’CAUSE EVERYBODY WANTS TO FEEL LOVE. EVERYBODY WANTS TO BE ADORED-DORED

Levy

»W-was genau hast du dir denn unter Livegehen vorgestellt?«, antwortet Charlie mit Verzögerung, und so monoton, wie sie dabei klingt, ist sie definitiv nicht bereit. Sie wird rot, während sie eines dieser kringeligen Plastikhaarbänder von ihrem Handgelenk zieht, um sich damit die Haare zurückzubinden.

»Nichts Weltbewegendes.«

Ich tue so, als hätte ich gerade nicht das Gefühl, mit meiner gut gemeinten Kooperationsanfrage gegen Charlies Willen zu handeln. Es ist derselbe Ton, in dem mich starrköpfige Raser früher für meine ausgezeichnete Polizeiarbeit beglückwünscht haben, nur damit sie sich anschließend über den Drecksbullen aufregen konnten, der sie in der Spielstraße mit sechzig erwischt hat.

»Ich nehme mir mein Handy, und sobald wir auf dem Festivalgelände sind, gehen wir live. Damit es nicht allzu chaotisch wird, suchen wir unterwegs die besten Fragen aus … Wir müssen nicht sofort los«, schiebe ich noch schnell hinterher, als ich Charlies Gesichtsausdruck registriere.

Es wirkt, als würde sie mir am liebsten den Rücken zudrehen und weglaufen; ihre Hände reibt sie wieder über den Jeansstoff an ihren Armen. Ich habe keine Ahnung, wofür Charlie eine Jacke braucht. Es hat selbst im Schatten schon über zwanzig Grad, was auch der Grund dafür ist, dass ich ein lockeres Hemd mit Lochstrickmuster und dazu passend beprintete kurze Shorts trage. Aber dann beginnt Charlie damit, mit zitternden Händen an ihrer Jacke herumzunesteln, und ich vermute, sie will nicht, dass ich sehe, wie aufgeregt sie ist. Vielleicht braucht sie auch einfach etwas, woran sie sich festhalten kann. Kann ich nach der Begegnung mit Leon gestern definitiv nachvollziehen.

Charlie öffnet den Mund, aber kein Ton kommt heraus. Sie schluckt hart. »Das heißt, wir müssen definitiv aufs Gelände, ja?« Aus ihrem Mund klingt das, als empfände sie es als heftige Bedrohung. »Bist du sicher? Wollen wir nicht vielleicht einfach hier …?«

Wieso klingt Charlie jetzt so, als hätte sie mir mit dieser einen noch eine Million weitere Fragen gestellt? Mir ist vorhin schon aufgefallen, dass der Gedanke, aufs Festivalgelände zu gehen, Charlie wahnsinnig unter Druck setzt. Gleichzeitig versucht sie mit aller Gewalt, sich nichts anmerken zu lassen. Puh, das ist kompliziert. Ich will Charlie helfen, und wenn ich ihr dabei wieder so nahe kommen kann wie eben …

Fuck, ich ziehe ganz bestimmt keinen Vorteil aus Charlies Ängsten.

Vielleicht hau ich besser einen der Motivationssprüche raus, die ich manchmal beim Scrollen auf Pinterest entdecke und an Otis weiterleite, der sie wiederum in witzige Bullshit-Quotes umwandelt. Aber ich glaube nicht, dass Charlie so etwas wie 4+3 ist sieben, aber 2+5 ist auch sieben – finde deinen eigenen Weg gerade ermutigen würde. Das ist so was von nicht hilfreich.

Nachdenklich schiebe ich die Hände in die Hosentaschen. »Charlie?«

»Hm?«

»Wenn dich so viele Menschen überfor–«

»Tun sie nicht.« Mit gesenktem Kopf fummelt sie wieder an ihrer Jacke herum, und als sie schließlich ihren Kopf hebt, ergänzt sie: »Erklär mir lieber mal, wie genau das gleich ablaufen wird.« Ihre Stimme ist unverbindlich und kühl, und ich bilde mir ein, dass es daran liegt, dass selbst unser Gespräch Charlie bereits überfordert. Vielleicht hofft sie, dass ich sie jetzt einfach genervt wegschicke. Das sind aber nur Mutmaßungen, die mir, so ganz nebenbei, nicht zustehen. Dafür muss Charlie es mir schon selbst erklären oder ich muss fürs Erste ihre Frage beantworten.

»Meine Follower fordern Ratschläge von mir ein, auf die ich eingehe, während ich etwas unfassbar Unvernünftiges mache.«

Jetzt sieht Charlie richtig erschrocken aus. Sie nickt nur.

»Das bedeutet, du wirst heute etwas Verrücktes mit mir tun müssen«, erkläre ich. »Etwas, worüber wir vorher nicht nachdenken.« Meine Stimme klingt so nüchtern wie bei der Rechtebelehrung, was mein Glück ist, weil ich befürchte, dass man in meine Aussage sonst viel zu viel hineininterpretieren könnte. »Falls du mitkommst.«

Charlies Blick ruht auf meinem Handgelenk. Angestrengt starrt sie auf die Tätowierung, und als ob sie den Schriftzug nicht schon gestern erkannt hat, kneift sie ihre Augen zusammen, als hätte sie Mühe, zwei einzelne Wörter zu entziffern. Pflicht oder …

»Okay, die Wahrheit ist, dass es einen Grund gibt, weshalb das hier vollkommen schiefgehen könnte.«

Mich.

»Mich.«

Was? Irritiert suche ich ihr Gesicht nach Anzeichen ab, dass ich mich verhört habe, aber Charlie zwinkert nicht. Sie lächelt auch nicht mehr, sondern sieht traurig aus.

Ich schlucke. »Dich?«

Sie rückt ein Stück von mir ab und zögert. »Es stimmt. Es ist mir unangenehm, unter zu vielen Leuten zu sein. Um ehrlich zu sein, macht es mir riesige Angst. Allein bei der Vorstellung, mit dir auf dieses unübersichtliche Gelände zu gehen, verknotet sich alles in mir. Ich hab das Gefühl, gerade nur noch aus unkontrolliert herumwirbelnden Gedanken und donnernden Herzschlägen zu bestehen.«

Charlie verlagert ihr Gewicht von einem Bein aufs andere und verschränkt die Arme vor der Brust. Etwas an dieser Geste wirkt so, als würde sie erwarten, dass ich ihr jetzt zu nahe komme. Mit meinem Körper, mit meinen Worten – ich weiß es nicht.

Ich fühle mich mies deshalb, richtig mies, aber zurückhalten kann ich die Worte dennoch nicht: »Kannst du mir erklären, weshalb du trotzdem hergekommen bist.«

Es ist nur eine harmlose Frage, aber bei Charlies Gesichtsausdruck bildet sich sofort ein Kloß in meinem Hals.

»Wie gesagt, wegen der Empfehlung fürs Volontariat, und, es ist nicht so leicht zu erklären, ich hatte irgendwie geglaubt, mittlerweile bereit für so was zu sein.« Sie tritt noch weiter zurück. »Aber gerade würde ich mir lieber ein Auge ausstechen, als freiwillig aufs Gelände mitzukommen.«

Mein Verstand protestiert gegen die Informationsfülle, weil ich ziemlich lange nicht mehr mit derartigen Ängsten und Gedanken zu tun hatte und trotz meiner Regeln und Zweifel mehr als bereit bin, mich darauf einzulassen.

»Wenn es dich beruhigt«, sage ich. »Es schaut meistens nur ein Bruchteil meiner Follower den Livestream an, und wenn du es nicht willst, muss ich das Video im Nachhinein auch nicht in den Feed laden. Im Grunde können meine Follower diese Woche auch auf mein Live verzichten. Lass uns, keine Ahnung, Schokokekse essen.«

Der Vorschlag scheint Charlie nur noch mehr die Nerven zu rauben. »Wie groß ist dieser Bruchteil?«

»Zweitausend vielleicht.«

Ihre Augen weiten sich, ihr Gesicht glüht. »Ach, du Scheiße.«

»An Werktagen weniger …« Ich ziehe mein Handy aus der Gesäßtasche und werfe einen Blick aufs Display. »Und heute ist Freitag.«

»Ich Glückspilz.« Charlie sieht auf mein Handy und klemmt unwillkürlich die Unterlippe zwischen ihre Zähne. »Du hast für diese Situation nicht auch zufällig einen Deal auf Lager?«

Es sind ihre Lippen, die sich zu einem verkrampften Lächeln kräuseln, weshalb ich bei ihrer Nachfrage nicht zusammenzucke.

»Lass mich überlegen.« Ich beuge meinen Kopf zu Charlies hinunter, und obwohl ich wirklich keinen blassen Schimmer habe, was genau in ihrem vorgeht, probiere ich es einfach. »Ich kann fürs Erste versuchen, dich zu verstehen. Du hast Angst vor dem, was passieren könnte, und davor, mit den Konsequenzen daraus nicht umgehen zu können?«

Ich habe das Gefühl, als würde ich gerade eher über mich reden, und muss deshalb etwas in meinem Hals wegräuspern.

Charlie bemerkt meine Anspannung. Sie leckt sich über die Unterlippe und blinzelt. »Das trifft ins Schwarze.«

Wie sie mich dabei ansieht. Ein klein wenig grimmig und gleichzeitig so, als wäre ich tatsächlich Yoda, der ihr die Welt erklärt. Als würde sie mir vertrauen. Und das raubt mir den Atem, weil ich doch selbst nicht begreife, wie ich ticke.

»Ich hab mal gelesen«, fahre ich schnell fort, meine Finger dabei fest um mein Handy geklammert, »wenn wir uns alles erklären könnten und nichts fürchten würden, dann gäbe es auch keine Hoffnung. Und ohne Hoffnung wäre alles scheiße.«

»Stimmt.«

»Ziemlich scheiße sogar.« Ich zucke mit den Schultern. »Weil ich noch immer die Hoffnung habe, dass du mir vertraust und wir gleich zusammen aufs Gelände gehen.«

Charlie schluckt. »Beantworte mir erst eine Frage: Wieso soll ich etwas versuchen, von dem ich schon vorher weiß, dass es nicht funktionieren wird?«

»Weil es ja gar nicht darum geht, dass irgendetwas ein glückliches Ende nimmt.«

Wow, einfach wow. Das muss ich irgendwie retten.

»Das Ende ist meistens der schlimmste Part, finde ich, und deshalb sorgen wir ja auch dafür, dass es ein hervorragendes Mittendrin und einen noch viel besseren Anfang gibt. Deal?«

Charlie atmet tief durch. »Es sind weniger deine Follower, die mir Angst machen. Ich habe eher Sorge, inmitten der Menschenmenge hilflos zusammenzubrechen.« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Zugegeben, es wäre noch schlimmer, wenn du das dann auch noch live übertragen würdest.« Ihre Stimme klingt, als wäre jedes einzelne Wort mit Stacheldraht überzogen.

Dann bin ich da. Scheiß doch auf die anderen. Ich bin da.

»Ich kann dir nicht versprechen, dass das nicht passiert.« Innerlich ohrfeige ich mich, weil ich etwas Beschwichtigendes sagen müsste oder sie vielleicht sogar davon abhalten sollte, etwas zu tun, das sie nicht will. Aber gleichzeitig glaube ich, dass Charlie genau das nicht hören will. »Aber ich verspreche dir, dass es einen Versuch wert sein wird.«

Immerhin habe ich mich davon zurückgehalten, ich zu sagen. Dass ich es wert bin – das wäre wirklich problematisch gewesen. So gibt es wenigstens noch einen Rückwärtsgang.

»Also, was ist?«

»Ich will es und gleichzeitig will ich es auf gar keinen Fall.«

Jetzt bin ich fast traurig, dass ich mich eben gebremst habe. Hätte sie dasselbe auch über mich gesagt?

»Das ist keine eindeutige Antwort, Charlie …«

Ihre Unterlippe zittert. Sie schließt die Augen und …

»Levian König.«

Ich zucke zusammen, als jemand von meinem Zelt her meinen vollen Namen ruft. Charlie rückt abrupt ein Stück von mir ab, als Glorias wütende Schritte uns erreichen, und erst da kapiere ich, wie nah wir uns in den letzten Minuten unbemerkt gekommen sind.

»Entschuldige, äh …« Gloria schenkt Charlie keine Sekunde ihre Aufmerksamkeit, und als sie weiterredet, kann ich ihr das bei meinem üblichen Verhalten Frauen gegenüber noch nicht einmal übel nehmen. »Aber Levy wird mir jetzt erklären müssen, warum um alles in der Welt er das Erbrochene hinter seinem Zelt nicht weggemacht hat. Es stinkt überall nach Kotze.«

Ich will tot umfallen. Jetzt in diesem Augenblick, in dem mich Ria an meinen halben Zusammenbruch gestern erinnert. Und ich würde noch nicht mal um mich selbst trauern. Die Erinnerung an gestern Abend fühlt sich an wie ein heftiger Windstoß, der die Glutnester in meinem verbrannten Inneren erneut anzündet.

»Frag Otis«, antworte ich Gloria gepresst, als sie ihr Gewicht verlagert und damit automatisch näher an Charlie heranrückt. »Er war gestern besoffen, nicht ich.« Wie ferngesteuert geht mein Blick zu Charlie. »Darf ich dir Charlie vorstellen? Charlie, das ist Gloria, meine beste Freundin …« Noch. »Ria ist Otis’ Schwester, und ja, wir können die Verwandtschaft selbst kaum glauben.«

»Charlie?« Glorias Augen weiten sich überrascht, als sie zum ersten Mal den Kopf in Charlies Richtung dreht. Dann wirkt sie peinlich berührt. »Oh, hi. Freut mich.«

Sie hält Charlie ihre Faust hin, doch Charlie zögert.

»Ich … äh, hi.« Überfordert verzieht sie das Gesicht und Gloria lässt ihre Hand langsam sinken.

»Ihr wolltet bestimmt aufs Gelände, oder?«, plappert Gloria direkt weiter, was beweist, wie unangenehm ihr das Ganze ist. Immerhin. »Levy hat erzählt, dass du bei einem Klassikradio arbeitest? Wie cool ist das denn? Weißt du was? Erzähl es mir einfach morgen Nachmittag beim Flunkyball. Fühl dich hiermit eingeladen, und bring alle mit, die du kennst.«

Charlie nickt nur.

Wie selbstverständlich legt Ria einen Arm um ihre Hüfte und drückt Charlies Körper kurz an ihren eigenen. Ein Träger von Glorias Jeanslatzhose rutscht dabei von ihrer Schulter, weshalb sie versucht, ihn gleichzeitig hochzuschieben und Charlie dabei in der Umarmung zu halten. Ich bilde mir ein, dass sie deswegen grinst.

»Levy ist übrigens richtig gut im Flunkyball, solltest du wissen, was praktisch ist, weil er ja keinen Alkohol trinkt. Außerdem ist es ein toller Ort für authentische Storys.«

Gloria holt Luft, und eigentlich will ich protestieren, weil ich Sorge habe, dass sie sonst meine Lebensgeschichte von der Geburt an aufrollt, doch Ria ist schneller.

»Jedenfalls halte ich euch nicht länger auf. In zwei Stunden spielt Måneskin. Deren Auftritt müsst ihr sehen.«

Charlie schluckt. »K-klingt gut.«

Einen Wimpernschlag später rückt Gloria zu mir auf, um anschließend mich in eine Umarmung zu ziehen. »Versau es nicht.« Sie löst sich von mir. »Hat mich sehr gefreut, bis morgen«, sagt sie über ihre Schulter zu Charlie, und als sie wieder ein paar Meter zurück in Richtung Zelt gelaufen ist, dreht sie sich um und winkt uns zu.

Seufzend winke ich zurück, um mich schließlich wieder Charlie zuzuwenden.

»Fuck … das … Erstens hab ich nicht hinters Zelt gekotzt, und zweitens … sorry.« Mir wird unbehaglich zumute. Es ist in den letzten Minuten definitiv heißer geworden, und ich bin mir sicher, dass sich deshalb feine Schweißperlen unter meinem Auge bilden. Wenn ich darüberwische, verschmiere ich den Kajal, weshalb ich lieber weiter darüber grüble, wie es auf einem riesigen Festival plötzlich so eng werden kann. Als wäre hier nichts mehr außer Charlie, mir und dem verdammten Schweiß in meinem Gesicht. Meiner gestrigen Einschätzung nach zu urteilen, habe ich jetzt noch ein paar Sekunden, bis die Blase platzt.

Drei, zwei, eins …

»Gloria war sich ihrer Vermutung allerdings ziemlich sicher.« Charlie betrachtet mich und ich verschränke unter ihrem Flughafenscannerblick die Arme.

»Erst mal gilt in solchen Fällen die Unschuldsvermutung«, belehre ich sie. »Ich war mal Polizist.«

Explosion.

Charlies Brustkorb hebt und senkt sich, während ihr intensiver Blick noch immer mein Augenlid hypnotisiert, als wäre der Eyeliner dort längst verwischt. Und als würde ihr die Vorstellung irgendwie … gefallen. Die vom verwischten Eyeliner oder meinem Körper in Uniform.

Fuck, gibt es eigentlich irgendetwas in meinem Hirn, das nicht automatisch an Sex denkt?

Wie ferngesteuert senke ich den Kopf –

Nimm deinen Blick weg von ihren Brüsten. Kopf hoch! Sofort!

Mein Puls rast. Statt weiterzureden, atme ich viel zu hektisch ein und aus. Müsste Charlie jetzt nicht irgendetwas fragen? Warum hakt sie nicht nach? Bemerkt sie meinen Blick gar nicht, der trotz meiner inneren Stimme auf ihrer Brust ruht?

Doch dann strafft Charlie die Schultern und der steife Saum ihrer Jacke drücken gegen den leichten T-Shirt-Stoff darunter. Reiben. Es ist eher ein Reiben, und ich erkenne ihre Brustspitzen. Trägt Charlie keinen BH? Keinen scheiß BH? Das denke ich zum Glück nur, anstatt es laut auszusprechen, trotzdem umschließt Hitze meinen gesamten Unterleib. Fuck.

»War?«, höre ich Charlie murmeln und sehe, wie sie ihre Jacke auf Höhe ihrer Brüste verschließt. »Hat es dir nicht gefallen?« Ihr Blick streift meinen Schritt, und Scheiße, bin ich gerade froh, dass ich meinen Schwanz unter den Unterhosenbund klemme, wenn ich kurze Hosen trage. Sonst würde sie verdammt noch mal genau sehen, wie gut mir das hier gefällt.

»Was?«

»Bei der Polizei.«

Ich schüttle schon den Kopf, da fügt sie noch hinzu: »Was denn sonst?«

Warum fragt sie das? Weil Charlie nicht erregt gewesen ist, du Idiot. Bin ich eigentlich bescheuert zu glauben, dass sie in ihrer beklemmenden Situation an Sex denkt? Was ist überhaupt aus meinen Regeln geworden? Wieso stelle ich die auf, wenn ich sie eh ständig breche? Wieso kümmern mich Charlies Ängste und Gedanken so sehr? Warum, verfickt noch mal, gehe ich einen Schritt weiter und lasse mich auch noch darauf ein?

Weil ich kapiert habe, dass …

… ich Charlie mag?

Alter, was zur Hölle? Wie lange kenne ich sie? Keine achtundvierzig Stunden. Erbärmlich.

»Na ja, ich finde es im Moment ziemlich scheiße, dass Gloria dich eben unterbrochen hat«, stoße ich mit einem peinlichen Keuchen aus. »Jetzt weiß ich nicht, wie du dich entschieden hättest, wenn sie dich nicht mit ihrer Meinung beeinflusst hätte.«

Ehrlich gesagt ist mir das wirklich ziemlich wichtig, auch wenn mir der Grund dafür nicht in den Kopf geht. Will ich, dass Charlie wegen mir auf das Festivalgelände geht und nicht, weil Gloria ihr die Band empfohlen hat? Ist das so? Heißt das, ich will etwas von einer Frau, nicht andersherum?

»Na ja …« Ich kann sehen, wie sich Charlies Körper wieder anspannt, während sie auch die übrigen Knöpfe ihrer Jacke verschließt, und schäme mich, weil sie das wegen meiner aufdringlichen Blicke macht. »Im Moment dürftest du mir zusätzlich zum ausgestochenen Auge noch eine Hand abhacken, bevor ich freiwillig einen Fuß aufs Gelände setze.«

Perplex gehe ich einen Schritt zurück. »Das wäre schade um deine Hand, weil es mir gefällt, sie zu halten. Sehr sogar.«

Ich würde erleichtert aufatmen, weil ich mich jetzt nicht mehr auf meinen Schwanz, sondern auf meinen Mund konzentrieren muss, der so einen Scheiß von sich gibt. Stattdessen wird mir übel vor Überforderung.

»Jedenfalls …«, kommt es zögerlich von Charlie. Immerhin ist sie jetzt wieder genauso atemlos wie ich, andererseits hat sie beschlossen, mein Geständnis einfach zu ignorieren. »… wäre meine Antwort vor Glorias Auftritt eine andere gewesen. Aber das geht jetzt nicht mehr.« Sie reibt sich die Haare aus der Stirn und sieht mich dann mit einem Blick an, in dem ganz viel Angst liegt: vor mir, vor sich, vor dem Festival, vor dem Leben. Als wüsste sie schon, dass sie ihren Mut bereuen wird.

»Willst du mir erklären, warum?«

»Weil …« Charlies Stimme zittert. Ihr ganzer Körper zittert. War das die ganze Zeit schon so, und ich habe es nicht bemerkt, weil ich ihr auf die Brüste gestarrt habe, während Charlie mit ihrer Angst gekämpft hat?

Fuck. My. Life. Zum wievielten Mal heute?

Charlie schaut sich hektisch um, und das Erste, was mir jetzt in den Sinn kommt, ist vermutlich auch das Unpassendste: Ich will nicht nur Charlies Hand halten, sondern auch ihren bebenden Körper umarmen. Wie gestern, nur fester. So fest, dass sie nie wieder vor irgendetwas Angst hat. Der Gedanke sorgt dafür, dass mein rasender Puls sich weiterhin nicht beruhigt.

»Weil dein Hirn dich wieder daran erinnert hat, Angst zu haben?« Ich lächle sanft, bin mir aber sicher, dass meine Stimme dumpf klingt.

»Gerade erdrückt sie mich förmlich«, schluchzt sie auf, aber beißt im selben Moment die Zähne aufeinander. »Doch es ist alles okay. Ich muss mich nur auf etwas anderes konzentrieren, dann geht es schon … irgendwie.«

»Erzähl mir lieber, wie es sich in dir drin anfühlt, Charlie.«

»Ich habe Angst vor meinem eigenen Körper«, erklärt sie schwach. »Normalerweise plane ich im Vorhinein jeden Schritt penibel. Wo ich wann essen gehe, wann zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort wenig los sein könnte. Darauf achte ich, um einem Kreislaufzusammenbruch vorzubeugen.«

Mir liegt die Frage nach dem Warum noch immer auf der Zunge. Und was denn dann von einem entspannten Festivalerlebnis für Charlie eigentlich noch übrig bleibt. Ich meine, ist es schön, eine Veranstaltung zu besuchen, auf der man ständig darauf wartet, dass etwas Schlimmes passiert?

Auf meine Nachfrage hin erwidert Charlie ein leises: »Solange alles nach Plan läuft und mich nichts aus meiner Tagesstruktur bringt, ja.«

»Wie Otis’ Wasserdusche, der Glitzerpenis und … ich?«

Letzteres lässt Charlie lächeln. »Du hast bestimmt schon bemerkt, dass das hier mein erstes Mal ist …«

Wieso muss sie denn ausgerechnet jetzt so was sagen? Mein Verstand ist doch sowieso schon völlig durcheinander.

»… weshalb ich vorher nicht viel planen konnte. Außerdem verlangt mein Chef authentische Beiträge von mir, und die entstehen vor allem dann, wenn etwas Unerwartetes passiert. Wie in deinen Live-Storys.«

»Wenn du mich fragst, denkst du viel zu viel über deinen Chef nach. Deine Qualitäten sind sicher nicht auf ein paar Tage Festival herunterzubrechen.« Ich räuspere mich. »Beim Sender, meine ich.«

»Aber es kann auch nicht besser werden, wenn ich mich solchen Situationen nicht stelle. Etwas Spontanes zu tun, hilft sogar bei Überforderung.« Das kommt so schnell, als hätte sie den Satz auswendig gelernt.

»Weshalb du direkt ein viertägiges Open Air mit Tausenden von Menschen besuchst …«

»Wow, danke, dass du mich daran erinnerst.«

»Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, dass du hergekommen bist. Du bist hier!«

Damit entlocke ich Charlie ein weiteres Lächeln. »Stimmt, und wenn ich ganz ehrlich bin, ist das ›Machen‹ im Moment auch gar nicht wirklich leise.«

Da ist kein Anzeichen von einer Lüge in ihrem Tonfall. Warum sagt sie das? Und warum antworte ich darauf nichts? Weil das Rauschen in meinem Kopf gerade immer lauter wird. Es übertönt sogar die Musik, die seit wenigen Minuten aus einem der Zelte zu uns herüberdringt.

»Okay«, sage ich schließlich und atme geräuschvoll aus. Ich kann Charlies Gedanken praktisch hören, so angestrengt runzelt sie die Stirn. Sie vertraut mir nicht. Kein bisschen. Und vermutlich habe ich das auch verdient.

»Ich mochte den Anfang.«

Oh, wow. Damit habe ich nicht gerechnet. Sie geht ernsthaft auf meinen dämlichen Anfang-Mitte-Ende-Scheiß ein?

»Und ich bin bereit für den Mittelteil, das wollte ich damit sagen. Tut mir leid, wenn ich dich mit allem überfordert habe. Aber …«

Ich öffne den Mund, um ihr zu antworten, da ergänzt Charlie: »Ich wäre einfach gern so spontan wie du. Ich glaube, das fasst es am besten zusammen.«

Ich halte den Atem an, weil ich keine Ahnung habe, wie ich auf ihr Kompliment reagieren soll. Das war doch eines, oder? Soll ich ihr jetzt eines zurückgeben? Macht man das so? So ein Bullshit … Ich weiß gar nicht, wieso ich mich gerade so dämlich anstelle.

In meinem ganzen Leben war ich noch nie so überfordert wie in diesem Moment. Es ist mir ein Rätsel, was ich da in mir drin fühle, als Charlies Komplimente immer tiefer und tiefer sinken, wie ein Stein, der irgendwann auf dem Grund ankommt.

»Also, verrätst du mir deine Tricks?« Charlies Stimme klingt rau und kein bisschen so, als wäre sie von ihrer eigenen Idee überzeugt.

Nach allem, was ich eben über sie erfahren habe, gehe ich davon aus, dass es sie ziemlich viel Überwindung kostet, es zu versuchen. Wer weiß, wie sie reagiert, wenn wir erst mal inmitten des Chaos auf dem Festivalgelände sind. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihr Mut machen kann.

Ich zieh dich da notfalls schon raus? Mit außer Kontrolle geratenen Menschenmengen kenne ich mich aus? Schließlich war ich früher Polizist. Ja, Polizist, Levy, kein beschissener Superheld. Und mittlerweile bist du noch nicht mal mehr das, sondern nur noch Levy. Ohne Geld, eigene Wohnung und Perspektive …

»Es ist kein Trick«, beginne ich zögernd. »Ich schätze, mir ist mein Leben nur einfach nicht wichtig genug, um lange über Konsequenzen nachzudenken.«

Ohne weitere Worte ziehe ich mein Handy hervor und gehe live.

»Guten Morgen, Instagram«, spreche ich in die Kamera und räuspere mich, weil ich gepresst klinge. »Ihr habt es euch gewünscht: Ich lasse mir hier und heute ein Piercing stechen. Wir sehen uns in zwanzig Minuten auf diesem Kanal.«