4. Kapitel

»Das noch und das noch und das«, zählte Andy auf, während er ein Päckchen Grieß, eine Dose Mais und einen Beutel Äpfel aus dem Einkaufswagen in dem großen Einkaufskorb verstaute, der sich im Kofferraum von Melissas in die Jahre gekommenem grünen Opel Corsa befand. »Machst du uns heute Abend Grießbrei, Mama?«, fragte er mit hoffnungsvoller Miene.

Melissa legte noch ein Paket Vollkorntoast, zwei Beutel geriebenen Käse und zwei Kartons mit Milch dazu. »Eigentlich hatte ich vor, uns heute Abend Sandwiches mit gegrilltem Käse zu machen. Die hattest du dir doch neulich gewünscht.«

»Au ja!« Andys Miene hellte sich noch mehr auf. »Das ist lecker. Aber den Grießbrei gibt es dann morgen, ja?«

Melissa lächelte. »Das lässt sich bestimmt einrichten. Was gab es denn heute in der Schule zum Mittagessen?«

Andy zog die Nase kraus. »Kartoffeln und Soße und so gegrilltes Gemüse. Tomaten und Zucchini und so andere Dinger. Ober… Irgendwas. Weiß nicht mehr.«

»Auberginen?«

Andy nickte heftig. »Ja, genau. Die waren aber ganz matschig und haben mir nicht geschmeckt. Aber die Tomaten waren lecker. Da war auch ein bisschen Käse drauf, aber nur ganz wenig. Machst du auf die Sandwiches bitte ganz viel Käse?«

»Na klar.« Melissa lachte. Sie staunte immer wieder, wie versessen ihr Sohn auf alles war, was sich Käse nannte. Bisher hatte er noch jede Sorte, die sie ausprobiert hatten, mit großem Genuss verspeist, auch wenn ihr selbst manches davon überhaupt nicht geschmeckt hatte. »Auf ein Käse-Sandwich gehört natürlich ordentlich Käse. Und zum Nachtisch essen wir die hier.« Sie legte eine offene Pappschachtel mit dunklen Trauben vorsichtig zuoberst auf den Einkäufen ab.

»Ich mag Trauben gerne«, verkündete Andy. »Darf ich jetzt schon welche?«

Melissa schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Die müssen erst gewaschen werden.«

»Na gut.« Andy zog zwar kurz einen Flunsch, fand seine gute Laune jedoch sofort wieder. »Frau Meierböck hat gesagt, dass wir morgen eine Feuerwehrübung mit der ganzen Schule machen. Da geht dann die Sirene, und dann müssen wir uns alle ordentlich aufstellen und aus dem Klassenzimmer gehen und dann nach draußen auf den Schulhof. Das Aufstellen haben wir heute sogar schon geübt.«

»Tatsächlich? Das klingt ja spannend. Vorsicht, Andy.« Sie bedeutete ihrem Sohn, einen Schritt zurückzuweichen, und schloss dann die Kofferraumklappe. »Und habt ihr das schon gut hinbekommen?«

»Ja. Das war lustig, weil Frau Meierböck erst gesagt hat, wir sollten uns alle aufstellen, und dann mussten wir uns wieder hinsetzen und hatten ganz normal Unterricht. Und dann hat sie auf einmal mit einem Glöckchen gebimmelt und gesagt, das wäre jetzt die Sirene, und dann mussten wir uns ganz schnell, aber nicht durcheinander, wieder an der Tür aufstellen. Das hat sie danach bei Mathe auch noch gemacht und dann sogar noch mal bei Sachkunde.«

»Das war aber jede Menge Aufregung heute in eurem Unterricht, oder?« Gewohnheitsmäßig ließ Melissa ihren Blick wachsam und prüfend über den großen Parkplatz des Supermarktes wandern. Jetzt am Nachmittag war ziemlich viel los, wie sie feststellte; ungewöhnlich für einen Dienstag.

»Ja, voll. Hat aber Spaß gemacht.« Andy ergriff ihre Hand. »Was guckst du denn da?«

Melissa zuckte ein wenig zusammen. Sie konnte sich einfach nicht abgewöhnen, immer wieder ihre Umgebung mit Blicken abzutasten, um sicherzustellen, dass niemand sie beobachtete. Sie fürchtete sich sehr davor, dass plötzlich Matthias irgendwo auftauchen könnte. Doch weit und breit war nichts Auffälliges zu erkennen. Deshalb zwang sie sich, ihren Sohn mit einem, wie sie hoffte, entspannten Lächeln anzublicken. »Gar nichts, mein Schatz. Ich war nur gerade in Gedanken.«

Als sie den Kopf wieder hob, fiel ihr Blick auf ein großes Werbeplakat vor dem gegenüberliegenden Baumarkt. »Aber weißt du was? Guck mal, dort drüben. Im Baumarkt gibt es diese Woche Umzugskartons im Angebot. Ich glaube, da gehen wir ganz rasch noch hin und holen uns welche. Schon bald müssen wir unsere Sachen packen. Bis zu unserem Umzug dauert es ja nicht mehr sehr lange.«

Sie hatte zwar noch keine Ahnung, wie sie all die Sachen, die sich überraschenderweise in den letzten anderthalb Jahren in ihrer winzigen Wohnung angesammelt hatten, mit ihrem winzigen Corsa transportieren sollte, doch zur Not musste sie einfach sehr oft hin- und herfahren. Vielleicht würden ihr auch Jana und Ellie helfen; angeboten hatten sie es zumindest bereits. Zum Glück mussten sie nur ganz wenige Möbel transportieren. Ein richtiges Umzugsunternehmen mit Lkw konnte Melissa sich nämlich leider nicht leisten.

»Kartons?« Bereitwillig folgte Andy ihr, als sie das Auto abschloss und auf den Baumarkt zuging. »So ganz große, wo total viel reinpasst?«

Melissa lachte. »Nein, allzu groß dürfen sie nicht sein, sonst passen sie ja nicht ins Auto. Aber ein paar Kartons brauchen wir auf jeden Fall, um all deinen Krempel darin zu verstauen.« Grinsend zwickte sie ihren Sohn in die Seite, der daraufhin quietschend auflachte und versuchte, sie ebenfalls zu zwicken. Lachend und herumalbernd schnappten sie sich einen Einkaufswagen und betraten den riesigen Baumarkt.

Die passenden Kartons waren schnell gefunden. Melissa entschied sich für zwei Bündel von jeweils unterschiedlicher Größe und ließ sich schließlich von Andy noch dazu überreden, eine hüfthohe, frech dreinschauende Vogelscheuche aus Stroh mitzunehmen, die sie nach ihrem Umzug vor der Haustür ihres neuen Zuhauses mit einem Erdspieß aufstellen konnten.

Leider war es auch im Baumarkt sehr voll, sodass sie eine ganze Weile an der Kasse anstehen mussten. Als sie endlich an der Reihe waren und sämtliche Waren auf das Band gelegt hatten, erklang plötzlich von irgendwo aus einem Lautsprecher eine laute schrille Fanfare. Melissa fuhr zusammen. Im nächsten Moment gab es einen Knall, und buntes Konfetti rieselte auf Melissa und Andy herab. Auch Andy war erschrocken und hatte sich im ersten Moment verängstigt an ihrer Hüfte festgekrallt, doch angesichts des bunten Konfettiregens kicherte er im nächsten Moment begeistert los und versuchte, die rieselnden Papierfetzen mit den Händen einzufangen.

Eine blonde Frau von etwa Mitte vierzig im schicken, dunkelblauen Businesskostüm trat wie aus dem Nichts auf Melissa zu, ergriff ihre Hand und schüttelte sie überschwänglich. »Ganz herzlichen Glückwunsch! Sie sind unsere einhunderttausendste Kundin! Ich bin Margret Marbach, die Geschäftsführerin, und möchte mich vielmals für Ihren Einkauf in unserem Hause bedanken.« Während sie sprach, zuckten mehrere Kamerablitze auf. Sowohl einige umstehende Kundinnen und Kunden als auch ein offenbar professioneller Fotograf schossen ein Foto nach dem anderen von Melissa und Andy. »Selbstverständlich gibt es von uns für Sie als einhunderttausendste Kundin eine ganz besondere Anerkennung.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Sie erhalten von uns einen Einkaufsgutschein in Höhe von«, sie lächelte breit, »exakt zehntausend Euro!« Wieder erklang eine Fanfare und ringsum wurde laut gejubelt und geklatscht. Margret Marbach schüttelte der vollkommen perplexen Melissa erneut die Hand. »Einlösen dürfen Sie den Gutschein innerhalb der kommenden drei Jahre. Ihr heutiger Einkauf geht selbstverständlich darüber hinaus ebenfalls aufs Haus.«

»Cool!« Andy zupfte an Melissas Arm. »Haben wir echt gewonnen?«

Nur mit Mühe löste Melissa sich aus ihrer Schockstarre. Sie versuchte zu lächeln und sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich zwar sehr über diesen Gewinn freute, zugleich jedoch zu Tode erschrocken war. »Ja, äh, ich glaube schon, mein Schatz.« Sie wandte sich an die Geschäftsführerin: »Vielen, vielen Dank! Ich bin ganz … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.« Erst jetzt fiel ihr das große bunte Banner auf, das über den Kassen hing und auf dem angekündigt wurde, dass der Baumarkt den hunderttausendsten Kunden oder die hunderttausendste Kundin suchte. Normalerweise achtete sie nicht auf solche Aktionen.

Damit sie die nach ihr kommende Kundschaft nicht weiter aufhielten, winkte die Geschäftsführerin Melissa und Andy ein Stückchen zur Seite. Melissa räumte rasch ihre Einkäufe in den Wagen zurück und schob ihn ebenfalls aus dem Weg.

»Ich kann Sie gut verstehen.« Margret Marbach lächelte ihr herzlich zu. »Das ist aber auch wirklich eine Überraschung, nicht wahr? Ich hoffe, Sie können mit unserem großzügigen Gutschein etwas Schönes anfangen. Oder haben Sie vielleicht schon Pläne?«

Melissa schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Wir ziehen bald um, deshalb habe ich die Kartons gekauft.« Sie deutete auf den Einkaufswagen. »Also nicht aus der Stadt weg, sondern einfach nur in eine andere Wohnung oder vielmehr in ein anderes Häuschen. Ich weiß noch nicht …« Sie blickte zu Andy. »Das müssen wir uns erst überlegen.«

»Dann kommt der Gutschein ja gleich doppelt günstig.« Die Geschäftsführerin strahlte sie an. »Ob sie nun renovieren möchten oder einen Garten anlegen oder schöne Accessoires oder Bastelideen für die Inneneinrichtung suchen – in Marbachs Bau- und Gartencenter finden Sie ganz bestimmt das Richtige.« Sie lachte. »Entschuldigen Sie, aber dieser Werbeslogan kommt mir mittlerweile sogar im Schlaf über die Lippen.« Sie winkte den Fotografen herbei, einen jungen Mann mit Brille und Vollbart. »Komm, Thomas, mach bitte noch ein paar Bilder von uns allen zusammen, einmal mit dem Gutschein und einmal ohne.« Während sie sprach, winkte sie noch jemandem zu, einem jungen Mann, der einen überdimensional großen Gutschein aus festem Pappkarton mitbrachte. An Melissa gewandt erklärte sie: »Den dürfen Sie selbstverständlich gerne mitnehmen, wenn Sie möchten. Zum Einkaufen erhalten Sie aber natürlich eine spezielle Gutscheinkarte im Kreditkartenformat. Die können Sie an der Kasse bei jedem Ihrer Einkäufe vorzeigen, dann wird sie gescannt und der jeweilige Betrag vom Gesamtguthaben abgebucht.« Schon stellte sie sich neben Melissa auf. »Und jetzt noch einmal bitte recht freundlich! Auch du, mein Junge.«

»Warten Sie!« Melissas Herz klopfte nervös in ihrer Brust. »Ich möchte nicht …« Sie räusperte sich. »Müssen diese Fotos sein? Ich möchte ehrlich gesagt nicht, dass irgendwo in der Zeitung oder im Internet ein Bild von mir erscheint. Oder von Andy.«

»Okay.« Margret Marbach lächelte unvermindert weiter. In ihre Augen war ein verständnisvoller Ausdruck getreten. »Diesen Wunsch werden wir selbstverständlich respektieren.« Sie blickte den Fotografen bedeutungsvoll an. »Du hast das gehört, Thomas. Alle Fotos, die du heute hier machst, sind nur für interne Zwecke freigegeben.« Sie wandte sich wieder an Melissa. »Das bedeutet, wir archivieren sie in unserem Computersystem. Wir möchten zwar einen Zeitungsartikel über Ihren Gewinn veröffentlichen, aber das können wir auch gerne ohne Foto machen, oder wir zeigen nur ein Bild von dem Gutschein selbst, auf dem Sie nicht zu sehen sind. Auch Ihren Namen können wir gerne in gekürzter Form veröffentlichen oder komplett weglassen. Das liegt ganz bei Ihnen.« Sie hüstelte. »Ein Problem könnten höchstens die Leute sein, die eben privat Bilder von Ihnen gemacht haben.«

Ehe Melissa sichs versah, trat Margret Marbach einen Schritt vor und breitete die Arme aus, um auf sich aufmerksam zu machen. »Liebe Kundinnen und Kunden!«, rief sie mit überraschend weittragender Stimme. »Ich möchte kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Wie ich gerade erfahren habe, möchte unsere Gewinnerin des Gutscheins nicht, dass Fotos von ihr irgendwo öffentlich gezeigt oder gepostet werden. Selbstverständlich freuen wir uns alle mit ihr über diesen wunderbaren Gewinn, doch bitte haben Sie Verständnis und veröffentlichen Sie die Fotos oder Videos, die sie eben gemacht haben, nirgendwo ohne Erlaubnis.«

Einige Leute nickten, einige klatschten sogar in die Hände.

Zufrieden trat Margret Marbach zurück an Melissas Seite. »Wir können natürlich nicht sicher sein, dass wir damit alle Leute erreicht haben, die eben hier waren. Einige haben den Laden möglicherweise schon wieder verlassen.«

Melissa nickte, halb erleichtert, halb besorgt. »Danke. Ich schätze, das muss jetzt so gehen. Ich bin nur …« Sie suchte nach Worten. »Ich bin ein bisschen empfindlich, was Fotos von uns angeht.«

»Das dürfen Sie selbstverständlich sein.« Die Geschäftsführerin tätschelte ihr mütterlich den Arm. »Nicht jeder Mensch reißt sich darum, in die Öffentlichkeit gezogen zu werden. Wie gesagt, dafür haben wir hier alle volles Verständnis, Frau …« Sie lachte. »Ich weiß noch nicht einmal ihren Namen. Den brauchen wir aber auf jeden Fall und auch ihre Adresse, um die Gutscheinkarte ausstellen zu können. Sie wird Ihnen dann innerhalb der kommenden fünf Werktage per Post zugestellt. Bis dahin geben wir Ihnen ein Dokument, das Sie zum Einkaufen mit herbringen müssen, falls Sie vorher schon auf Ihr Guthaben zurückgreifen möchten.«

»Mein Name ist Melissa Lange.« Melissa nannte auch noch Ihre Adresse sowie Ihre E-Mail-Adresse, die von dem jungen Assistenten eifrig notiert wurden.

»Wunderbar, liebe Frau Lange.« Margret Marbach nickte gut gelaunt und zwinkerte auch Andy fröhlich zu. »Aber nun trotzdem bitte noch einmal recht freundlich, ihr beiden, damit ich zumindest allen unseren Mitarbeitern und meiner Familie später die Fotos zeigen kann.«

***

Es war bereits kurz vor acht, als Andy endlich eingeschlafen war. Er war ganz aufgedreht gewesen, nicht nur wegen des unverhofften Gewinns im Baumarkt, sondern auch wegen der versprochenen Grillkäse-Sandwiches, die es natürlich noch gegeben hatte. Deshalb hatte Melissa ihm über eine halbe Stunde etwas vorgelesen und ihm schließlich noch ein Hörspiel eingeschaltet, das nun endlich zum gewünschten Erfolg geführt hatte. Sie atmete erleichtert auf, als sie einen letzten Blick durch den Türspalt auf sein Bett warf und sich vergewisserte, dass er wirklich tief und fest schlief.

Vorsichtig schloss sie die Tür wieder und begab sich in ihr Wohn-Schlaf-Zimmer, wo die mitgebrachten Umzugskartons nun am Schreibtisch lehnten. Sie ließ sich auf der Couch nieder und zog eines der Kartonpakete zu sich heran, betrachtete es, stellte es dann jedoch wieder zurück an seinen Platz. Sie war nervös, und es war ihr schwergefallen, sich das vor Andy nicht anmerken zu lassen. Sie wollte ihn nicht mit ihrer Angst anstecken. Schließlich zog sie sich ihren Laptop auf den Schoß, klappte ihn auf und suchte Facebook und Instagram und sogar YouTube nach Fotos oder Videos vom heutigen Tag und im Baumarkt ab. Sie hatte sich hierzu extra nichtssagende anonyme Profile in den sozialen Netzwerken eingerichtet. Zu ihrer Erleichterung fand sie nirgendwo ein Foto oder auch nur den kleinsten Hinweis auf sich selbst oder auf Andy. Dennoch blieb sie unruhig. Was, wenn sie einen Post übersah? Sie konnte unmöglich alle Bilder oder Videos finden, die hochgeladen wurden. Zwar war sie mittlerweile einigermaßen geübt darin, nach entsprechenden Hashtags oder Suchwörtern zu filtern, dennoch war ihr bewusst, dass sie mit ihrer Suche immer nur an der Oberfläche kratzte. Sie konnte nur hoffen, dass es Matthias ebenso gehen würde. Allerdings hatte er wesentlich mehr finanzielle Mittel als sie und konnte sich Spezialisten und auch die entsprechende Technik leisten, um das Internet weitaus effektiver abzusuchen.

Als sie merkte, dass ihre Augen zu brennen begannen, blinzelte sie energisch dagegen an. Es war so ungerecht, dass sie sich nicht einmal über diesen fantastischen Gewinn richtig freuen konnte. Dass sie ständig auf der Hut sein musste und Angst hatte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und damit ihren Ex hierherzulocken. Bislang hatte sie noch mit niemandem über ihre Situation geredet, sah man einmal von ihrer Anwältin und den Sozialarbeiterinnen ab. Selbst ihre neuen Freunde wussten nicht, dass sie sich auf der Flucht befand. Sie hatte gedacht, dass es so bleiben musste, doch allmählich stieg in ihr die Befürchtung auf, dass sie auf diese Weise auch nirgendwo Hilfe erhalten würde.

Es gab hier Menschen, denen sie vertrauen konnte, das wusste sie – zumindest mit dem Kopf. An ihrer Angst änderte dies jedoch nichts, auch wenn sie vielleicht teilweise irrational war. Wenn sie sich Jana und Oliver oder Ellie anvertraute, würden diese ganz sicher niemand sonst etwas davon erzählen. Sie konnte nicht ewig so weitermachen. Dieses dauernde Verstecken, das Zusammenzucken, wenn sie irgendwo auch nur eine Handykamera erblickte, die in ihre Richtung zeigte, war auf Dauer ungesund. Sie hatte mittlerweile schon einen regelrechten Verfolgungswahn entwickelt. Wo auch immer sie sich befand, scannte sie zuerst ihre Umgebung, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete. Ständig hatte sie das Gefühl, Blicke in ihrem Rücken zu spüren. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht schweißgebadet auf, weil sie geträumt hatte, dass sie aus einem Laden trat oder aus dem Auto stieg oder einfach nur ihre Wohnung verließ und plötzlich Matthias grinsend vor ihr stand.

Zögernd fischte sie das Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, entsperrte es und rief ihre nicht allzu lange Kontaktliste auf. Nur sehr wenigen Menschen hatte sie ihre Nummer gegeben, nicht einmal ihre Mutter kannte sie. Für Anrufe bei ihr oder bei Bank oder Behörden gab es ein billiges Prepaid-Gerät ohne GPS, das sie nur zu diesem Zweck angeschafft hatte und immer gleich wieder ausschaltete. Sie war paranoid, ganz eindeutig.

Zögernd rief sie Janas Nummer auf und ließ eine ganze Weile ihre Finger über dem Display schweben, bevor sie schließlich tief durchatmete und auf Wählen tippte.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, während sie wartete, und sie erschrak fast, als Jana sich meldete.

»Hallo, Melissa, wie geht es dir?« Ihre Chefin und mittlerweile Freundin klang vergnügt. »Ich hoffe doch, gut. Bitte, bitte sag nicht, dass einer von euch beiden krank ist und du morgen nicht in den Laden kommen kannst. Das wäre eine Katastrophe. Falls ihr euch irgendetwas eingefangen haben solltet, müsst ihr über Nacht unbedingt wieder gesund werden.« Sie lachte. »Nein, Quatsch. Was gibt es?«

Melissa versuchte sich an einem Lachen, das jedoch reichlich kläglich ausfiel. »Keine Sorge, Jana, uns geht es gut. Ich habe nur … Ich dachte …« Sie räusperte sich und setzte erneut an: »Ich hätte eine Frage an dich oder vielmehr an Oliver. An euch beide«, verbesserte sie sich. »Oder eine Bitte.«

»Eine Frage oder eine Bitte? Jetzt machst du mich neugierig.« Janas Stimme wurde ein wenig ernster. »Worum geht es denn?«

Melissa biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, es war albern, aber … »Das möchte ich nicht so gerne am Telefon besprechen. Können wir uns irgendwann irgendwo treffen? Ich weiß, es ist schon spät, und es muss auch nicht heute sein, wenn ihr keine Lust oder keine Zeit habt. Es geht auch irgendwann später, aber … also …«

»Stimmt etwas nicht, Melissa?« Nun klang Jana alarmiert.

Melissa fluchte innerlich. »Nein, es ist alles in Ordnung. Nur …« Sie seufzte. »Es ist etwas schwierig zu erklären.«

Sie hörte, wie Jana etwas flüsterte, offensichtlich in Olivers Richtung, der sich wahrscheinlich direkt neben ihr befand. Danach war sie wieder deutlich zu verstehen. »Sollen wir jetzt gleich bei dir vorbeikommen?«

Melissa schluckte, sog tief den Atem ein, dann nickte sie. »Das wäre gut.«

»Wir sind schon unterwegs. Dauert nur ein paar Minuten.« Schon hatte Jana die Verbindung unterbrochen.

Melissa blickte einen langen Moment schweigend auf das Display ihres Handys, dann ließ sie sich aufatmend in die viel zu weichen Polster ihres Sofas sinken und blickte zur Zimmerdecke hinauf.

***

So saß sie immer noch da, als nur knapp zehn Minuten später eine Textnachricht von Jana kam, dass sie und Oliver vor der Haustür stünden. Hastig sprang sie auf, strich ihre Bluse glatt und mit den Fingern einmal kurz durch ihre Haare. Erneut von Nervosität erfasst, betätigte sie den Summer, öffnete, als sie Schritte auf der Treppe hörte, nach einem raschen Blick durch den Türspion die Wohnungstür und ließ Jana und Oliver eintreten. Sie hatten Scottie nicht mitgebracht, was wahrscheinlich gut war, denn der fröhliche, aber tollpatschige Hund hätte Andy bestimmt wieder aufgeweckt, und das wollte sie vermeiden. Deshalb legte sie auch sofort den Zeigefinger an die Lippen, um ihren beiden Gästen zu signalisieren, dass sie leise sein mussten.

Sie führte die beiden ins Wohnzimmer, bot ihnen etwas zu trinken an, und nur wenige Minuten später saßen sie bei geschlossener Zimmertür beisammen – Jana und Oliver auf dem Sofa, sie selbst auf dem Schreibtischstuhl.

»Und jetzt erzähl, was passiert ist.« Jana beugte sich ein wenig vor und nahm Melissas Hand, um sie leicht zu drücken. »Es ist doch etwas passiert, oder etwa nicht?«

»Ja. Nein, nicht direkt.« Verzagt brach Melissa ab. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Verlegen blickte sie von Jana zu Oliver und stellte wieder einmal bei sich fest, wie gut die beiden zusammenpassten. Schon allein optisch waren sie ein sehr schönes Paar. Beide hatten dunkelbraunes Haar und braune Augen, wobei die von Oliver mehr rehbraun waren und die von Jana dunkler Schokolade glichen. Beide waren sehr attraktiv, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Oliver wirkte ein wenig rau und kantig, während Jana eine weiche, liebenswürdige und ein wenig esoterische Ausstrahlung besaß. Während Oliver mit Jeans und einem braunen Pullover bekleidet war, trug Jana ein knielanges buntes Strickkleid, schwarze Thermostrumpfhosen und hohe Stiefel mit Blockabsatz. Dazu hatte sie eine lange, silbrig glitzernde Kette aus Glasornamenten gewählt, die sie selbst entworfen hatte, und die passenden Ohrringe. Auf den ersten Blick waren die beiden sehr verschieden, doch wenn man sie zusammen sah, stellte man schnell fest, dass sie einander perfekt ergänzten – nicht nur äußerlich, sondern auch, was ihre Eigenschaften anging. Jana war eine Künstlerin durch und durch, dazu spirituell, romantisch und temperamentvoll. Oliver war mehr der ruhige, zurückhaltende, rationale Typ. Seit einem Jahr nun waren die beiden glücklich miteinander liiert und mittlerweile sogar verlobt.

Ehe sich Melissa zu sehr in die Betrachtung der beiden vertiefte, versuchte sie erneut, ihr Anliegen in Worte zu fassen: »Ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, ob ich mehr eine Frage oder eine Bitte an euch habe. Es ist nur so, dass ich nicht mehr weiterweiß und …« Sie nickte vor sich hin. »Ich glaube, ich brauche einfach einen Rat. Ihr dürft aber niemandem – wirklich niemandem! – etwas darüber erzählen. Ich kann nicht riskieren, dass etwas davon bekannt wird und Matthias mich oder vielmehr uns findet.«

»Wer ist Matthias?« Jana warf Oliver einen Blick zu, der verriet, dass sie es sich vermutlich schon denken konnte.

Melissa holte tief Luft. »Matthias ist mein Exmann. Wir sind seit etwas mehr als zwei Jahren geschieden.« Rasch verschränkte sie ihre Hände ineinander, weil sie ein wenig zu zittern begonnen hatten. »Es besteht ein Kontaktverbot für ihn. Er darf sich mir oder Andy nicht nähern und keinen Kontakt in irgendeiner Form zu uns aufnehmen.« Sie schluckte hart. »Zumindest im Augenblick noch. Er hat aber schon einmal gleich nach der Scheidung versucht, das Verbot rückgängig zu machen, zumindest im Hinblick auf Andy. Im Augenblick weiß er nicht, wo wir wohnen. Ich bin aber nicht sicher, wie lange das noch so bleibt, denn er hat viel Geld; seine Familie ist reich. Wahrscheinlich hat er eine ganze Armee von Privatdetektiven darauf angesetzt, uns zu suchen.« Sie presste kurz die Lippen aufeinander. »Wenn er uns erst einmal gefunden hat, wird er wieder versuchen, sein Kontaktrecht zu Andy durchzusetzen, und dann wird er bestimmt alles daransetzen, mir das Sorgerecht zu nehmen, und dann …« Für einen Moment blieb ihr die Luft weg.

Für einen langen Augenblick war es vollkommen still im Raum, schließlich ergriff Jana erneut Melissas Hand. »Ich nehme an, er hat euch beide misshandelt?«

Melissa nickte. »Anfangs nur mich, dann aber wurde er plötzlich auch gegen Andy gewalttätig. Deshalb sind wir in ein Frauenhaus geflohen. Dort hat man uns sehr geholfen. Ich konnte mithilfe einer Anwältin die Scheidung einreichen und dieses Kontaktverbot erwirken. Er hat aber, wie gesagt, schon damals versucht, dagegen anzugehen.« Nervös fuhr sie sich durchs Haar. »Er will Andy zurück. Mich natürlich auch, und er weiß genau, dass er das nur über Andy schaffen kann. Kurz nachdem ich die Scheidung eingereicht hatte, hat er seine Anwälte darauf angesetzt. Sie wollten erwirken, dass er regelmäßig Umgang mit Andy bekommt. Glücklicherweise hat das Gericht damals zu unseren Gunsten entschieden, aber inzwischen ist so viel Zeit vergangen …« Ratlos hob sie die Schultern. »Ich fürchte, dass er beim nächsten Mal Erfolg haben wird. Er kann sehr überzeugend sein und hat, wie gesagt, genug Geld, um sich alle Anwälte der Welt zu kaufen.«

»Und wie können wir dir in dieser Sache helfen – oder Rat geben?«, wollte Oliver wissen. »Ich könnte natürlich versuchen herauszufinden, was er vorhat.«

Ruckartig hob Melissa den Kopf. »Ich fürchte, das kann ich nicht bezahlen.«

»Ich habe nicht gesagt, dass du es bezahlen musst.« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Wenn du willst, kann ich meine Fühler vorsichtig ausstrecken.«

»Das wäre …« Sie zögerte. »Ich weiß nicht. Er darf auf keinen Fall herausfinden, wo wir sind. Zumindest nicht, solange dieses Kontaktverbot noch gilt. Wenn er erst einmal weiß, wo wir sind, dann wird er Mittel und Wege finden, uns wieder …«

»Wehzutun?«, hakte Jana vorsichtig nach. »Glaubst du, er würde Andy entführen?«

Melissa zögerte, schüttelte jedoch schließlich den Kopf. »Nein, damit würde er sich ja strafbar machen. Aber er wird mich wissen lassen, dass er weiß, wo wir sind, und dass er uns beobachtet. Und dann wird er sich etwas einfallen lassen, wie er mich dazu zwingen kann, zu ihm zurückzukehren, damit er wieder Gewalt über uns beide hat.«

»Ihr seid aber doch geschieden«, warf Jana ein. »Das muss er doch akzeptieren.«

Melissa winkte ab. »Ich weiß nicht, ob er das je akzeptieren wird. Er hat immer darauf bestanden, dass wir füreinander bestimmt sind und dass ich ihn nie verlassen darf, weil nur er mich vor allem beschützen kann und so.«

»Oh.« Der besorgte Ausdruck auf Janas Miene verstärkte sich noch. »Oje. So jemand ist er?«

»Er hat dich also auch psychisch unter Druck gesetzt«, folgerte Oliver mit grimmiger Miene. »Und wahrscheinlich jeden Übergriff auf dich so dargestellt, dass du selbst daran schuld warst oder er einfach vor lauter Liebe nicht mehr anders konnte?«

»Wie abscheulich!« Jana schauderte heftig.

»Aber nicht untypisch«, knurrte Oliver. »Männer wie ihn gibt es leider viel zu viele, und immer wieder schaffen sie es, Frauen von sich abhängig zu machen, auch wenn diese Frauen es eigentlich besser wissen müssten. Aber wenn man einmal in solch einer ungesunden Abhängigkeit steckt, ist es verdammt schwierig, da wieder herauszufinden. Was das angeht, habe ich beruflich auch schon so einiges gesehen.«

Melissa rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich dachte wirklich, ich wäre bei ihm sicher und endlich weg von … allem. Von meiner Mutter, meiner Vergangenheit. All das hat er mir versichert, als wir uns kennenlernten. Ich wurde von ihm schwanger, noch bevor ich mein Abitur hatte.« Resigniert schüttelte sie über sich selbst den Kopf. »Natürlich hätte ich es besser wissen müssen, aber er war so überzeugend, so nett und liebevoll und voller Verständnis für meine Situation.« Sie hob den Kopf. »Es war immer schwierig mit meinen Eltern, und nachdem mein Vater gestorben war, wurde meine Mutter noch schlimmer. Sie hat mich auf Schritt und Tritt kontrolliert und mir nicht das kleinste bisschen Freiraum erlaubt. Natürlich habe ich ständig nach Möglichkeiten gesucht, aus dieser Situation auszubrechen.« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Und dabei bin ich ausgerechnet auf einen Mann hereingefallen, der meiner Mutter als Schwiegersohn sogar ausnehmend gut gefallen hat, zumindest schien es mir auf den ersten Blick so, weil sie keinerlei Einsprüche erhoben hat, sondern froh war, dass der Kindsvater zu seinen Pflichten stand. Zwar war sie dann auch entsetzt, als sie von den Misshandlungen erfuhr, aber davon habe ich ihr erst erzählt, nachdem ich schon mit Andy geflohen war. Vorher konnte ich es ihr nicht sagen. Matthias hat immer dafür gesorgt, dass ich möglichst wenig Kontakt zu ihr hatte und wenn, dann nur, wenn er anwesend war. Aber ich habe mich auch viel zu sehr geschämt, als dass ich mich meiner Mutter anvertraut hätte. Sie war ja nie besonders verständnisvoll gewesen, wenn es um mein Leben, meine Wünsche und so weiter ging. Immer nur hat sie getan oder durchgesetzt, was mein Vater wollte.«

»Gute Güte.« Jana starrte sie so entgeistert an, wie man es von einer herzensguten Person wie ihr erwarten konnte. »Warum hast du uns denn nie davon erzählt?«

»Selbstschutz«, antwortete Oliver an Melissas Stelle. »Je weniger Menschen etwas wissen, desto sicherer hat Melissa sich davor gefühlt, dass jemand sie absichtlich oder versehentlich verraten konnte.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Aber jetzt ist offenbar etwas passiert, was dich dazu veranlasst hat, uns einzuweihen. Hat er in irgendeiner Form versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen?«

»Nein.« Wieder lachte Melissa bitter auf. »Ich habe einen Gutschein gewonnen. Im Baumarkt«, fügte sie rasch hinzu, als Jana und Oliver einander verblüfft ansahen. »Wahrscheinlich wird es morgen in der Zeitung stehen, glücklicherweise aber ohne Foto und ohne dass mein Name genannt wird. Das konnte ich verhindern.«

»Moment mal!« Janas Augen weiteten sich. »Sag bloß, du hast bei dieser großen Aktion im Baumarkt gewonnen?« Sie legte Oliver aufgeregt eine Hand auf den Arm. »Da hängt schon seit fast zwei Wochen so ein großes Banner über der Kasse, dass sie den hunderttausendsten Kunden suchen.« Nun wandte sie sich wieder Melissa zu. »Da hast du gewonnen?«

Beklommen nickte Melissa. »Einen Gutschein über zehntausend Euro.«

»Wow! Herzlichen Glückwunsch.« Es war Jana anzusehen, dass sie zwischen Freude und Besorgnis hin- und hergerissen war. »Das ist ja der Wahnsinn!«

»Aber auch ein großes Risiko für Melissa und Andy«, fügte Oliver hinzu. »Wenn der Baumarkt so etwas veröffentlicht, ob nun in der Zeitung oder im Internet, könnte diese Spur Matthias hierherführen. Wenn er tatsächlich über die entsprechenden Mittel verfügt, dürfte es ihm nicht schwerfallen, solche Meldungen aus dem Internet fischen zu lassen.« Er maß Melissa mit aufmerksamem Blick. »Soweit ich es verstanden habe, konntest du das aber verhindern?«

»Ja, ich habe die Geschäftsführerin sofort darauf hingewiesen, dass weder mein Bild noch mein Name öffentlich genannt oder gezeigt werden dürfen«, bestätigte Melissa. »Sie war sehr verständnisvoll und hat mir das auch sofort zugesichert. Das Problem ist nur …«

»Es waren jede Menge Kunden im Laden«, folgerte Oliver sofort. »Und die haben ebenfalls Fotos gemacht – oder sogar Videos?«

Melissa nickte erneut. »Frau Marbach, das ist die Geschäftsführerin, hat zwar sofort ein paar Worte an die Anwesenden gerichtet und darum gebeten, nichts irgendwo zu veröffentlichen, aber wir wissen nicht, ob das bei allen angekommen ist, weil einige Kunden wahrscheinlich schon wieder gegangen waren.« Ratlos hob sie die Schultern. »Vielleicht bin ich auch einfach nur total paranoid. Ich meine, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Matthias ausgerechnet irgendein Foto von mir in diesem Baumarkt zu sehen bekommt, wenn irgendjemand es irgendwo postet? Mein Name wurde ja gar nicht genannt, sodass ihn niemand dazuschreiben kann, und verlinken oder taggen kann mich auch niemand, weil ich in den sozialen Netzwerken nur leere, anonyme Profile betreibe, die niemand außer mir kennt.«

Bedächtig nickte Oliver vor sich hin. »Die Wahrscheinlichkeit ist auch aus meiner Sicht sehr gering. Es ist sicherlich nicht optimal, aber zu viele Sorgen solltest du dir trotzdem nicht machen.« Er beugte sich ein klein wenig vor. »Ich fürchte aber, dass du dich nicht für immer vor ihm verstecken können wirst. Spätestens, wenn er erneut versucht, das Kontaktverbot aufzuweichen, wird er in Erfahrung bringen, wo du jetzt lebst.« Er runzelte die Stirn. »Ist er nicht sowieso verpflichtet, Unterhalt für Andy zu zahlen? Wie habt ihr das geregelt?«

Melissa versuchte, sich zu entspannen. Dass sie sich Jana und Oliver anvertraut hatte, fühlte sich besser an als gedacht. »Er muss das Geld auf ein Tagesgeldkonto einer Onlinebank einzahlen, zu dem er nur die Kontonummer kennt.« Eine leichte Gänsehaut rieselte ihr über den Rücken. »Zumindest hoffe ich, dass er darüber meinen Wohnort nicht herausfinden kann. Man hat mir damals versichert, dass das auf legalem Weg nicht möglich ist. In Absprache mit meiner Anwältin habe ich das Konto mit der Adresse eines Postfachs an ihrem Wohnort eröffnet, auf das sie Zugriff hat. Sie lässt mir alle Briefe der Bank regelmäßig zukommen. Allerdings habe ich es schon so eingestellt, dass die meisten Nachrichten an mich per E-Mail zugestellt werden.« Sie schluckte. »Ich habe von dem Geld bisher noch nicht einen Cent angerührt. Ich will es gar nicht haben, doch Matthias ist nun einmal nach der Scheidung gesetzlich dazu verpflichtet, für Andy Unterhalt zu zahlen. Ich weiß nicht, ob Andy das Geld eines Tages haben möchte. Ich werde es für ihn verwalten, und wenn er alt genug ist, soll er selbst entscheiden, was damit passieren soll.«

»Du meine liebe Güte.« Jana erhob sich, trat auf Melissa zu, zog sie vom Stuhl hoch und in ihre Arme. »Ich habe mich ehrlich gesagt schon immer gefragt, warum du so ganz alleine mit Andy auf der Welt zu sein scheinst. Aber mit so etwas hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.« Sanft drückte sie Melissa an sich. »Selbstverständlich werden wir dir auf jede nur erdenkliche Weise helfen, soweit es in unserer Macht steht.« Sie blickte über die Schulter zu Oliver. »Kannst du herausfinden, was er im Schilde führt?«

Oliver nickte. »Wenn er etwas im Schilde führt, dann finde ich das heraus, ganz sicher. Es wird vielleicht ein bisschen dauern. Hast du seine aktuelle Anschrift?«, wandte er sich an Melissa.

Melissa ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. »Ja, natürlich. Er wohnt noch immer im selben Haus wie damals. In Berlin.« Sie drehte sich mit ihrem Stuhl, zog eine der beiden Schubladen am Schreibtisch auf und wühlte darin, bis sie einen Notizblock gefunden hatte. Rasch notierte sie für Oliver die Adresse und sogar die Telefonnummer.

Er schob sich den Zettel in die Brusttasche seines Hemdes. »Macht dich nicht zu sehr verrückt«, sagte er in einem ruhigen Ton, den er vermutlich all seinen Kundinnen und Kunden gegenüber anschlug. Als Privatdetektiv wusste er sicherlich mit solchen Situationen umzugehen. »Allerdings«, fügte er bedächtig hinzu, »wäre es meiner Ansicht nach angebracht, dich mit deiner Anwältin noch einmal zu beraten. Ich staune, dass sie dieses Versteckspiel bisher befürwortet hat. Selbstverständlich geht der Opferschutz immer vor«, schränkte er rasch ein, bevor Melissa protestieren konnte. »Doch so, wie du eure Lage schilderst, scheint es mir nur eine Frage der Zeit zu sein, bis dein Ex erneut zum Angriff übergeht. Ihr solltet euch entsprechend wappnen und euch überlegen, wie ihr dagegen vorgehen könnt, falls das überhaupt möglich ist. Ich weiß, das hörst du jetzt sicherlich nicht gerne, aber wenn er vor Gericht glaubhaft machen kann, dass er Andy keinen Schaden zufügen will, wird kaum ein Richter ihm auf Dauer den Kontakt zu seinem Kind verwehren.«

Unwillkürlich schauderte Melissa. »Ich weiß. Er wird irgendwann versuchen, mir Andy wegzunehmen, aber nur, weil er weiß, dass ich das niemals zulassen werde. Und dann hat er auch mich wieder zurück.«

»Nein!« Jana ging vor Melissa in die Hocke. Energisch ergriff sie ihre Hände und drückte sie. »Das lassen wir nicht zu.« Sie warf über die Schulter einen Blick zu Oliver, der etwas verhalten die Schultern hob, dann jedoch zustimmend den Kopf neigte. »Wir finden schon einen Weg, dir und Andy zu helfen. Ganz bestimmt. Es ist gut, dass du uns ins Vertrauen gezogen hast. Ich weiß gar nicht, wie du das all die Zeit geschafft hast, so ganz auf dich gestellt. Das muss doch unglaublich schwer gewesen sein, oder?«

Schweigend nickte Melissa, presste die Lippen aufeinander und blinzelte mehrmals, konnte jedoch nicht verhindern, dass eine Träne ihr über die Wange rann. Hastig drehte sie den Kopf, um sie an ihrer Schulter abzuwischen. Sie wollte nicht weinen, denn Tränen, so fürchtete sie, machten sie schwach. Schwäche durfte sie sich aber auf gar keinen Fall erlauben. »Ich danke euch«, brachte sie schließlich mit einigermaßen fester Stimme heraus. »Ist klar, dass ich nicht für immer vor Matthias auf der Flucht sein kann. Auf diese Weise habe ich mich aber in den letzten zwei Jahren einigermaßen sicher gefühlt. Es ist nur so …«

»Es ist eine trügerische Sicherheit«, vollendete Oliver verständnisvoll den Satz. »Heutzutage ist es gerade über das Internet selbst für Laien relativ leicht, an Informationen zu gelangen. Bisher hast du bestimmt einen guten Job gemacht, wenn es darum ging, deine Spuren zu verwischen. Aber manchmal steckt der Teufel im Detail. Du kannst nicht wissen, ob du nicht doch irgendwo und irgendwann einmal auf irgendeinem Bild auftauchst oder dein Name irgendwo genannt wird und im weltweiten Netz landet.«

»Ich weiß einfach nicht mehr weiter«, gestand Melissa dumpf. »Wie gesagt, er hat genug Geld, um eine ganze Armada von Privatdetektiven auf mich anzusetzen. Möglicherweise wartet er auch nur den richtigen Zeitpunkt ab, um zuzuschlagen.« Sie schluckte hart. »Wörtlich und im übertragenen Sinn.«

»Ach, Melissa.« Erneut zog Jana sie vom Stuhl hoch und in eine feste Umarmung. »So negativ darfst du nicht denken. Immerhin hast du Rechte, und du kannst auch beweisen, dass er euch misshandelt hat, nicht wahr? Ich bin sicher, wir finden einen Weg, ihn davon abzuhalten, dir oder Andy noch einmal wehzutun.« Sie brachte ihren Mund ganz dicht an Melissas Ohr. »Ganz bestimmt«, flüsterte sie. »Wir sind für euch da.«