals wieder auf die Idee verfallen sollte zu heiraten, dann ganz sicher nicht wegen des Geldes. Aber sie hatte sich bereits so sehr in das Haus verliebt, dass sie entschlossen war, dieses Ziel eines Tages zu erreichen.

Als sie Lennart davon erzählt hatte, war er begeistert von der Idee gewesen und hatte sie darin bestärkt, an dieser Zukunftsvision festzuhalten. Überhaupt war er ein Mensch, den der Optimismus offenbar niemals verließ. Ganz gleich, um welches Thema es ging, das sie miteinander am Telefon besprachen, er fand stets einen Lichtblick, einen möglichen Ausweg, oder er drehte und wendete selbst unangenehme Dinge so lange hin und her, bis man ihnen etwas Positives abgewinnen konnte. Melissa bewunderte ihn dafür sehr, denn auch, wenn sie sich selbst nicht als Pessimistin sah, erkannte sie doch, dass sie sich an seiner Einstellung zum Leben noch einiges würde abschauen können.

In keinem ihrer Telefonate und auch nicht in den Kurznachrichten, die sie hin und wieder austauschten, ging er jemals auf den Status ihrer Beziehung oder Freundschaft ein. Dieses Thema umschiffte er stets gekonnt. Von sich aus traute Melissa sich nicht, ihn darauf anzusprechen, da sie nach wie vor nicht wusste, wie sie zu ihm stand. Das ahnte er vermutlich, deshalb ließ er sie in dieser Hinsicht gänzlich in Ruhe – oder, wie sie argwöhnte, in ihrem eigenen Saft schmoren.

Einerseits war sie ihm dankbar dafür, dass er sie in keiner Weise bedrängte, andererseits machte sie diese Ungewissheit verrückt. Sie verstanden sich hervorragend, und natürlich freute sie sich jeden Abend auf seinen Anruf; trotzdem schaffte sie es nicht, den metaphorischen Ball aus ihrer Spielfeldhälfte hinauszukatapultieren und den nächsten Schritt zu tun. Sie war bescheuert. Heute war bereits Freitag, und sie war mit ihrer Entscheidung, wie es weitergehen sollte, noch nicht einen Schritt weitergekommen. Verdammt noch mal, sie hatte sogar vorgestern die Symptome gegoogelt, die sie in Lennarts Nähe stets verspürte – das Herzklopfen, das Flattern in ihrer Magengrube, das Kribbeln, die Gänsehaut, wenn er sie kurz berührte oder an ihren Haaren zupfte, all das. Die Suchmaschine hatte behauptet, all diese Empfindungen gehörten entweder zu einer verschleppten Magen-Darm-Grippe mit Schüttelfrost und Herzrhythmusstörungen oder aber wären ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie verliebt sei. Aber war sie das wirklich? Verliebt? Sie hatte einfach kein Vergleichsmaterial, denn in Matthias war sie ja nie verliebt gewesen. Die Gefühle, die sie ihm entgegengebracht hatte, zumindest ganz zu Anfang, waren vollkommen anderer Art gewesen; zwar auch in gewisser Weise auf- und anregend, aber nicht so fürchterlich verwirrend und schwindelerregend. Manchmal hatte sie das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, in der sie festgeschnallt war und aus der es kein Entrinnen gab. Doch was, wenn das alles nur Auswirkungen ihrer Angst vor Matthias und dem Gerichtstermin waren und sie sich bloß an Lennart klammerte, weil er ihr Schutz und Ablenkung vermittelte? Wäre es nicht ihm gegenüber schrecklich unfair, wenn sie so tat, als wäre sie in ihn verliebt, nur um dann später festzustellen, dass es doch nicht der Fall war und sie ihn nur ausgenutzt hatte?

Wie in drei Teufels Namen sollte sie jemals herausfinden, was sie wirklich empfand und ob ihre Gefühle echt waren oder nur Einbildung? Mittlerweile kannte sie Lennart genug, um zu wissen, was er ihr raten würde. Probieren geht über studieren, würde er grinsend sagen. Wenn du es nicht ausprobierst, wirst du es nicht herausfinden. Doch genau das war der Knackpunkt. Durfte sie so leichtsinnig sein, es einfach zu versuchen und damit Gefahr zu laufen, ihn zu verletzen? Sie saß ganz eindeutig im Schlamassel.

Inzwischen war es kurz vor acht; Andy war glücklicherweise längst eingeschlafen. Sie hatte befürchtet, dass es heute länger dauern könnte, ihn zur Ruhe zu bringen, da sie ihn für den morgigen Nachmittag zu diesem Selbstverteidigungskurs für Kinder angemeldet hatte und er seither von nichts anderem mehr redete. Anscheinend hatte ihn aber das Spiel-Date, das er nach der Schule noch mit seinem Kumpel David und zwei weiteren Jungen aus seiner Klasse gehabt hatte, ordentlich angestrengt. Davids Mutter hatte ihr erzählt, dass die Jungs bis nach Einbruch der Dunkelheit mit ihren Schlitten auf einer großen Wiese am Ortsrand getobt hatten. Am Rand dieser Wiese gab es auch einen künstlich angelegten Rodelberg, Treffpunkt für sämtliche Kinder der Stadt, da es in den letzten beiden Nächten ein wenig geschneit hatte. Zwar war die Schneedecke nicht viel dicker als vielleicht drei bis vier Zentimeter, aber das störte die Kids überhaupt nicht. Inzwischen war von dem Schnee auf der Wiese nur noch eine matschige, braune Brühe geblieben, das hatte Melissa auf dem Heimweg gesehen, nachdem sie Andy von Davids Elternhaus abgeholt hatte.

Am Tag waren die Temperaturen ganz leicht über null gestiegen, doch pünktlich vor dem ersten Advent war eine neue Kaltfront gemeldet worden, die zwar keinen Neuschnee bringen würde, dafür aber nachts Nebel und gleichzeitig Frost, sodass mit Raureif zu rechnen war.

Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, bis Lennart anrief. Heute war Melissa besonders unruhig, in ihrer Magengrube machte sich ein flaues Gefühl breit. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, ob sie tatsächlich am Wochenende Zeit miteinander verbringen und das Haus schmücken würden. Auch darüber hatte Lennart kein Wort fallen lassen. Ob er es sich anders überlegt hatte? Nein, wahrscheinlich nicht. Er gab ihr nur wieder Zeit, wie immer. Vielleicht sollte sie ihn heute darauf ansprechen und das am besten sofort, wenn er anrief. Allein der Gedanke daran verursachte ihr heftiges Magenflattern, sodass sie schließlich aufsprang, das alte Babyphone aus dem Wandschrank unter der Treppe holte, es leise in Andys Zimmer aufstellte und den Empfänger an ihrer Hosentasche festklipste. Dann warf sie sich den neuen dunkelroten Steppmantel über, den sie rein zufällig am Mittwoch im Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts zwei Häuser von der Sozialstation entfernt als Sonderangebot entdeckt hatte, nachdem sie Andy in der Station für den Selbstverteidigungskurs angemeldet hatte. Erst hatte sie dort anrufen wollen, doch dann war sie lieber persönlich hingegangen, um einen Blick auf die Leute zu werfen, die dort arbeiteten. Sie hatte sogar Glück gehabt und sowohl den Leiter der Station, Arthur Mondoli, angetroffen als auch dessen Sohn Toni, der den Kurs leiten würde. Beide Männer waren ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Arthur Mondoli war halb Senegalese, halb Italiener und von einer unerschütterlichen, väterlichen Ruhe, die er wohl auch brauchte, um sich Tag für Tag mit der Vielzahl an verschiedenen Menschen befassen zu können, die in der Sozialstation eine Anlaufstelle, ein zweites Zuhause, Zuflucht und Unterstützung fanden. Vielleicht fühlte sie sich diesen Menschen auch besonders verbunden, weil sie selbst eine Zeit lang auf ähnliche Hilfe angewiesen gewesen war und nicht viel gefehlt hätte, dass sie mit Andy dauerhaft in die Mühlen der Sozialhilfe geraten wäre. Toni war ebenfalls ein sympathischer und gutaussehender Mann Ende zwanzig, hochgewachsen, sportlich und vom Wesen her seinem Vater sehr ähnlich. Bei ihrem Gespräch hatte Melissa erfahren, dass Toni Mondoli unter anderem Psychologie mit Schwerpunkt Sportpsychologie studiert hatte und jetzt seinen Doktor machen wollte. Er arbeitete bereits regelmäßig in der Sozialstation mit, die sein Vater gegründet hatte, und sie nahm an, dass er eines Tages in seine Fußstapfen treten würde. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen machte ihm laut seiner Aussage besonders viel Spaß, und Melissa würde sich am Samstag selbst ein Bild davon machen können, da sie bei dem Kurs zusehen durfte.

Sie schlang sich den rot und grau gestreiften Wollschal um den Hals, den sie im vergangenen Winter selbst gestrickt hatte und der hervorragend zur Farbe des Mantels passte, steckte Handy und Schlüssel ein sowie eine Taschenlampe und verließ das Haus. Kurz lauschte sie auf ungewöhnliche Geräusche, doch an diesem Abend war nicht einmal ein leises Rascheln des Windes zu vernehmen. Die Umgebung lag in völliger Stille da; lediglich in weiter Ferne hörte sie ganz kurz ein Auto vorbeifahren. Sie blieb auf der obersten Stufe vor der Haustür stehen und sah sich im Licht der Außenbeleuchtung um. Da alle Jalousien am Haus heruntergelassen waren, drang von dort kaum Licht nach draußen außer durch die Haustür, deren Sichtfenster sie nicht verklebt hatte, wie Lennart es ihr vorgeschlagen hatte. Stattdessen hängte sie manchmal ein Tuch davor und klemmte es oben in der Tür ein, wenn sie wirklich auf Nummer sicher gehen wollte, dass niemand hereinschauen konnte. Vielleicht hatte sie aber den heimlichen Beobachter tatsächlich ganz verscheucht; sie hoffte es zumindest sehr. Der Gedanke, von Matthias überwacht zu werden, gefiel ihr überhaupt nicht, und das würde sie ihm beim Gerichtstermin auf den Kopf zusagen. Bestimmt würde es auch der Richter oder die Richterin nicht gerade positiv aufnehmen.

Ehe der Gedanke an die Anhörung ihr erneutes Unwohlsein verursachen konnte, drängte sie ihn rasch beiseite, was jedoch nur dazu führte, dass sie Lennarts Gesicht vor ihrem inneren Auge aufsteigen sah. Sie hatte sogar schon ein- oder zweimal von ihm geträumt! Was genau, wusste sie nicht, nur, dass sie immer aufgewacht war, kurz bevor er sie küssen konnte. Vermutlich sagte das eine ganze Menge über ihren Gemütszustand aus. Sie hielt ihn sogar im Schlaf davon ab, ihr zu nahe zu kommen.

Verärgert über diese Erkenntnis, stieß sie geräuschvoll die Luft aus, schaltete die Taschenlampe ein und durchquerte die Zufahrt bis zum Fahrweg. Dort entschied sie, den Weg ein Stück entlangzugehen, vielleicht hundert oder hundertfünfzig Meter, mehr nicht. Sie brauchte ja nur ein bisschen frische Luft, um sich auf das Telefonat mit Lennart vorzubereiten. Es war erstaunlich, wie viel Mut sie zusammenkratzen musste, um ihn auf ein Treffen am Wochenende anzusprechen. Das lag sicherlich nicht nur an ihren schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit – sie war schlicht und ergreifend ein Angsthase! Schüchtern war wohl der korrekte Ausdruck; allzu selbstbewusst war sie noch nie gewesen. Deshalb hatte Matthias damals ja auch so leichtes Spiel mit ihr gehabt.

Wenn damit ein für alle Mal Schluss sein sollte, dann musste sie heute die Initiative ergreifen und mit Lennart über ihre Pläne für das Wochenende reden. Allein dieser Gedanke veranlasste ihr Herz, schneller zu pochen. Liebe Zeit, das war doch nun wirklich keine große Sache! Leute verabredeten sich jeden Tag miteinander, und es war ja auch nicht so, dass sie ihm gleich ein unmoralisches Angebot unterbreiten wollte. Es ging nur darum, gemeinsam Haus und Garten weihnachtlich zu schmücken. Vielleicht auch, wenn er das wirklich ernst gemeint hatte, ein paar Fensterbilder zu basteln. Dinge, die gute Freunde miteinander taten. Nicht mehr, nicht weniger. Vielleicht war sie auch nur so aufgeregt, weil sie sich insgeheim bereits darauf freute und Angst hatte, er könnte es sich doch anders überlegt haben. Sie war ja nun auch wirklich nicht die interessanteste und spannendste aller Frauen. Ein Mann wie Lennart konnte doch ganz sicher viel aufregendere Exemplare ihrer Gattung finden. Doch er hatte ihr ganz deutlich signalisiert, dass er Interesse an ihr hatte, und, ja, zumindest eines war ihr bewusst: Interesse hatte sie auch an ihm.

Ehe sie sichs versah, war sie bereits weit mehr als hundert Meter gelaufen und erreichte die Baumgrenze, an der der geschotterte Weg vom Feriendorf aus in den Wald abbog. Für einen Moment blieb sie ganz still stehen und betrachtete die in einiger Entfernung vor ihr liegende Ferienhaussiedlung, die sich malerisch rund um einen großen See erstreckte, in dem man im Sommer baden und auf dem man auch etwas Wassersport ausüben und Tretboot fahren konnte. Ein wenig seitlich von der Siedlung in Richtung Resort gab es auch noch einen großen, modernen Campingplatz, auf dem aber natürlich um diese Jahreszeit nicht allzu viel los war, sah man einmal von einigen wenigen Dauercampern ab.

Die meisten Ferienhäuser waren um diese Jahreszeit nicht vermietet. Nur in einigen wenigen brannte Licht, doch irgendein guter Geist – oder vielmehr wahrscheinlich eine ganze Armee von guten Geistern – hatte in den letzten Tagen dafür gesorgt, dass sämtliche Ferienhäuser und auch die Büsche und Bäume, das Gebäude mit dem Restaurant, der Rezeption und dem kleinen Lebensmittelladen samt Kiosk, das Gebäude der Bootsvermietung sowie der Anlegesteg und das Ufer des Sees mit einer großen Anzahl von Lichterketten und weihnachtlichen Figuren geschmückt worden waren. Sie wusste, dass die Beleuchtung um Punkt elf Uhr erlöschen würde, doch bis dahin verwandelte sie die Ferienhaussiedlung in eine märchenhafte Winterlandschaft, und die dünne Schneedecke, die bis vor Kurzem noch alles geziert hatte, hatte den Eindruck noch verstärkt. Inzwischen gab es wegen des Tauwetters bereits einige große Lücken in dem ehemals reinen Weiß. Melissa überkam ein seltsames Gefühl der Vergänglichkeit, das jedoch rasch wieder verflog. Der Winter war noch gar nicht richtig angebrochen, und bestimmt würde es noch mehr Schnee geben. Auch der Raureif, der sich nach einer neblig-frostigen Nacht bildete, würde zauberhaft aussehen, das hatte sie bereits im vergangenen Winter erlebt, wenn sie mit Andy spazieren gegangen war.

Ein Anflug besagten Nebels schien sich bereits zu bilden, denn als sie erneut ihren Blick über die Ferienhäuser wandern ließ, bemerkte sie das leichte Wabern sich senkender Nebelschwaden. Der Himmel war diesig, die Temperaturen hatten bereits den Gefrierpunkt erreicht, dessen war sie sich sicher. Ihre Nase wurde kalt. Unwillkürlich rieb sie darüber. Ob sie es wohl schaffen würden, aus dem Blockhaus und dem umgebenden Grundstück ein ähnlich hübsches Winterwunderland zu zaubern? Konnte das so schwierig sein? Immerhin besaß sie jetzt eine unglaubliche Menge an Lichterketten und Dekoartikeln. Sie wollte dieses Weihnachtsfest für Andy so besonders gestalten wie nur irgend möglich. Es würde das allererste für ihn sein, das er in einem richtigen, echten Zuhause verbringen konnte, ohne größere Sorgen und mit der Aussicht auf viele weitere schöne Weihnachtsfeste. Zumindest hoffte sie, dass es ihr gelingen würde, diesen Plan umzusetzen. Wenn sie jemals einen Weihnachtswunsch gehabt hatte, dann war es dieser. Für einen Moment legte sie den Kopf in den Nacken und blickte zum nächtlich dunklen Himmel hinauf, an dem sie hinter den Nebelschwaden noch Sterne erahnen konnte.

Genau genommen hatte sie bereits im vergangenen Jahr ein wunderschönes Weihnachtsfest mit Andy erlebt, denn Jana hatte sie beide zu ihrem eigenen Familienfest eingeladen. Das war besonders für ihren Sohn ein ganz besonderes Erlebnis gewesen. Aber auch Melissa hatte es genossen, zum ersten Mal im Leben echte Freundschaft erleben zu dürfen. Natürlich würde Jana sie auch in diesem Jahr einladen, vielleicht am ersten Weihnachtsfeiertag. Doch Melissa wollte den Heiligen Abend diesmal selbst gestalten mit allem, was zu einem heimeligen Weihnachtsabend gehörte. Sie hatte sich auch schon Rezepte herausgesucht, konnte sich jedoch nicht entscheiden, ob sie bloß Kartoffelsalat mit Würstchen machen sollte oder einen Festtagsbraten. Ihre Mutter hatte zu Weihnachten stets einen Gänsebraten zubereitet, der, das musste Melissa ihr neidlos zugestehen, unschlagbar gut geschmeckt hatte. Allerdings hatte die Tatsache, dass sowohl die Eltern ihrer Mutter als auch die ihres Vaters alljährlich zu Weihnachten zu Besuch gewesen waren, diesem lukullischen Genuss einen bitteren Beigeschmack verliehen.

Melissa konnte ihre Großeltern nicht ausstehen. Sie waren engstirnig, verknöchert, womöglich sogar rassistisch und auf jeden Fall hinsichtlich ihrer Weltsicht die verschärfte Variante von Melissas Eltern. Ihr Vater hatte, dessen war sie sich mittlerweile bewusst geworden, gar nichts anderes werden können als der gefühllose Despot, der er gewesen war. Auch Melissas Mutter war ganz eindeutig das devote Produkt ihrer Erziehung. Sie hatte sich in den Jahren ihrer Ehe niemals offen gegen ihren Mann gestellt oder sich gegen seine verbalen Übergriffe zur Wehr gesetzt. Nach seinem Tod hatte sie einfach so weitergemacht wie bisher, hatte also praktisch sein Erbe fortgeführt und Melissa mit viel Strenge und wenig Empathie aufgezogen. Melissa wusste natürlich, dass ihre Mutter sie trotz allem liebte. Sie wollte ganz sicher immer das Beste für ihr Kind, allerdings hatte sie nie begriffen oder vielleicht auch nie verstehen wollen, was wirklich das Beste für Melissa gewesen wäre. Dabei hatte sicherlich auch eine Rolle gespielt, dass sie bis zum Tod ihres Mannes immer Hausfrau gewesen war, da sie bereits mit achtzehn Jahren geheiratet hatte und Melissa kurz vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr zur Welt gebracht hatte. Weitere Kinder waren dem Ehepaar nicht vergönnt gewesen; Melissa war sich nicht sicher, ob sie darüber glücklich sein oder diesen Umstand bedauern sollte. Einerseits wünschte sie keinem Menschen das schwierige Zuhause, das sie als Kind hatte erdulden müssen, andererseits wäre es vielleicht einfacher gewesen, wenn sie Verbündete gehabt hätte.

Ihre Mutter war also nie selbstständig gewesen, sondern von ihrem Elternhaus gleich bei ihrem Ehemann eingezogen, war Mutter geworden und hatte getan, was von ihr erwartet worden war: Sie hatte sich untergeordnet und nach außen hin die perfekte Ehefrau und Mutter gespielt.

Als in der Ferne erneut ein Auto vorbeifuhr, wurde Melissa aus ihren Gedanken gerissen. Sie richtete ihren Blick wieder geradeaus und erschrak, als ihr auffiel, dass sie schon sehr lange hier gestanden haben musste. Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass es bereits Viertel nach acht war. Warum hatte Lennart noch nicht angerufen? Normalerweise tat er das sehr pünktlich um acht Uhr. Oder hatte er gestern etwas davon erwähnt, dass er nicht anrufen würde? Nein, er hatte sie sogar gefragt! »Telefonieren wir morgen?« waren seine Abschiedsworte gewesen, und sie hatte sie bejaht.

Telefonieren wir morgen … Sonst hatte er immer gesagt: »Bis morgen, ich rufe dich an.« Doch diesmal hatte er gefragt … Sie knabberte an ihrer Unterlippe. Erwartete er, dass sie ihn anrief? Nachdem er sich mehrere Tage hintereinander bei ihr gemeldet hatte, war das vermutlich ganz normal und auch keine große Sache. Unschlüssig starrte sie auf ihr Handy und spürte, wie ihr Puls sich rapide beschleunigte.

***

Unruhig ging Lennart neben seinem Couchtisch auf und ab, auf dem er sein Handy abgelegt hatte. Es war bereits Viertel nach acht, doch Melissa hatte sich noch nicht gemeldet. Dabei hatte er ganz sicher angenommen, dass sie seinen Wink mit dem Scheunentor verstanden hatte. Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, einfach das Handy zu nehmen und ihre Nummer zu wählen, doch damit würde er ihr immer und immer wieder die Entscheidung abnehmen. Er wusste, dass sie mit sich kämpfte, jedoch nicht genau, weshalb. Dass sie nach ihren schlimmen Erfahrungen vorsichtig war und Angst hatte, sich auf eine neue Beziehung einzulassen, verstand er sehr wohl, doch inzwischen hatte er den Eindruck gewonnen, dass noch etwas anderes sie zurückhielt. In vielerlei Hinsicht kam sie ihm vor wie ein junges, unerfahrenes Mädchen, dabei war sie bereits sechsundzwanzig. Sie war verheiratet gewesen, geschieden worden, und was sich zwischen diesen beiden Ereignissen abgespielt hatte, wollte er sich gar nicht so genau vorstellen, weil es ihn in helle Wut versetzte, dass ein Mann seine Frau so scheußlich behandeln konnte.

Er hatte ihr die Chance geben wollen, aktiv zu werden und die Initiative zu ergreifen. Da sie nun schon so oft telefoniert und auch Kurznachrichten ausgetauscht hatten, war er davon ausgegangen, dass ihr dies einigermaßen leichtfallen würde. Doch sein Smartphone blieb stumm. Hatte er sie vielleicht doch zu sehr unter Druck gesetzt? Und falls dem so sein sollte, was würde das bedeuten? Würde sie jemals bereit sein, sich auf mehr als eine Freundschaft einzulassen? Würde er damit zurechtkommen? Er würde es müssen, keine Frage, doch inzwischen drehten sich seine Gedanken beinahe rund um die Uhr um Melissa und Andy. Er konnte sie gar nicht mehr abschalten. Wie das innerhalb weniger Tage hatte passieren können, war ihm unerklärlich. Diese Gefühle waren einfach über ihn hereingebrochen, und jetzt wollte er die beiden nicht mehr aufgeben – auch wenn es im Augenblick so aussah, als ob seine Geduld auf eine mehr als harte Probe gestellt würde.

In der Vergangenheit hatte er sich sicherlich schon hundertmal vorgestellt, wie seine Zukunft aussehen würde. Dass er sich in eine Frau verlieben würde, stand dabei außer Frage, denn er war einfach davon ausgegangen, dass es da draußen irgendwo den passenden Deckel für seinen Topf gab. In seiner Fantasie hätten sie viel Zeit miteinander verbracht, ihre Beziehung vertieft, irgendwann geheiratet und eine Familie gegründet … Im Leben hatte er nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet die einzige Frau auf der Welt, die mehr Dornen besaß als die sprichwörtliche Rose, ihm allein durch ihre Existenz das Herz rauben würde. Ganz zu schweigen von dem kleinen Jungen, den er ebenfalls nahezu auf den ersten Blick ins Herz geschlossen hatte.

Natürlich hatte sein Beschützerinstinkt dabei eine nicht geringe Rolle gespielt, doch selbst, wenn er ihn außer Acht ließ, war ihm doch nur allzu bewusst, was die beständig startenden und landenden Flugzeuge in seinem Bauch – ein paar Hubschrauber mit ärgerlich heftig wirbelnden Rotoren waren offensichtlich auch mit dabei – zu bedeuten hatten.

Noch einmal warf er einen Blick auf sein Smartphone. Konnte etwas Melissa vielleicht vom Telefonieren abgehalten haben? Sofort stellten sich ihm die Nackenhärchen auf. »Wehe!«, knurrte er vor sich hin und hoffte gleichzeitig aus tiefstem Herzen, dass ihr nichts geschehen war.

Wie bitte? Sissy, die sich auf einem Sessel zusammengerollt hatte, hob den Kopf. Hast du mit mir geredet? Nein, offenbar nicht. Sag mal, Herrchen, was ist denn überhaupt los mit dir? Du machst mich ganz nervös mit deinem Hin-und-her-Gerenne! Warum setzt du dich nicht einfach hin? Wenn ich wie ein aufgescheuchtes Huhn herumsause, verlangst du das doch auch immer von mir. Dabei habe ich selbstverständlich für solch ein Verhalten immer ausgesprochen gute Gründe. Aber das sind Hundegründe; davon verstehst du nichts. Wuff.

Lennart blieb stehen und blickte irritiert zu Sissy, die einen leisen Laut des Unwillens ausgestoßen hatte. »Nanu, was hast du denn?« Dann lachte er trocken. »Ich gehe dir auf den Wecker, was?«

Wenn du mich so fragst: Ja, ein bisschen schon.

»Tut mir leid, Sissy, aber ich weiß gerade nicht, was ich tun soll. Ich hatte gehofft, mit Melissa schon wenigstens einen oder zwei Schritte weiter zu sein, aber es wird wohl doch noch viel schwieriger werden als gedacht, sie für mich zu gewinnen. Falls das überhaupt möglich ist. Dabei hat sie mich doch schon einmal angerufen, aber das war wohl etwas anderes, da hatte sie große Angst und war ziemlich durch den Wind. Aber auch da ist es ihr sehr schwergefallen, das habe ich gemerkt.«

Oh, Herrchen, warum klingst du denn jetzt auf einmal so traurig? Sissy sprang vom Sessel, tappte auf Lennart zu und stupste ihn sanft mit der Nase an. Das gefällt mir überhaupt nicht. Und warum hat deine traurige Stimmung etwas mit Melissa zu tun? Sie ist doch gar nicht hier. Versteh einer die Menschen! Ich will nicht, dass du traurig bist, Herrchen. Kann ich irgendetwas tun, um dich aufzuheitern?

Seufzend ließ Lennart sich auf den Sessel sinken, zog Sissy zu sich heran und kraulte sie ausgiebig hinter den Ohren. »Du bist ein süßes Schmusetier, nicht wahr?«

Aber sicher doch! Hach, das gefällt mir gut, kraule ruhig noch ein bisschen weiter. Da halte ich gerne still.

»Ich wünschte, Menschen wären so einfach zu verstehen wie Hunde«, murmelte Lennart vor sich hin. »Weißt du, ich habe Melissa richtig gern.«

Das ist doch schön. Mir geht es ebenso. Wo ist sie? Besuchen wir sie bald mal wieder?

»Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass sie mich ebenfalls mag. Aber sie kann einfach nicht über ihren Schatten springen. Wahrscheinlich ist das, was sie mit ihrem Exmann erlebt hat, noch viel schlimmer, als ich gedacht habe. Wer weiß, was dieser Arsch ihr alles angetan hat.« Kurz vergrub er sein Gesicht im kurzen Fell an Sissys Nacken. »Verdammt, ich könnte die Wände hochgehen! Das ist doch albern, oder? Ich könnte sie einfach anrufen, aber ich weiß nicht, ob das richtig wäre. Soll ich ihr nachlaufen? Fühlt sie sich dann zu sehr bedrängt? Und wie lächerlich mache ich mich damit womöglich?«

Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst, Herrchen. Aber ich höre, dass es dir nicht gut geht, das macht mich ebenfalls traurig. Komm, wir kuscheln ein bisschen, dann geht es dir bestimmt gleich wieder gut. Sissy fiepte kurz und kletterte mit den Vorderpfoten auf seinen Schoß, dann vergrub sie ihr Gesicht unter seinem Arm und schnaufte und prustete ein bisschen.

Wider Willen musste Lennart lachen. »Schmusetier ist gar kein Ausdruck, was? Und eine verrückte Nudel obendrein.« Er zog die Hündin ganz auf seinen Schoß, und sie legte ihm wie in einer Umarmung die Vorderpfoten auf die Schultern. Sanft streichelte er ihr über den Rücken und ließ sich gefallen, dass sie ihm über Wangen und Ohr leckte. In diesem Moment gab sein Smartphone auf dem Tisch den Signalton von sich, den er für Melissa eingestellt hatte: Nothing else matters von Metallica.

Sein Herz machte einen unanständigen Satz. Hastig und wegen seines übergroßen Schoßhundes reichlich umständlich angelte er nach dem Mobiltelefon und nahm das Gespräch an. »Guten Abend, Melissa«, sagte er etwas atemlos. »Ich war gerade kurz davor, mich zusammen mit Sissy ins Auto zu werfen und zu dir zu fahren, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Was?« Melissa klang völlig außer Atem.

Lennart ließ sich wieder zurück in den Sessel sinken und lächelte, als Sissy sich gegen ihn lehnte und ihm den Kopf auf die Schulter legte. »Bist du einen Marathon gelaufen?«

»Ja. Nein.« Melissa hüstelte. »Ich bin tatsächlich gerannt, aber nur den Weg rauf bis zum Haus. Ich war noch ein bisschen spazieren.«

»Um diese Zeit?« Überrascht runzelte Lennart die Stirn.

»Ich brauchte einfach frische Luft.« Er konnte hören, wie Melissa tief durchatmete. »Ich hatte das Babyphon eingeschaltet, aber anscheinend war der Akku im Empfänger leer. Das wusste ich allerdings nicht und auch nicht, dass das Ding, kurz bevor es sich ausschaltet, so einen Radau macht. Es fing plötzlich an wie wild zu piepsen, und ich dachte schon, mit Andy wäre irgendetwas. Deshalb bin ich so gerannt. Als ich zu Hause ankam, hat das Piepsen aufgehört und Andy hat natürlich tief und fest geschlafen und gar nichts davon bemerkt, dass ich draußen war.« Sie lachte kläglich. »Blöd, oder?«

»Ich dachte, du hättest mich versetzt«, gab Lennart unumwunden zu.

»Dito.« Melissa seufzte. »Ich glaube, ich hatte ein ganz schönes Brett vor dem Kopf. Du hast mich in den letzten Tagen mit deinen regelmäßigen Anrufen um acht Uhr zu sehr verwöhnt, schätze ich. Ich bin fest davon ausgegangen, dass du heute ebenfalls anrufen würdest. Erst, als ich draußen in der Gegend herumgestanden habe, ist mir aufgefallen, dass wir gestern wohl etwas anderes ausgemacht haben, oder? Ich bin mir nicht ganz sicher.«

Eines der Flugzeuge in seinem Bauch setzte zum Start an und wäre beinahe mit einem der Helikopter zusammengestoßen. »Ich habe dich also verwöhnt?«, hakte er nach, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Es entstand eine winzige Pause, in der er geradezu durch das Telefon spüren konnte, wie sie von Verlegenheit ergriffen wurde. »Gewissermaßen. Ich habe mich einfach total daran gewöhnt, dass du anrufst.«

Er lächelte vor sich hin und spürte der Erleichterung nach, die ihn überfiel. »Dagegen ist ja grundsätzlich gar nichts einzuwenden. Ich würde dich gerne ein bisschen verwöhnen.« Atemlos wartete er auf ihre Reaktion.

Für einen langen Moment sagte sie gar nichts, dann lachte sie nervös. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich darauf jetzt antworten soll.«

Lennarts Lächeln vertiefte sich noch. Sachte streichelte er über Sissys Rücken, woraufhin sie ein unüberhörbares Schnaufen des Wohlgefallens ausstieß.

»Was war das denn?« Melissa kicherte. »Hast du eine Dampflok auf der Schulter sitzen?«

Lennart lachte auf. »Nicht ganz, aber die Geräuschkulisse ist ganz ähnlich. Ich verwöhne gerade das andere wichtige weibliche Wesen in meinem Leben mit Streicheleinheiten. Ich nehme doch an, dass du bei einer solchen Behandlung nicht ganz so undamenhafte Geräusche von dir geben würdest?«

Melissa hustete. »Ich glaube nicht.« Unvermittelt kicherte sie wieder los. »Nein, bestimmt nicht.«

»Bist du sicher?« Lennart richtete sich ein wenig auf, achtete jedoch darauf, dass Sissy, die schwer wie ein Sack auf ihm hing, es weiterhin bequem hatte. »Vielleicht sollte ich das bei Gelegenheit sicherheitshalber ganz genau überprüfen.«

Melissa räusperte sich. »Das klang jetzt irgendwie nicht ganz jugendfrei.«

»Das sollte es auch nicht.« Er grinste breit. »Bei der Gelegenheit könntest du auch gleich testen, ob die Geräuschkulisse, die in solchen Situationen von mir ausgeht, deinen Vorstellungen entspricht.«

»Meinen Vorstellungen?«

»Ich kann zum Beispiel knurren wie ein Wolf.«

Wuff, das kann ich bestätigen. Als ich noch ganz klein war, hat Herrchen mich manchmal genauso angeknurrt wie meine Mutter, wenn ich etwas getan habe, was ihm nicht passte.

Melissa lachte wieder, doch diesmal klang es einmal mehr reichlich nervös. »Ist das so?«

»Wie du gehört hast, hat sogar Sissy mir gerade zugestimmt. Allerdings ist sie noch längst nicht volljährig und kennt deshalb nur mein elterliches Knurren und nicht dasjenige, dass ich eben gemeint habe.«

Melissa schluckte hörbar. »Du knurrst also.«

»Zuweilen.« Mittlerweile hatte sich eine ganze Flugzeugflotte in seinem Bauch zum Formationsflug zusammengefunden; ein Gefühl, das er ausgesprochen genoss. »Lass mich überlegen, was ich sonst noch an Geräuschen in petto habe.«

»Ähm …«

Er wurde wieder etwas ernster. »Keine Sorge, das war ein Scherz.« Nach einem Atemzug fügte er hinzu: »Ein paar Geheimnisse behalte ich vorläufig für mich. Wenn du möchtest, findest du sie früher oder später heraus.« Wieder wartete er gespannt auf ihre Antwort.

Melissa überraschte ihn mit einem Themenwechsel. »Andy hat morgen Nachmittag gegen drei einen Kurs in Selbstverteidigung. Den bietet die Sozialstation an.«

Lennart kämpfte die Bilder nieder, die sich vor seinem inneren Auge manifestiert hatten. »Ach ja, davon hattest du neulich gesprochen.«

»Ja, also …« Wieder hörte er sie atmen. »Danach wollte ich gerne mit ihm anfangen, das Haus zu schmücken. Aber bis wir wieder zu Hause sind, ist es bestimmt kurz vor fünf und schon dunkel.«

»Und? Ist das ein Problem?« Sachte spielte Lennart an Sissys Ohren herum, weil er wusste, dass sie das besonders gernhatte. Prompt schnaufte sie wieder genussvoll.

»Ich weiß nicht. Du hattest ja neulich gesagt, dass du uns dabei helfen willst. Aber wenn du etwas anderes vorhast, ist es auch nicht schlimm.«

Die Flugzeuge verwandelten sich allesamt in Helikopter, deren Rotoren sein Innenleben heftig aufwirbelten. »Ich habe nichts anderes vor. Möchtest du denn gerne, dass ich euch helfe?«

»Ich, äh, ja, schon.« Er hörte Melissa seufzen. »Klinge ich so bescheuert, wie ich mich fühle?«

Lennart lächelte. »Nicht bescheuert, nur nervös. Dazu besteht aber kein Anlass, denn du hast mich ja bereits an der Angel.«

Melissa stieß einen erschrockenen Laut aus. »Ich wollte nicht … Ich habe nicht …«

»Mich geangelt? Immer mit der Ruhe.« Lennart hätte beinahe gelacht, verkniff es sich aber, weil er das Gefühl hatte, dass ein ruhiger, ernsthafter Ton ihr im Augenblick mehr helfen würde. »Ich sage nur, wie es ist. Wenn ich jetzt bei dir wäre, würde ich dich noch einmal zu einem Tanz auffordern. Vielleicht solltest du das jetzt noch einmal tun. Das hat beim letzten Mal doch sehr gut gegen deine Nervosität geholfen, oder?«

»Ja, schon, aber das war doch etwas anderes. Ich kann ja wohl kaum hier herumstehen und mit mir alleine tanzen.«

»Warum nicht? Abgesehen davon, dass man im Stehen nicht tanzt. Dazu muss man sich schon ein wenig bewegen, außer es wäre ein Steh-Blues.«

»Das wäre doch ganz schön albern, ganz zu schweigen davon, dass es mir im Augenblick …« Sie stockte. »Was bitte?«

»Du kannst jederzeit mit dir selbst tanzen. Das tue ich auch ab und an, wenn sonst niemand da ist.«

Hey, was ist denn mit mir? Wau? Bin ich etwa niemand?

Lennart lachte. »Schon gut, Sissy, du hast ja recht. Mit dir habe ich auch schon getanzt.«

»Wie tanzt man denn mit einem Hund?« Melissa klang verblüfft.

»Auch das kann ich dir bei Gelegenheit einmal demonstrieren«, versprach Lennart. »Gesetzt den Fall, du lässt mich. Also darf ich euch morgen beim Schmücken des Hauses helfen? Auch wenn es schon dunkel ist? Ich nehme doch an, dass das Licht im Haus funktioniert.«

»Ja, natürlich.« Sie stockte erneut, dann kicherte sie. »Also ja, natürlich würde ich mich freuen, wenn du uns hilfst. Andy bestimmt auch, vor allem, wenn du Sissy mitbringst.«

»Ohne sie gehe ich nirgendwohin.«

Das ist Musik in meinen Ohren. Wuff. Ohne mein Herrchen gehe ich ebenfalls nirgendwohin.

»Und selbstverständlich funktioniert das Licht bei uns«, fuhr Melissa immer noch erheitert fort. »Ich dachte bloß, weil du neulich meintest, dass wir auch draußen alles schmücken könnten. Das hatte ich ja auch vor, aber im Dunkeln wird das wahrscheinlich nicht so sinnvoll sein, oder?«

»Das würde ich so nicht sagen«, widersprach Lennart. »Gerade im Dunkeln sieht man doch besonders gut, wie die Lichterketten wirken. Das kriegen wir schon hin. Was hältst du davon, wenn ich zwischen fünf und halb sechs bei euch bin? Ich bringe auch etwas Gutes zu essen mit.«

»Etwas zu essen?«

»Es sei denn, du willst dich noch mit Kochen abplagen. Das kann gerne ich übernehmen. Sag mir nur, ob du oder Andy irgendetwas überhaupt nicht essen dürft. Irgendwelche Allergien oder Unverträglichkeiten, von denen ich noch nichts weiß?«

»Nein, keine.« Melissa klang immer noch erstaunt. »Willst du wirklich für uns kochen?«

»Glaubst du, das kann ich nicht? Ich lebe seit fast zehn Jahren allein in meiner Wohnung. Ich bin also zu einhundert Prozent imstande, mich selbst zu versorgen, und nicht bloß mit Fast Food. Ich kann kochen, backen, putzen, bügeln, den Müll raustragen und alles, was man sonst noch mehr oder weniger Nerviges im Haushalt zu tun hat. Wobei ich zugeben muss, dass Kochen und Backen nicht zu dem nervigen Teil gehören.«

»Nicht?« Melissa seufzte unterdrückt. »Für mich schon. Wenn ich nicht einen Sohn hätte, der jeden Tag etwas einigermaßen Gesundes auf dem Tisch haben muss, dann würde ich wahrscheinlich kaum jemals für mich alleine kochen. Und was das Backen angeht …« Ein zweites Seufzen folgte, diesmal aus tiefstem Herzen. »Ganz einfache Kekse oder ein Marmorkuchen aus einer Backmischung gehen noch, aber alles andere übersteigt meine Fähigkeiten leider. Ich versuche schon dauernd, mir ein bisschen mehr beizubringen, und inzwischen kann man sogar meine Waffeln einigermaßen genießen. Früher konnte man damit jemanden erschlagen oder sich eine Acrylamid-Vergiftung zuziehen. Ich würde gerne mit Andy mehr zusammen kochen oder backen, aber erst einmal sollte ich selbst mich in dieser Hinsicht weiterbilden, schätze ich.«

Lennart grinste vor sich hin. »Das ist wieder ein Punkt, in dem wir uns perfekt ergänzen. Du telefonierst gerade mit einem Meisterbäcker. Ich bin nämlich der Sohn einer ganzen Dynastie von Meisterbäckern. Mein Vater trägt diesen Titel ebenfalls, genau wie mein Großvater, und vor ihm trug auch mein Urgroßvater ihn bereits. Wenn du also für Weihnachten eine Ladung Kekse benötigst, dann sollten wir noch ein Date ausmachen, an dem ich euch ins Backwunderland entführe.«

»Noch ein Date?« Melissa klang ein wenig atemlos.

Lennart zögerte, setzte dann jedoch alles auf eine Karte: »Sollen wir wirklich noch länger um den heißen Brei herumtanzen? Das morgen ist doch ein Date, oder etwa nicht? Vielleicht kein klassisches Date wie im Film, weil Andy mit dabei sein wird, aber genauso möchte ich es gerne haben. Und ich möchte auch weitere Dates mit dir haben, und ob wir dann backen oder spazieren gehen oder rodeln oder tanzen gehen, ist völlig nebensächlich.«

»Nein.« Melissa hüstelte. »So meinte ich das nicht. Ich war mir nur nicht bewusst, dass man bereits das nächste Date ausmacht, noch bevor man das bevorstehende hinter sich gebracht hat.«

Die Helikopter schlugen Loopings. »Also zunächst einmal«, hub er an, »bringt man ein Date nicht einfach hinter sich. Das tut man vielleicht mit einem Zahnarztbesuch, und glaub mir, ein Date mit mir wird wesentlich angenehmer sein. Und abgesehen davon: Meinetwegen können wir auch die nächsten zehn Dates bereits ausmachen. Ich wüsste nicht, dass irgendwo geschrieben steht, in welcher Reihenfolge man so etwas tun muss oder dass man sich an bestimmte Regeln im zeitlichen Ablauf halten muss. Wenn überhaupt, dann legen doch wir beide die Regeln fest, oder etwa nicht?«

»Na ja, schon.« Melissas Stimme war ein Lächeln anzuhören, gleichermaßen aber auch ihre Unsicherheit. »Ich bin nicht einfach nur aus der Übung, Lennart. Ich habe keine Ahnung von so etwas. Wahrscheinlich stelle ich deshalb so dumme Fragen.«

»Niemand hat deine Fragen als dumm bezeichnet.«

»Ich schon.«

»Dann hör bitte sofort auf damit. Wir machen einfach alles so, wie wir es für richtig halten und wie es uns am besten gefällt, okay? Keine Regeln von außen, sondern nur unsere eigenen.«

»Bloß, dass ich auch unsere eigenen Regeln nicht zu kennen scheine«, gab sie zu bedenken.

»Das liegt daran, dass wir noch gar keine Regeln aufgestellt haben«, konterte er. »Lass uns das einfach nach Bedarf erledigen. Ich bin sowieso eher der Improvisationstyp. Ich warte immer erst ab, welche Herausforderungen das Leben mir vor die Füße wirft, und entscheide dann spontan, wie ich darauf reagiere.«

»Und ich plane lieber alles bis ins Detail vorab, weil ich sonst Angst habe, es nicht zu schaffen.« Sie stockte kurz. »Natürlich muss ich im Alltag auch immer wieder improvisieren, aber das tue ich nicht gerne.«

»Weil du Angst hast, dass dir die Kontrolle entgleitet?«

»Ja, wahrscheinlich. Ich habe damals auch unsere Flucht wochenlang geplant und immer wieder in meinem Kopf zurechtgelegt, bin jeden Schritt einzeln wieder und wieder durchgegangen. Ich musste ja auch lange im Voraus beim Frauenhaus anfragen und warten, bis ein Zimmer für uns frei wurde. Später, als wir dann dort wohnten, hat meine Therapeutin mich darin bestärkt, alles kleinschrittig zu planen, um wieder Kontrolle über mein Leben zu erlangen. Natürlich wollte sie nicht, dass ich es übertreibe.« Melissa lachte kläglich. »Aber wahrscheinlich habe ich das getan und tue es immer noch.« Sie hielt kurz inne. »Kontrollfreaks vertragen sich im Allgemeinen nicht gut mit Improvisationshelden.«

Am liebsten hätte er sie auf der Stelle geküsst. »Also, erstens habe ich mich nicht als Helden bezeichnet, aber danke für die Blumen, und zweitens hat dir wohl noch niemand gesagt, dass sich Gegensätze anziehen. Im besten Fall ergänzen sie sich.« Ehe sie etwas darauf antworten konnte, fügte er hinzu: »Wir sehen uns morgen, okay? Ich bin zwischen fünf und halb sechs bei euch und bringe jede Menge gute Laune und Essen mit. Und … Melissa?«

»Ja?« Nun klang sie beinahe so atemlos wie zu Beginn ihres Gesprächs.

»Schlaf gut.« Lächelnd unterbrach er die Verbindung, legte das Smartphone auf den Couchtisch zurück und schlang seine Arme um Sissy. Mit einem breiten Grinsen verbarg er sein Gesicht in ihrem Fell. »Ist das Leben nicht schön?«

Wuff. Dem kann ich nicht widersprechen. Kuscheln mit Herrchen ist das Beste überhaupt.