Vorwort

H ey, ich bin Jana, neununddreißig und ungeküsst. Ja, du hast richtig gelesen. Ich hatte noch nie einen festen Freund, habe nie mit jemandem Händchen gehalten oder was man sonst so – mit oder ohne Liebe – miteinander anstellt. Tinder nutze ich nämlich auch nicht. Bitte versteh mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Sex, wenn andere ihn haben. Auch von Liebesbeziehungen bin ich ein großer Fan, solange andere sie führen. Es ist ein bisschen wie mit Kindern, die liebe ich auch, möchte aber selbst keine haben.

Wenn ich diese Gedanken äußere, bekomme ich zusätzlich zu den verständnislosen, oft mitleidigen Blicken ziemlich häufig Kommentare wie: »Warte nur ab, der Richtige kommt schon noch!«, oder: »Aber du bist doch eine Frau, deine innere Uhr läuft bald ab!« Natürlich tickt meine innere Uhr, aber sie tut es lautlos. Und die große Liebe halte ich – ebenso wie Kinder – für ein fantastisches Wunder. Trotzdem glaube ich eben nicht daran, dass jeder von uns diese Wunder auch automatisch erlebt, nur weil es sie gibt.

Klingt das in deinen Ohren traurig? Fühlt es sich wie eine Resignation an? Tue ich dir vielleicht sogar leid? Das ist sehr lieb, aber nicht nötig. Ich bin zwar ungeküsst, aber überhaupt nicht unglücklich. Ganz im Gegenteil: Heute kann ich über mich selbst sagen, dass ich wohl der glücklichste Mensch bin, den ich kenne.

Sosehr ich mich früher als hoffnungslose Versagerin gefühlt habe, weil ich hinter all die ersten Male, die andere Gleichaltrige bereits erlebt hatten, keinen Haken setzen konnte, so sehr sehe ich mich heute als Gewinnerin. Es hat gedauert, aber schließlich habe ich gelernt: Ich muss mich nicht anstrengen oder gar verstellen, um anderen zu gefallen. Außerdem war ich es schrecklich leid, dieses heimliche Doppelleben zu führen. Zum einen war es unfassbar anstrengend, und ich hatte ständig Angst aufzufliegen. Zum anderen hatte niemand die Chance, mich wirklich kennenzulernen. Zwischendurch war ich so angepasst, dass ich nicht mal mehr wusste, wer oder wie ich wirklich war. Heute bin ich einfach nur noch ich und finde, die Wahrheit reicht. Und nichts weniger als die Wahrheit über mich und meine Vergangenheit hältst du gerade in den Händen.

In diesem Buch erzähle ich dir von den schlimmsten Situationen in meinem Leben. Situationen, in denen ich mich hilflos ausgeliefert, allein und vom Leben überfordert gefühlt habe. Ich dachte, nie wieder glücklich werden zu können. Diese Tiefpunkte aufs Papier zu bringen, war mein Plan. Aber während ich mir diese Erinnerungen, die ich teilweise so sehr verdrängt hatte, dass ich noch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen habe, von der Seele geschrieben habe, sind mir plötzlich auch schöne Situationen in den Sinn gekommen. Situationen, die sich heute wie eine Antwort vom Leben anfühlen.

Ich weiß, »Antwort vom Leben« klingt im ersten Moment vielleicht doch etwas groß, aber für mich fühlt es sich danach an. Gerade so, als wollte mir mein Leben auf diese Weise sagen: »Na, siehste, kannst dich auf mich verlassen. Hatte alles seinen Sinn, und ich weiß doch, was ich dir zumuten kann.« Und genau in diesen Momenten habe ich mir vorgestellt, wie es denn wohl gewesen wäre, wenn sich mein jüngeres Ich tatsächlich mit meinem jetzigen Ich hätte unterhalten können? Was wäre gewesen, wenn ich mir auf die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, dieses Leben noch länger durchzuhalten, obwohl sich jeder verdammte Tag wie ein nie enden wollender Kampf anfühlt, selbst die Antwort hätte geben können? Kleiner Spoiler, die Antwort lautet eindeutig: Ja, es lohnt sich!

Diese Vorstellung fand ich so spannend, dass ich mich auf das Gedankenexperiment eingelassen habe. Dadurch wurden aus den niedergeschriebenen Tiefpunkten plötzlich nicht nur Wendepunkte, sondern ebenso spannende und gnadenlos kritische Begegnungen mit mir selbst. Obwohl ich es eigentlich hätte besser wissen müssen, war ich doch ziemlich überrascht, wie sich diese Treffen meiner beiden Ichs beim Schreiben entwickelt haben. Mir hätte klar sein müssen, dass die junge Jana zu Beginn natürlich überhaupt keinen Bock hat, sich von der älteren Jana auch nur irgendetwas erzählen zu lassen. Warum auch? Wieso soll sie eine neununddreißigjährige, ungeküsste, alles andere als dem gängigen Schönheitsideal entsprechende Frau ernst nehmen? Was will ihr so eine vom Leben erzählen, und wie zum Teufel kann die so glücklich sein?

Vor allem: Ist sie es wirklich, oder belügt sie nicht nur alle anderen, sondern auch sich auf allerhöchstem Niveau?

Im Schreibprozess haben mich besonders diese fiktiven Begegnungen an meine Grenzen gebracht. Ich musste meinen Psychologen anrufen und um Rat bitten, obwohl unsere letzte Sitzung schon Jahre zurückliegt.

Seine Antwort war: »Frau Crämer, die Vergangenheit schonungslos ehrlich niederzuschreiben ist immer ein Prozess der Aufarbeitung. Aber durch diese kurzen fiktiven Gespräche haben Sie zudem innere Konflikte gelöst, von denen Sie sich bislang nicht mal selbst eingestehen konnten, dass Sie sie überhaupt hatten. Genau das nennt man Heilung.«

Ich weiß nicht, was mich mehr gefreut hat, seine Worte oder das Lächeln, das ich über 427 Kilometer Luftlinie hinweg hören konnte.

Doch damit erst mal genug der Vorworte. Nun wünsche ich dir spannende Stunden in meinem Leben und hoffe, dass dir das Lesen ebenso guttut wie mir das Schreiben.

 

Deine