24. Kapitel

»Nun renn doch nicht so aufgeregt hin und her.« Lachend fing Lennart Melissa mit einem Arm auf, als sie einmal mehr an ihm vorbei in die Küche eilen wollte, und zog sie mit einem Ruck an sich. »Du machst ja die Schnitzel in der Pfanne verrückt. Oder vielmehr die Würstchen im Topf.« Obwohl sie ein wenig in seinen Armen zappelte, küsste er sie auf die Lippen. »Es ist doch alles perfekt, obwohl es das gar nicht sein muss. So schrecklich anspruchsvoll sind weder mein Vater noch meine Schwester und deine Mutter auch nicht, zumindest, soweit ich sie bisher kennengelernt habe.«

Melissa seufzte aus tiefstem Herzen. »Ich weiß nicht, wie ich mich dazu überreden lassen konnte, den Heiligen Abend mit deiner gesamten Familie zu feiern. Und mit meiner Mutter! Warum bin ich nicht einfach Janas Einladung gefolgt und mit Andy zu ihr gefahren? Aber nein, ich fand die Idee auch noch spannend und interessant und nett! Was, wenn ihnen mein Kartoffelsalat nicht schmeckt? Oder wenn sich meine Mutter nicht mit deinem Vater verträgt? Außerdem ist der Tisch noch nicht fertig gedeckt und die Geschenke …«

»Lalalalalala!«, unterbrach Lennart sie mit einem vielsagenden Blick in Richtung Andy, der wieder einmal mit Sissy im Wohnzimmer auf dem Boden herumkugelte. »Der Weihnachtsmann wird sich schon noch um die Geschenke kümmern«, sagte er so laut, dass Andy es auf jeden Fall ebenfalls hören konnte. »Ich bin sicher, dass er dieses Jahr ziemlich früh auf seiner Reise um die Welt bei uns vorbeikommen wird. Laut der Route auf seiner Website wird er gegen achtzehn Uhr hier sein.«

Prompt rappelte Andy sich auf und rannte in die Küche. »Echt, kommt dann der Weihnachtsmann? Zeigst du mir noch mal die Seite im Internet? Dann müssen wir doch schon ganz bald einen Teller mit Keksen vorbereiten und ihm hinstellen. Obwohl die in meiner Klasse gesagt haben, dass das sowieso nur ein Märchen ist und dass ihre Mamas und Papas immer die Geschenke kaufen und unter den Weihnachtsbaum legen.«

»Was?« Lennart riss empört die Augen auf. »Wer behauptet denn so etwas? Natürlich ist der Weihnachtsmann ein Märchen«, schränkte er ein, zwinkerte Andy jedoch gleichzeitig zu. »Aber eines, dass jedes Jahr am Weihnachtsabend wahr wird. Hör also nicht auf diese armen Zweifler. Wenn du ganz fest an den Weihnachtsmann glaubst, dann kommt er auch zu uns und bringt uns die Geschenke.«

»Wirklich?« Andy legte einen Finger an die Nase und dachte eingehend über Lennarts Worte nach, dann lächelte er. »Gut. Liegen die dann auch alle unter dem Weihnachtsbaum?« Er trat an die übermannshohe Nordmanntanne heran, die sie gemeinsam in der Baumschule ausgesucht hatten. Den gesamten Vormittag hatten sie damit zugebracht, den Baum zu schmücken. Dazu hatte nicht nur der Weihnachtsschmuck gedient, den Melissa von den Sternbachs bekommen hatte – Lennart hatte ebenfalls einen ganzen Kasten voll Weihnachtskugeln mitgebracht. »Gefällt der Baum dem Weihnachtsmann?«

Lennart ging neben Andy in die Hocke und blickte aus seiner Perspektive an dem Baum hoch. »Gefällt er dir denn?«

»Ja, der ist voll schön. Wir hatten noch nie einen Weihnachtsbaum, der so groß ist. Hast du jetzt gar nicht mehr genug Kugeln für den Baum bei dir zu Hause?«

Lennart lachte. »Doch, keine Sorge, den habe ich schon vorgestern geschmückt. Wir haben bei uns jede Menge Weihnachtsschmuck angesammelt, der reicht für drei Bäume. Aber mein Baum ist auch nicht so groß wie der hier.« Er hielt kurz inne. »Ob alle Geschenke unter den Baum passen, weiß ich nicht. Vielleicht sind manche so groß, dass der Weihnachtsmann sie danebenstellen muss.«

»Eeeecht?« Andy bekam große Augen.

»So was soll vorkommen«, bestätigte Lennart grinsend.

Melissa trat zu den beiden. »Hast du wirklich in deiner Wohnung auch einen Weihnachtsbaum aufgestellt? Du bist doch …« Sie räusperte sich verlegen. »Na ja, du bist doch kaum noch dort, sondern meistens hier. Dann sieht ihn doch niemand.«

»Da hast du auffallend recht.« Lennart erhob sich wieder und zog sie erneut in seine Arme. »Der Baum ist auch nicht in meiner Wohnung, sondern bei meinem Vater im Wohnzimmer. Lena und ich haben in unseren Wohnungen zwar auch weihnachtlich geschmückt, aber der Baum steht schon immer traditionell bei Papa.« Er beugte sich ein wenig vor und knabberte an Melissas Ohrläppchen. »Mir gefällt es hier bei euch wahnsinnig gut«, raunte er. Als Andy zu kichern begann, warf er dem Jungen einen schalkhaft-strengen Blick zu. »Was gibt es denn da zu giggeln?«

»Was machst du denn mit Mamas Ohr?«

»Na, probieren.« Auf Lennarts Lippen breitete sich ein Grinsen aus. »Sie schmeckt ausgesprochen gut.« Er ließ Melissa los und wandte sich ganz dem Jungen zu. »Jetzt, wo du mich darauf bringst, könnte ich doch eigentlich auch mal versuchen, ob du genauso gut schmeckst.« Er stellte sich in Pose, so als ob er Andy angreifen wollte. Der Junge kicherte, dann kreischte er begeistert los und rannte in Richtung Küche. Lennart setzte ihm nach. »Na warte, ich kriege dich! Gegen mich hast du nicht die geringste Chance.« Schon hatte er Andy geschnappt, einmal durch die Luft gewirbelt und sich im nächsten Moment unter den Arm geklemmt. »Siehst du, habe ich dich schon. Und jetzt wird probiert.« Er setzte Andy mit Schwung auf dem Sofa ab und tat, als wolle er in ihn hineinbeißen.

»Nein, nein, nein! Nicht probieren! Mama! Lennart will mich auffressen!«, kreischte Andy und lachte so heftig, dass er sich krümmte und den Bauch hielt. Lennart kitzelte ihn noch ein wenig, was das begeisterte Kreischen noch verstärkte. Sissy bellte vergnügt und sprang heftig wedelnd am Sofa hoch und wollte ebenfalls mitspielen.

Jau, wau! So lass ich mir das Leben gefallen. Das ist ja ein Riesenspaß! Ich liebe es, mit Herrchen und Andy herumzutoben.

Melissa trat kopfschüttelnd auf das Sofa zu. Diese drei waren ganz eindeutig die albernsten Geschöpfe, die ihr je begegnet waren. Eine warme Welle von Glücksgefühlen flutete sie und nahm ihr für einen Moment den Atem. Ehe sie etwas sagen konnte, klopfte es vernehmlich an der Haustür. Rasch wandte sie sich ab und öffnete Lennarts Vater und Lena, die mit Tüten und Taschen bepackt das Haus betraten.

»Na, hier geht es ja wild zu«, stellte Arndt Overbeck schmunzelnd fest, als er seinen Sohn und Andy auf dem Sofa herumtoben sah. »Von außen hörte es sich fast so an, als würde jemand lebendig am Spieß gebraten.« In seinen Augen, die denen von Lennart in Farbe und Schalkhaftigkeit sehr glichen, funkelte es amüsiert hinter den dezent silbern gerahmten Brillengläsern. Auch ansonsten ähnelte er Lennart sehr. Er war beinahe ebenso groß und breitschultrig, dabei jedoch weniger muskulös, sondern sportlich-schlank. Seine Haare waren kurz geschnitten und ehemals dunkelblond, nun jedoch von vielen grauen Haaren durchsetzt, ebenso wie sein Dreitagebart.

»Quatsch, es hört sich genauso an wie früher bei uns, wenn du mit uns so herumgekaspert hast«, stellte Lena nüchtern fest, grinste gleich darauf aber ebenfalls. »Die Geräusche habe ich richtig vermisst, wie ich gerade feststelle.« Aufmerksam blickte sie sich um. »Wow, so ein Blockhaus würde ich mir auch gefallen lassen. Das ist ja urgemütlich! Allein diese Küche – und der Baum! Und diese Fensterfront zum Garten! Darf ich hier einziehen?«

Melissa lachte. »Ich fürchte, dann wird es ein bisschen eng bei uns.«

»Ganz egal.« Lachend winkte Lena ab. »Schon allein der ganze Weihnachtsschmuck draußen! Ich bin schockverliebt. Lass mich wetten, das war Lennarts Werk.«

»Das werde ich nicht leugnen«, gab Melissa zu. »Allein hätte ich das ganz bestimmt nicht so hinbekommen.«

»Deshalb heißt es ja auch Teamwork.« Lennart hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet und kam, Andy an der Hand, ebenfalls zur Tür. »Und wenn ich das so sagen darf: Wir sind ein richtig tolles Team.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Der Baum war auch so ein Gemeinschaftswerk. Andy ist übrigens ein Naturtalent im Schmücken von Weihnachtsbäumen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann kann er das ganz allein, und wir schmeißen uns derweil gemütlich aufs Sofa und legen die Füße hoch.«

Andy kicherte zwar, blieb jedoch angesichts der beiden Neuankömmlinge ein wenig zurückhaltender. Zwar hatte er sowohl Lennarts Vater als auch Lena bereits am vergangenen Sonntag während eines gemeinsamen Adventskaffees in Arndts Wohnung kennengelernt, doch wie immer bei neuen Bekanntschaften brauchte er eine Weile, um wirklich mit ihnen warm zu werden. Als nun aber sein Blick auf die Tüten fiel, die die beiden mitgebracht hatten, wurden seine Augen groß und rund. »Was ist das denn alles?« Schon wollte er sich alles näher ansehen, doch Lennart hielt ihn weiter an der Hand fest.

»Nichts da, das ist bestimmt geheim, oder?« Er warf seinem Vater einen fragenden Blick zu, woraufhin dieser mit ernster Miene nickte.

»Ganz geheim«, bestätigte er mit gesenkter Stimme. »Stellt euch nämlich nur mal vor: Auf dem Weg hierher sind wir doch tatsächlich dem Weihnachtsmann mit seinem Schlitten und den Rentieren über den Weg gelaufen. Dem echten Weihnachtsmann wohlgemerkt, nicht dem auf eurem Dach.«

Wieder kicherte Andy.

»Bei der Gelegenheit hat er uns schon mal ein paar Geschenke mitgegeben, aber wir mussten ihm hoch und heilig versprechen, mit dem Auspacken bis zur Bescherung zu warten.«

»Echt?« Andys Augen wurden womöglich noch größer. »Aber Lennart hat gesagt, dass der Weihnachtsmann erst nachher zu uns kommt. Um achtzehn Uhr, das ist nämlich sechs Uhr abends, weil das steht nämlich auf der Internetseite vom Weihnachtsmann.«

Arndt lächelte und ging, ebenfalls sehr ähnlich wie sein Sohn, vor Andy in die Hocke. »Das hat er auch fest vor. Aber weißt du, er musste vorhin einen Zwischenstopp machen, weil sich nämlich die Säcke mit den Geschenken gelockert hatten und beinahe vom Schlitten gefallen wären! Stell dir das nur vor! Dann wären all die schönen Geschenke irgendwo auf die Erde gepurzelt, und er hätte sie alle einzeln einsammeln müssen, um sie wieder aufzuladen und auszuliefern. War es da nicht ein Glück, dass er das rechtzeitig bemerkt hat? Ich habe ihn gefragt, ob wir ihm helfen sollen, aber da meinte er, das kann er ganz alleine, und außerdem sind ja all die schönen Geschenke ganz geheim, nicht wahr?«

»Ja.« Andy nickte.

»Tja, und weil er gerade dabei war, alles auf dem Schlitten neu zu ordnen, fand er, dass ich ein paar der Geschenke, die für uns und euch bestimmt sind, einfach schon mal mitnehmen könnte, damit er etwas mehr Platz auf der Ladefläche hat. Das war doch ganz vernünftig, oder?«

Wieder nickte Andy vollkommen ernsthaft. »Ja.«

»Alle Geschenke hat er aber natürlich nicht in die Tüten hier gepackt.« Arndt deutete auf die Papiertüten und – taschen bei der Haustür. »Deshalb kommt er später auf jeden Fall noch mal hierher. Aber nur, wenn er dafür auch einen schönen großen Teller voller Plätzchen bekommt.« Er beugte sich mit verschwörerischer Miene vor. »Den Teller habt ihr doch bestimmt schon vorbereitet, oder?«

»Weiß nicht.« Andy blickte zu Melissa auf. »Mama, haben wir für den Weihnachtsmann schon den Plätzchenteller fertig gemacht?«

Melissa schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, dazu sind wir noch gar nicht gekommen. Aber wie wäre es, wenn ihr das jetzt übernehmt? Ich muss unbedingt noch den Tisch decken und nachsehen, ob auch wirklich alles ordentlich und aufgeräumt ist und …«

»Und gar nichts.« Ohne auf ihren halb lachenden Protest zu achten, zog Lennart sie erneut in seine Arme und küsste sie. »Es ist doch alles super, so wie es ist. Das Einzige, was uns im Moment noch fehlt, ist ein bisschen Weihnachtsmusik.«

»Ja, natürlich!« Melissa versuchte, sich aus seinen Armen zu winden. »Ich schalte sofort welche ein. Was soll es denn sein? Chöre oder amerikanische Weihnachtslieder oder …«

»Melissa, immer mit der Ruhe.« Obwohl es ihr entsetzlich peinlich war, begann Lennart erneut, an ihrem Ohrläppchen zu knabbern. »Atme einfach tief durch und entspanne dich. Die Musik läuft uns nicht weg.«

»Ich kann die Musik einschalten.« Andy wirbelte um die eigene Achse und sauste in Richtung der kleinen Stereoanlage, die mit einem Streamingdienst verbunden war. »Ich weiß genau, wie das geht.« Er betätigte ein paar Knöpfe und tatsächlich schallte im nächsten Moment Frosty the Snowman in gedämpfter Lautstärke aus den Lautsprechern.

»Danke, kleiner Mann.« Lennart drückte Melissa kurz an sich. »Siehst du. Kein Grund, sich zu überschlagen.« Schon ließ er sie wieder los und sah sich unternehmungslustig um. »Was haltet ihr davon, wenn wir die Geschenke erst einmal aus dem Weg räumen?« Er senkte seine Stimme ein wenig. »Lena, kannst du das übernehmen? Die anderen Geschenke sind alle unten im Keller.« Er öffnete die Kellertür.

»Aber klar doch.« Lena schnappte sich einen Teil der Tüten und trug sie nach unten.

»Papa, kümmere dich um den Tisch. Ich zeige dir, wo Gläser und Besteck sind«, wandte er sich an seinen Vater. »Und Andy und ich bereiten den Plätzchenteller für den Weihnachtsmann vor.«

Verunsichert sah Melissa sich um, als die beiden Männer ganz selbstverständlich die jeweiligen Aufgaben in Angriff nahmen. »Und was soll ich jetzt machen?«

Lennart grinste ihr über die Schulter zu. »Du darfst dich auf dem Sofa ausstrecken und nett aussehen. Genieß einfach den Anblick des Weihnachtsbaumes.«

»Das ist doch wohl nicht dein Ernst.« Sie warf einen Blick zum Sofa. »Ich kann mich doch nicht einfach faul hinsetzen und euch zusehen.«

»Warum denn nicht?«, konterte Lennart ungerührt. »Immerhin hast du heute Morgen bestimmt schon das gesamte Haus geputzt. Nein, leugne es nicht, ich kenne dich inzwischen. Außerdem sieht man doch, dass alles blitzt und blinkt. Dann hast du noch den Kartoffelsalat und die Würstchen vorbereitet und mit uns zusammen den Baum geschmückt. Von meiner Warte aus gesehen sind das ausreichend Gründe dafür, dass du dich jetzt ein bisschen ausruhen darfst.«

»Für uns hättest du wirklich nicht extra zu putzen brauchen.« Lena schloss die Kellertür hinter sich, hakte sich bei Melissa unter und schob sie energisch zum Sofa. »Also hingesetzt und den Faulenzer-Modus eingeschaltet!« Energisch brachte sie Melissa dazu, sich zu setzen, und ließ sich neben ihr nieder.

Überrascht blickte Melissa Lena an. »Ich wusste gar nicht, dass du so bossy werden kannst.«

»Ich hatte dich ja gewarnt«, kam es von Lennart. »Mit Lena ist nicht zu spaßen. Sie ist auf den ersten Blick diese süße, zarte, liebenswürdige Person, aber wenn du sie näher kennst, entwickelt sie sich zum gefährlichen …«

»Ich warne dich!« Lena griff grinsend nach einem Sofakissen.

»… Hausdrachen«, beendete Lennart feixend den Satz. Im nächsten Augenblick flog das Kissen in seine Richtung und traf ihn erstaunlich gezielt an seiner Schulter. Lachend fing er es auf. »Habe ich es nicht gesagt? Sie ist gefährlich.«

»Aber so was von.« Lena grinste wölfisch. »Also nehmt euch gut vor mir in Acht.«

Was war das denn? Warum wirfst du denn mit dem Kissen? Machst du das noch mal? Dann renne ich hinterher und fange es. Sissy sprang auf Lena zu, stieß sie freudig wedelnd mit der Nase an und krabbelte ihr schließlich auf den Schoß. Eifrig versuchte sie, ihr übers Gesicht zu lecken.

»Igitt, Sissy!« Lena stieß einen spitzen Schrei aus, dann kicherte sie haltlos. »Das kitzelt!«

Ich weiß, deshalb mache ich es ja. Sissy wedelte noch heftiger, sodass sie beinahe die Schale mit den Erdnüssen vom Tisch gefegt hätte. Melissa schafft es gerade noch, sie geistesgegenwärtig aufzufangen und ein wenig weiter in die Mitte des Tisches zu schieben.

»Siehst du, schon fertig.« Lennart deutete grinsend auf den Plätzchenteller. »Andy, den stellst du am besten draußen neben der Haustür ab.«

»Ja, mach ich.« Vorsichtig trug Andy den vollen Teller zur Tür, die Lennart für ihn öffnete.

»Hier ist auch schon alles, wie es sein soll«, kam es von Arndt. Er wies auf den festlich gedeckten Esstisch. »Es fehlen nur noch die Servietten.«

»Ich hole rasch welche.« Melissa erhob sich und ging zu der Schublade, in der sie die Servietten verstaut hatte. Hinter sich hörte sie Lennart verzweifelt seufzen.

»Diese Frau hat Hummeln im Hintern. Sie kann keine zwei Minuten stillsitzen.«

Melissa zog die Packung mit den hübschen dunkelblauen, mit goldenen Sternen und Ornamenten bedruckten Servietten aus der Schublade. »Verzeihung.« Sie lächelte schief. »Aber ich hatte für heute Abend diese ganz besonderen Servietten vorgesehen. Nicht einfach irgendwelche.« Vorsichtig öffnete sie die noch nagelneue Packung und zog einen kleinen Stapel Servietten daraus hervor, um sie auf die Teller zu verteilen. In diesem Moment klopfte es vernehmlich an der Haustür, sodass sie innehielt. »Das wird meine Mutter sein.«

»Ich mach das schon.« Lennart stand noch neben der Haustür und öffnete sie schwungvoll. »Hallo, Maria. Lass mich raten, du bist ebenfalls auf dem Weg hierher dem Weihnachtsmann begegnet?« Mit einem breiten Lächeln deutete er auf die beiden schweren Papiertüten, die Melissas Mutter in der Hand hielt, als sie das Haus betrat.

»Wie bitte?« Verwirrt blickte Maria zu ihm auf, schaltete dann aber erstaunlich schnell. »Oh, das hier? Nein, das hat mir alles das Christkind mitgegeben. Es war nämlich gerade drüben im Feriendorf unterwegs, als ich das Haus verlassen habe.« Suchend sah sie sich um. »Wo kann ich die Sachen denn bis zur Bescherung abstellen?«

»Ich übernehme das.« Lennart nahm ihr die Tüten ab und brachte sie in den Keller.

»Hallo, Oma!« Andy rannte, dicht gefolgt von Sissy, auf Maria zu. Dicht vor ihr blieb er stehen. »Warum kriege ich denn auch was vom Christkind? Ich dachte, bei uns kommt der Weihnachtsmann.«

Hallo, Maria, schön, dich zu sehen. Inzwischen hast du ja glücklicherweise keine Angst mehr vor mir, das finde ich sehr gut, dann kann ich dich nämlich mal so richtig begrüßen und abschlabbern.

»Iiiiih, Sissy, was machst du denn mit mir?« Maria stieß einen erschrockenen Laut aus, als die Hündin an ihr hochsprang und sie überall abzuschlecken versuchte. Lachend wehrte sie sie ab. »Nicht doch, ich bin schon gewaschen. Los, geh zurück zu deinem Herrchen.«

Wirklich? Soll ich nicht noch ein bisschen weitermachen? Na gut, dann eben nicht.

»Sissy, hierher«, rief Lennart.

Komme schon! Sissy trollte sich zu ihrem Herrchen.

Maria lächelte ihr hinterher. »Was für ein verrückter Hund, aber sehr menschenfreundlich und gut erzogen, das muss ich schon sagen.« Sie wandte sich Andy zu. »Hallo, Andy, wie schön, dich zu sehen. Weißt du, bei uns ist früher immer das Christkind gekommen. Es hat sich wohl einfach meinen Namen gemerkt, und als es erfahren hat, dass ich einen Enkelsohn habe, hat es beschlossen, dass du ebenfalls von ihm Geschenke bekommen sollst.«

Melissa trat nun ebenfalls auf ihre Mutter zu und ließ sich kurz von ihr umarmen. Sie staunte noch immer über die Veränderung, die diese Frau durchgemacht hatte. »Hallo, Mama, schön, dass du da bist. Dann können wir eigentlich mit dem Abendessen anfangen, oder?« Sie blickte über die Schulter. »Ach nein, entschuldigt, ich muss euch ja erst miteinander bekannt machen! Mama, das ist Lena, Lennarts jüngere Schwester. Ich habe dir ja schon von ihr erzählt.« Sie deutete in Richtung Sofa.

Lena erhob sich rasch und kam näher. »Guten Abend, Maria. Ich darf doch Maria sagen? Irgendwie sind wir ja jetzt so etwas wie … nun ja, Familie, oder? Zumindest, wenn es nach Lennart geht und, wie ich hoffe, auch nach Melissa und Andy. Was hat sie denn über mich erzählt? Ich hoffe doch, es war nur Gutes.«

Maria lachte. »Ausnahmslos. Freut mich sehr.« Sie schüttelte Lenas Hand, dann hob sie den Kopf, um Arndt ebenfalls zu begrüßen. »Und sie müssen Lennarts …« Sie stockte, rang nach Atem, ihre Augen weiteten sich, und sie wich zwei Schritte zurück. »Das … oh … ich … Großer Gott!«

»Guten Tag, Maria.« Auch Arndts Augen hatten sich vor Überraschung geweitet. Fahrig fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch sein kurzes Haar. »Ich gebe zu, damit hatte ich nicht gerechnet.«

Sie wurde blass, machte noch zwei weitere Schritte rückwärts, im nächsten Moment wirbelte sie herum und rannte zur Haustür, riss sie auf und war im nächsten Augenblick verschwunden.

»Mama?« Verwirrt blickte Melissa ihrer Mutter nach, gleich darauf zu Arndt. »Was war das denn?«

»So, vorläufig ist alles verstaut«, befand Lennart, der in diesem Augenblick aus dem Keller zurückkehrte. Irritiert blickte er von einem zum anderen. »Was ist los? Wo ist Maria? Hat sie noch etwas im Auto vergessen?«

»Ich glaube, sie ist gar nicht mit dem Auto hier, sondern zu Fuß gekommen.« Melissa schüttelte befremdet den Kopf. »Arndt?« Sie fühlte sich immer noch ein wenig befangen, wenn sie ihn beim Vornamen nannte, doch sie hatten sich beim Adventskaffee darauf geeinigt, dass es sich mit dem persönlichen Du leichter redete.

Lennarts Vater rieb sich sichtlich perplex übers Kinn. »Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet«, wiederholte er. »Das gibt es doch gar nicht.«

Melissa wurde ein wenig mulmig zumute. »Was soll das bedeuten? Kennt ihr euch etwa?«

»So kann man sagen.« Arndt schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. »Sie hat sich ja kaum verändert.«

Lennart räusperte sich vernehmlich. »Dass ich das richtig verstehe: Du und Melissas Mutter, ihr seid miteinander bekannt? Seit wann denn? Und woher?«

Wieder rieb Arndt sich übers Kinn. »Das ist eine lange Geschichte. Oder nein, eigentlich nicht, aber sie ist schon sehr, sehr lange her.« Er wandte sich an Melissa. »Vielleicht gehst du ihr besser nach.«

Ahnungsvoll nickte Melissa, holte ihren Mantel aus dem Wandschrank und warf ihn sich über, während sie das Haus verließ. Suchend sah sie sich um und sah ihre Mutter schließlich in etwa hundert Metern Entfernung auf dem geschotterten Weg stehen, der vom Haus wegführte. Ein leiser eiskalter Wind raschelte in den Büschen und kahlen Ästen der Bäume. Melissa schauderte und schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Entschlossen ging sie auf ihre Mutter zu, die mit dem Rücken zum Haus auf dem Weg stand, die Schultern hochgezogen, die Arme fest verschränkt.

»Mama?« Vorsichtig trat Melissa an sie heran. »Was ist denn los? Arndt hat gesagt, Ihr kennt euch? Von früher?«

Ihre Mutter stieß geräuschvoll die Luft aus. »Großer Gott, das ist so peinlich! Entschuldige bitte, dass ich einfach so weggerannt bin, aber … Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich ihm noch einmal begegnen würde. Hat er noch etwas gesagt?«

»Nein, nur, dass ihr euch kennt.« Diese seltsame Ahnung in Melissa verstärkte sich noch. »Was … war denn damals?«

Sehr langsam drehte ihre Mutter sich zu ihr um. Sie blinzelte mehrmals, so als versuche sie, Tränen zurückzudrängen. Melissa erschrak und wollte schon etwas sagen, doch ihre Mutter hob abwehrend die Hände. »Nein, nein, schon gut. Ich kriege mich schon wieder ein. Es ist nur wirklich, wirklich peinlich. Und unglaublich.« Leicht ungehalten rieb sie sich über die Wangen. »Ich kann unmöglich wieder mit dir zurück ins Haus gehen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen oder wie ich mich verhalten soll.«

Zögernd, weil ihre Mutter ihr so fremd geworden war, ihr jedoch zugleich am Herzen lag, berührte Melissa sie am Arm. »Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist.«

Maria nickte, hielt inne, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Nein, das ist doch Unfug! Es ist ewig her, und da ist doch längst Gras drüber gewachsen.« Sie atmete hörbar ein und wieder aus. »Entschuldige, dass ich so ausgeflippt bin. Ich war nur so überrascht. Er hat sich in all den Jahren kaum verändert.« Sie lachte ein wenig gezwungen. »Sonst hätte ich ihn wohl auch kaum sofort wiedererkannt, nicht wahr?« Sie straffte die Schultern. »Lass uns zurückgehen, sonst denken deine Gäste noch, ich hätte den Verstand verloren.« Schon setzte sie sich in Bewegung und strebte entschlossen dem Blockhaus zu.

Melissa beeilte sich, ihr zu folgen. »Ist wirklich alles in Ordnung, Mama?«

»Aber ja doch.« Maria nickte mit Nachdruck, dann lächelte sie plötzlich richtig. »Sieh nur, es fängt an zu schneien.« Sie streckte die rechte Hand aus, die Handfläche nach oben, und fing ein paar Schneeflocken ein, die sachte vom Himmel herabsegelten. »I’m dreamin of a white Christmas«, sang sie zu Melissas grenzenloser Überraschung mit melodischer Singstimme. »Ist das nicht schön?«

»Ja, sehr.« Melissa blieb nichts anderes übrig, als zu nicken, da ihre Mutter offenbar beschlossen hatte, dass sie über die Umstände, unter denen sie Lennarts Vater kennengelernt hatte, nichts preisgeben wollte.

Vor der Haustür angekommen, umarmte ihre Mutter sie kurz, aber liebevoll. »Bist du glücklich, Melissa?«

Verblüfft sah Melissa ihr ins Gesicht. »Ja«, antwortete sie. »Ja, das bin ich.«

»Dann bin ich es auch.« Energisch zog ihre Mutter sie mit ins Haus. »Und jetzt wird gefeiert. Immerhin ist heute Heiligabend. Hattest du nicht eben etwas von Abendessen gesagt? Ich verhungere!«

***

»Du bist ja verrückt!« Mit Tränen in den Augen blickte Melissa auf das grüne Kinderfahrrad, das Lennart Andy unter oder vielmehr neben den Weihnachtsbaum gestellt hatte und das dieser nun mit strahlenden Augen quer durchs Wohnzimmer schob, dicht gefolgt von Sissy, die ihm wie immer nicht von den Fersen wich. »Das ist doch ein viel zu teures Geschenk.«

»Nein, gar nicht.« Lennart, der neben ihr auf dem Sofa saß, zog sie näher zu sich heran und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Es hat mich lediglich zwei neue Reifen gekostet. Das ist mein altes Kinderfahrrad, das seit einer Ewigkeit in unserer Garage eingestaubt ist. Ich habe es nur gereinigt, die Kette gefettet und die neuen Reifen aufgezogen. Sobald die Wege wieder einigermaßen frei von Schnee und Eis sind, üben wir mit ihm fahren.« Er blickte durch die großen Fenster hinaus in den Garten, in dem sich mittlerweile eine mindestens sechs oder sieben Zentimeter dicke Schneeschicht gebildet hatte. Es schneite immer noch, allerdings nur noch leicht.

»Trotzdem. Du hättest dich nicht in solche Unkosten stürzen sollen. Dann auch noch dieser elektronische Bilderrahmen.« Sie blickte zu dem Rahmen, der auf dem Wohnzimmertisch lag und auf dem bereits in Dauerschleife mehrere Bilder von Melissa, Andy, Sissy und Lennart abgespielt wurden, die sie in den vergangenen Wochen geschossen hatten.

»Unsinn.« Er küsste sie auf die Schläfe. »Eigentlich ist dieser Bilderrahmen ja nicht nur ein Geschenk für dich oder euch, sondern auch für mich, denn immerhin habe ich vor, ihn mit noch mindestens zehntausend weiteren Fotos von uns zu füllen und sie mir immer und immer wieder anzusehen.«

»Zehntausend Fotos?« Sie schluckte. »Wie lange soll das denn dauern?«

Er lachte. »Du wirst sehen, das schaffen wir in Rekordzeit. Dabei fällt mir ein, dass ich dein Geschenk ja noch gar nicht aufgemacht habe.« Er erhob sich und nahm eines der unausgepackten Geschenke, die noch unter dem Baum lagen, an sich. Aufmerksam betrachtete er die rechteckige Schachtel von allen Seiten und schüttelte sie leicht. »Was da wohl drin sein mag?«

»Pack es aus, dann weißt du es.« Lena, die es sich auf einem Sessel bequem gemacht hatte, die Füße unter den Po gezogen, grinste ihn an. »Vielleicht ist es eine Box voller Socken, das klassische Weihnachtsgeschenk.«

»Für Socken ist es zu schwer«, konstatierte Lennart.

»Es sind keine Socken«, rief Melissa gleichzeitig. »Wer verschenkt denn Socken zu Weihnachten?«

»Wenn du wüsstest.« Lena kicherte. »Ich könnte dir da Sachen erzählen.«

»Ja, von dir.« Lennart feixte. »Als Teenager hatte sie mal so eine Phase, da hat sie mir zu jedem Anlass Socken geschenkt. Zu Weihnachten, zum Geburtstag, zu Ostern und zum Namenstag. Dabei feiern wir nicht einmal unsere Namenstage.«

»Na und? Das waren richtig stylische Socken. Du hattest bloß keinen Sinn für die neueste Mode.«

»Ja, wahrscheinlich.« Mit einem amüsierten Schnauben begann Lennart, das Geschenkpapier zu öffnen, dann zog er eine Pappschachtel daraus hervor. »Ach.« Auf seinen Lippen erschien ein Lächeln. »Das ist ja die Weihnachtspyramide! Ich hatte mich schon gewundert, wo die abgeblieben ist.«

»Lass mal sehen.« Wieselflink war Lena aufgesprungen und hatte ihm die Schachtel aus der Hand gerissen. Ihre Augen weiteten sich. »Die sieht ja ganz genauso aus wie die, die ich damals über den Jordan geschickt habe.«

»Du meinst, die du abgefackelt hast.« Arndt streckte auffordernd die Hand aus. »Zeig mal her.« Lena reichte ihm die Schachtel, und er betrachtete sie ebenfalls eingehend, dann zeigte er sie auch Maria, die auf dem anderen Sessel saß. »Die sieht wirklich ganz genauso aus wie unsere alte Weihnachtspyramide. Eigentlich gehörte sie meiner Exfrau, aber nachdem sie uns verlassen hatte, haben wie die Pyramide trotzdem jedes Jahr aufgestellt. Nun ja, zumindest, bis Lena sie mit acht oder neun Jahren angezündet hat.«

Melissas Mutter hustete. »Angezündet? Etwa mit Absicht?«

»Darauf kannst du wetten.« Lena prustete los. »Ich hatte damals so eine Art pyromanische Phase. Kein Streichholz war vor mir sicher.«

»Ja, und die Weihnachtspyramide leider auch nicht.« Als Maria ihm die Schachtel reichte, nahm Lennart sie an sich und betrachtete sie erneut von allen Seiten.

»Ich dachte, sie gefällt dir vielleicht, weil sie schöne Erinnerungen an deine Kindheit hervorruft«, erklärte Melissa. »Du könntest sie bei euch in der Firma aufstellen – irgendwo, wo du sie immer sehen kannst, oder ihr alle. Also zumindest während der Weihnachtszeit.«

Lennart legte die Schachtel auf den Tisch und zog sie in seine Arme. »Das werde ich ganz bestimmt tun.« Er brachte seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr und raunte. »Danke, Melissa, das ist ein tolles Geschenk.«

Sein warmer Atem kitzelte sie leicht und verursachte ihr einen wohligen Schauer. Im nächsten Augenblick ächzte sie jedoch auf, weil Andy unbemerkt näher gekommen war und einfach auf sie kletterte, um auf ihrem Schoß zu sitzen. »Lieber Gott, bist du aber schwer!«

Andy kicherte. »Ich habe auch ganz viele Plätzchen gegessen. Und Sissy auch.«

»Hoffentlich bekommt sie davon kein Bauchweh.« Melissa ächzte erneut, weil nun auch Sissy auf das Sofa sprang und unbarmherzig über sie hinwegtrampelte, um Lennart zu erreichen.

Hallo, hallo! Hach, was ist das heute ein schöner Abend. Lauter fröhliche Menschen und Leckerchen und jede Menge Papier, in dem ich wühlen und das ich zerfetzen kann. Das ist das reinste Hundeparadies! Aber jetzt muss ich unbedingt mit Herrchen kuscheln.

»Hey, du verrückte Nudel.« Lennart versuchte vergeblich, das vergnügte Boxermädchen abzuwehren, und hob sie schließlich neben sich, damit sie nicht weiter auf Melissa und Andy herumkrabbelte. »Jetzt aber Platz!«

Meinetwegen, aber nur auf deinem Schoß. Genau dorthin kroch Sissy und drehte sich dort zur allgemeinen Erheiterung genüsslich auf den Rücken und streckte alle viere von sich. Jetzt kraul mir bitte mal schön ausgiebig den Bauch.

In diesem Moment zuckte ein Blitz auf. Alle Blicke richteten sich auf Lena, die ihr Smartphone gezückt hatte.

Sie grinste breit. »Ein Bild für die Götter. Das sende ich gleich an diesen elektronischen Bilderrahmen. Wie ging das noch mal?« Sie tippte auf ihrem Handy herum. »Die App aufrufen und dann … Aha! Schon übertragen.«

»Siehst du.« Lennart zwinkerte Melissa zu. »Die Speicherkarte ist garantiert im Nu voll mit Fotos und Videos.« Während er sprach, kraulte er Sissy den Bauch, die daraufhin genüssliche und geradezu unanständige Laute von sich gab.

Oooh, jaaaa, tut das guuut! Bitte weeeeeiiiitermachen! Jiff!

»So gut hätte ich es auch gern mal«, merkte Arndt lächelnd an. »Hund müsste man sein.«

Wo du recht hast, hast du recht. Sissy stieß ein Schnaufen aus, das wie eine Zustimmung klang und alle zum Lachen reizte. So ein Hundeleben kann unglaublich toll sein. Vor allem, wenn alle meine Menschen glücklich und zufrieden sind.

»Mama, sind das alles noch Geschenke für mich?« Andy war wieder von Melissa heruntergeklettert und hatte sich zum Weihnachtsbaum begeben. Neugierig beäugte er die verbliebenen Päckchen.

Melissa beugte sich ein wenig vor, um das Durcheinander aus Geschenken und Geschenkpapier zu mustern. »Ja, die sind alle für dich. Warum packst du sie nicht aus?«

Das ließ Andy sich nicht zweimal sagen. Mit einem Jubelschrei tauchte er erneut in die Berge von Geschenkpapier ein, und prompt zappelte auch Sissy auf Lennarts Schoß, sprang zu Boden und begann, in den Papierbergen zu wühlen.

Spielen wir weiter? Das ist so suuuper! Mal sehen, ob ich vielleicht noch irgendwo zwischen dem ganzen Papier hier ein paar Plätzchen finde, die ich vorhin ganz versehentlich mit meiner Rute zu Boden gefegt habe.

»Gibt es eigentlich etwas Neues von Maja-Sophie?«, wandte Lena sich mit leiser Stimme an Melissa. »Du hast noch gar nichts erzählt.«

Melissa, die gerade das Papier, in dem die Weihnachtspyramide verpackt gewesen war, zusammenfalten wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Noah hat ihr einen Platz in einem Frauenhaus in Bonn besorgt. Irgendwie hat er seine Beziehungen spielen lassen, denn normalerweise dauert es ziemlich lange, bis irgendwo ein Zimmer frei wird. Viel mehr weiß ich auch nicht, nur dass sie sich nach wie vor strikt weigert, mit ihren Eltern Kontakt aufzunehmen. Anscheinend haben die beiden sie mehrfach vor Matthias gewarnt, aber sie wollte nicht hören. Sie war wohl tatsächlich schon sehr lange in ihn verschossen, schon als ich mit ihm verheiratet war.« Sie schluckte hart. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber aus dem, was Noah noch erzählt hat, schließe ich, dass sie wohl irgendwie die Idee hatte, Matthias bekehren zu können, so wie das manchmal in Büchern oder Filmen der Fall ist, wo irgendein richtig übler Typ auf eine nette Frau trifft, die plötzlich alles ändert, und dann wird er zu einem völlig neuen Menschen.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Sie war wohl zu naiv, um zu verstehen, dass es so etwas nur in Büchern oder im Fernsehen gibt und dass die Realität ganz anders aussieht.«

»Schrecklich.« Ihre Mutter schauderte. »Hoffentlich war ihr das eine Lehre. Nicht, dass sie irgendwann wieder an so einen Kerl gerät. Viele Frauen machen ja den gleichen Fehler wieder und wieder, oft, weil sie gar nicht anders können.« Sie warf Melissa einen warmen Blick zu. »Anwesende selbstverständlich ausgeschlossen.« Ihr Lächeln schloss auch Lennart mit ein. »Es gibt auch Frauen, die die Kurve kriegen und ihr Glück finden.«

»Darauf sollten wir trinken.« Arndt beugte sich vor und griff nach seinem Glas, das noch halb mit Rotwein gefüllt war.

Auch alle anderen griffen nach ihren Gläsern, die teilweise mit Wein, teilweise mit Apfelsaft gefüllt waren, und prosteten sich zu.

»Und was passiert nun mit Matthias?«, hakte Lena vorsichtig nach.

Melissa hob die Schultern. »Er wurde auf Maja-Sophies Anzeige hin verhaftet, aber wie es nun mit ihm weitergeht, weiß ich auch nicht genau. Ich habe seither nichts von ihm gehört, aber meine Anwältin meinte, dass ich wahrscheinlich irgendwann im neuen Jahr Post vom Gericht bekommen werde, weil ich eine Zeugenaussage machen muss.« Sie atmete tief durch. »Das Kontaktverbot wurde von der Richterin aber gleich wieder eingesetzt und bleibt bis auf Weiteres bestehen.«

»Das ist sehr gut«, befand Arndt. »Hoffentlich dauerhaft. Aber falls nicht oder falls sich irgendwann später einmal etwas ändern sollte, dann weißt du ja, dass du auf uns zählen kannst, nicht wahr?«

Melissa lächelte und lehnte sich, als Lennart sie wieder an sich zog, wohlig gegen seine Schulter. »Ja, ich weiß.« Sie drehte den Kopf ein wenig, bis sie Lennart ins Gesicht sehen konnte. Sein Blick war warm und liebevoll auf sie gerichtet. »Ich weiß«, murmelte sie.

»Ja?« Sein Blick schien sich zu verdunkeln, und die Luft zwischen ihnen begann zu knistern.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und reines Glück durchflutete sie. »Ja.«

***

»Unsinn, so hoch liegt der Schnee doch gar nicht«, widersprach Arndt, als Melissa ihn kurz vor Mitternacht davon abhalten wollte, nach Hause zu fahren. »Gerade mal zehn Zentimeter, und auf einer Schneedecke fährt es sich alle Mal besser als auf Glatteis. Wir haben es ja auch gar nicht weit, Lena und ich. Aber wenn es dich beruhigt, rufen wir an, sobald wir zu Hause angekommen sind. Maria, dich können wir gerne bei deinem Ferienhaus absetzen, wenn du möchtest. Dann brauchst du nicht den ganzen Weg zu Fuß zu gehen.«

»Ach, so weit ist es nun auch wieder nicht.« Maria winkte ab, zuckte dann aber ergeben mit den Achseln. »Aber schneller geht es natürlich mit dem Auto. Also warum nicht?«

Alle drei suchten ihre Sachen und Geschenke zusammen, schlüpften in ihre Mäntel und verabschiedeten sich mit herzlichen Umarmungen von Melissa und Lennart.

»Nicht vergessen, morgen Mittag sehen wir uns zum Weihnachtsessen alle wieder hier.« Melissas Mutter lächelte in die Runde, und Melissa war sehr froh, dass sich die anfangs etwas merkwürdige und gezwungene Stimmung zwischen ihrer Mutter und Lennarts Vater rasch verflüchtigt hatte. Irgendwie schienen die beiden schweigend übereingekommen zu sein, die Umstände ihrer Bekanntschaft für sich behalten zu wollen. Das regte zwar Melissas Neugier erst recht an, doch wahrscheinlich musste sie sich in Geduld üben. Vielleicht würde ihre Mutter ihr eines Tages davon erzählen. »Melissa, ich bringe dir die fertig vorbereitete Gans rechtzeitig herüber«, fuhr Maria indes fort. »Dann schieben wir sie zusammen in deinen Backofen, und alles andere erledige dann ich.«

»In Ordnung.« Melissa nickte ihr zu. »Zum Kaffeetrinken kommen Jana, Oliver, Ellie und Janas Eltern dazu.« In einem Anflug von Panik sah sie sich um. »Liebe Zeit, ich weiß gar nicht, wo wir all die Gäste unterbringen sollen.«

»Das klappt schon«, befand Lennart mit der für ihn typischen stoischen Zuversicht. »Platz ist in der kleinsten Hütte, und so klein ist diese Hütte überhaupt nicht. Was nicht passt, wird einfach passend gemacht, du wirst schon sehen.«

»Na, da bin ich mal gespannt.« Lena kicherte. »Zur Not stapeln wir uns einfach übereinander. Jetzt aber los, ich habe noch ein Date mit Bruce Willis.«

»Wie bitte?« Ihr Vater hustete. »Jetzt noch?«

»Na, aber sicher.« Lena grinste breit. »Für mich muss jeder Heilige Abend mit Stirb langsam ausklingen, ganz egal, wie spät es schon ist.«

»Alte Familientradition«, ergänzte Lennart lachend. »Obwohl ich glaube, dass wir sie hier bei uns diesmal lieber am zweiten Feiertag begehen werden. Da haben wir nämlich noch nichts vor und können alle Filme am Stück schauen.«

»Was, alle auf einmal?« Verblüfft starrte Melissa ihn an.

»Aber klar doch.« Er verzog keine Miene. »Und dabei stopfen wir uns dann mit den Resten der Gans und den übrig gebliebenen Plätzchen voll. Das nenne ich einen perfekten zweiten Weihnachtsfeiertag.«

Gänsebraten und Plätzchen? Wuff, das hört sich genial an. Da bin ich auf jeden Fall mit dabei. Auf Sissys zustimmendes Bellen hin brachen alle in Gelächter aus.

***

Wenig später stand Melissa auf der obersten Stufe vor der Haustür und blickte den Lichtern von Arndts Wagen nach, die in der Ferne verschwanden. Ein ganz eigentümliches Gefühl tiefen Friedens hatte sie im Laufe des Heiligen Abends erfasst. Sie hatte es geschafft! Sie hatte ihrem Sohn das schönste Weihnachtsfest seines – zumindest bisherigen – Lebens bereiten können. Inzwischen lag er in seinem Bett und schlief tief und fest. Nachdem er alle Geschenke ausgepackt hatte, war er irgendwann mitten in dem Wust von Plüschtieren, Spielzeugautos, Hörspiel-CDs und Geschenkpapier eingeschlafen. Lennart hatte ihn in sein Zimmer getragen und Melissa hatte ihn ausgezogen und ins Bett gesteckt, ohne dass er auch nur einmal aufgewacht wäre.

»Wir sollten vielleicht noch ein bisschen im Wohnzimmer aufräumen«, murmelte sie.

Lennart trat neben sie, legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie nahe zu sich heran. »Wir können den ganzen Kram auch einfach bis morgen liegen lassen. Stört doch niemanden.«

»Aber morgen früh kommt schon meine Mutter mit der Gans«, protestierte sie halbherzig. »Vielleicht trifft sie der Schlag, wenn es dann hier noch so chaotisch aussieht.«

»Der Schlag hat sie doch bis jetzt auch nicht getroffen.« Lennart lachte leise und zog sie ganz in seine Arme. »Ehrlich gesagt hätte ich ein paar viel bessere und schönere Ideen, wie wir uns die Zeit vertreiben könnten, bis ich ebenfalls nach Hause fahre.« Seine Stimme hatte sich leicht gesenkt und diesen dunklen, rauen Ton angenommen, der Melissa zuverlässig eine Gänsehaut verursachte und ihren Puls zur Raserei brachte. »Wie sieht es aus, könnte ich dich vielleicht dazu überreden?«

Melissa schlang ihre Arme um seine Mitte, spürte seine Wärme und, als sie ihn küsste, wie er auf sie zu reagieren begann. »Vielleicht könntest du das«, antwortete sie ebenso leise.

»Ja?« Seine Miene hellte sich auf. »Worauf warten wir dann noch?«

Als er sie mit sich ins Haus ziehen wollte, hielt sie ihn energisch zurück und schlang erneut ihre Arme um seine Mitte. »Ich hätte da vielleicht noch einen weit besseren Vorschlag.«

»Tatsächlich?« Ein neugieriger Ausdruck trat in seine Augen. Gleichzeitig wanderten seine Hände über ihren Rücken, zogen ihre Bluse aus dem Bund ihrer Hose und lagen im nächsten Moment schon auf ihrer nackten Haut. »Besser als das hier?«

Das zärtliche Streicheln seiner Finger auf ihrer Haut erregte sie und machte sie ganz kribbelig. Begehrlich schob sie ihre Hände ebenfalls unter seinen Pullover und zog das T-Shirt, das er darunter trug, aus seinem Hosenbund. Sie konnte spüren, wie er sich anspannte und erschauerte, als sie ihrerseits mit den Händen über die Haut an seinem Rücken streichelte.

Und plötzlich fragte sie sich, warum sie nur so lange gezögert hatte. Was war mit ihr los gewesen? Es war doch alles so sonnenklar! Sie hatte es einfach nicht glauben wollen, doch nun durchrieselte sie erneut dieses Gefühl tiefen Friedens. »Ja, ich glaube, mein Vorschlag ist viel, viel besser.« Kurz lauschte sie in sich hinein, doch zum ersten Mal gab es kein Durcheinander und keine Meinungsverschiedenheiten oder Missverständnisse zwischen ihrem Kopf, ihrem Bauch und ihrem Herzen. »Wie wäre es«, setzte sie an, musste dann aber doch noch einmal Luft holen und schlucken, bevor sie fortfuhr: »Was würdest du dazu sagen, wenn ich dich fragen würde, also, ob du … Mist!« Verärgert, verzweifelt und wider Willen erheitert brach sie ab und verdrehte die Augen. »Ich fange noch mal von vorne an.« Kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr deren Bedeutung in mehr als einer Hinsicht bewusst und wie sehr sie der Wahrheit entsprachen. Sie reckte sich Lennart ein wenig entgegen, bis ihre Lippen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Bleib heute Nacht hier. Dann können wir morgen früh alle zusammen gemütlich frühstücken.«

»Frühstücken?« In seinen Augen leuchtete es auf, doch seine Miene blieb wachsam. »Wirklich? Ich meine, klar, ich könnte auf dem Sofa schlafen – oder mir wieder eine Höhle bauen«, flachste er.

»Nein.« Energisch schüttelte sie den Kopf. »Ich möchte, dass du die Nacht mit mir verbringst, bei mir, in meinem Bett.«

»Bist du sicher?« Seine Stimme schwankte ein klein wenig; sachte strich er ihr ein paar Haarsträhnen hinters Ohr – eine Geste, die ihr mittlerweile so vertraut war und auf die sie nie, nie mehr verzichten wollte.

»Ja, bin ich. Ich bin ganz sicher.«

»Was ist mit Andy? Was wird er denken, wenn er mitbekommt, dass ich bei dir übernachtet habe? In deinem Bett?«, hakte er vorsichtig nach.

Sie lächelte. »Was glaubst du denn, was er denken wird?«

»Ich kann mir so einiges vorstellen«, formulierte er vorsichtig. »Aber ist es auch das, was du willst?«

Sie lachte. »Wie oft soll ich denn noch Ja sagen? Ja, ja und noch mal ja. Allerdings sollte ich dich vielleicht vorab darauf aufmerksam machen, dass Andy zwar einen tiefen Nachtschlaf hat, aber wenn er morgens aufwacht, kommt er sehr oft zum Kuscheln in mein Bett. Nicht, dass du dich wunderst oder erschreckst.« Sie zögerte. »Ich hoffe, du hast dagegen nichts einzuwenden. Für mich ist es sehr wichtig, Andy all die Liebe und Nähe zu geben, die er braucht.«

Lennart schlang seine Arme fest um ihren Körper und küsste sie zärtlich. Dann blickte er ihr tief in die Augen. »Dagegen werde ich ganz bestimmt nie, niemals etwas einzuwenden haben.«

***

»Puh, das ist ja gerade noch einmal gut gegangen.« Elfe-Sieben stieß ein tiefes, seliges Seufzen aus und schaltete nun auch den letzten verbliebenen Bildschirm an der Videowand aus. »Dieses Mal hatte ich wirklich Angst, dass es uns nicht gelingen könnte, wirklich alle Weihnachtswünsche zu erfüllen. Melissa war aber auch eine verdammt harte Nuss.«

Die Frau des Weihnachtsmannes lachte. »Das kannst du laut sagen. Glücklicherweise erfüllen sich manchmal solche Wünsche auch fast ganz von selbst, oder die Dinge wenden sich so, dass alles gut wird. Denn ich muss leider zugeben, dass wir diesmal kaum etwas zur Wunscherfüllung beitragen konnten.«

»Stimmt.« Elfe-Sieben tippte sich gedankenvoll mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe. »Nicht einmal Sissy konnten wir einen Auftrag erteilen, der uns weitergeholfen hätte.« Ihre Miene hellte sich auf. »Aber ein bisschen was haben wir schon geschafft, vor allem du. Denn du warst es doch, die ganz am Anfang die wichtigen Fäden gezogen hat, damit Lennart und Melissa aufeinander aufmerksam werden. Wer weiß, ob sich sonst alles so wunderbar gefügt hätte?«

Santas Ehefrau errötete über das Lob und lächelte. »Es ist lieb, dass du das sagst, Elfe-Sieben. Ich muss zugeben, dass ich anfangs skeptisch war, ob mein Plan wirklich aufgehen würde. Normalerweise schimpfe ich ja immer mit meinem Mann, wenn er solche gewagten Pläne ausheckt. Aber nun bin ich wirklich stolz und glücklich, dass alles doch noch und sogar rechtzeitig zu Weihnachten gut ausgegangen ist. Am besten schreibe ich Santa gleich mal eine Textnachricht, in der ich ihm von diesem wunderbaren Erfolg berichte. Das gibt ihm bestimmt noch einmal besonderen Aufwind auf seiner Reise um die Welt.« Schon zückte sie ihr Smartphone und begann, darauf herumzutippen. »So, das wäre erledigt.« Sie schob das Mobiltelefon wieder in ihre Hosentasche. »Und nun wird es auch für uns Zeit, endlich Weihnachten zu feiern, Elfe-Sieben. Na los, ruf alle Elfen zusammen, ich habe ein schönes Festessen für uns alle zubereitet.«