Gefühle sind zum Fühlen da

Was für ein unglaublich schöner Junitag. Als Sommermädchen kann ich mich an keinen einzigen meiner inzwischen neununddreißig Geburtstage erinnern, an dem es mal geregnet hätte. So auch dieses Mal nicht, an meinem … ähm … Moment, wie alt wird die kleine My-Little-Pony-Geiselnehmerin da vorne auf der Bettkante noch gleich? Ach ja, vierzehn.

Auch heute finde ich am dunkelblauen Himmel nur vereinzelte Schönwetterwolken. Ja, die heißen wirklich so. Über das geöffnete Fenster zieht der herrliche Grillduft ins Zimmer, und ich höre sogar das Brummen der dicken Bienen und Hummeln durch das Stimmengewirr auf der Terrasse. Alles ist perfekt.

Sogar die dicke Staubschicht auf der Kommode, die bei der einfallenden Sonne erst richtig zur Geltung kommt und der ich gleich mal einen Smiley verpasse, kann das wunderschöne Bild nicht zerstören. Wäre da nicht mein kleines My Little Pony, das in diesem Moment um sein Leben bangen muss. Über eine schicke Kurzhaarfrisur hätten wir ja reden können, aber das hier geht doch eindeutig zu weit.

Ich erinnere mich genau, wie unfassbar stumpf diese Bastelschere war. Zweige im Garten anspitzen, um meinem Meerschweinchen auf der Wiese ein Gehege zu bauen, oder die Kante von meiner Voltigier-Mauer etwas einkerben, damit mein Sattel, den ich aus Handtüchern und einem alten Gürtel von meinem Papa geformt habe, besser saß. All das ging ganz, ganz prima mit der Schere, yep, ich hatte sie für ziemlich alles benutzt, eben nur nicht zum Basteln.

»Das wird so nix, die Schere ist zu stumpf«, sage ich im Flüsterton, bevor ich meine Lippen zusammenpresse, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Durchdringend schaue ich das Geburtstagskind an und überlege kurz, ob ich als i-Tüpfelchen zu dieser Performance noch so tun soll, als würde ich mir den Mund mit einem Reißverschluss verschließen. Aber ich fand die Geste schon immer doof, also lasse ich es bleiben.

Ganz langsam, als wäre sie ein wildes Tier, das ich nicht verschrecken will, gehe ich zum Bett, schiebe die Decke beiseite und setze mich mit genügend Abstand neben sie.

Nein, ich kann nicht anders. Ich ziehe die Decke doch wieder nah an mich heran und streiche langsam mit den Fingern darüber. Oh, Mann, wie sehr ich das Teil aus grobem Frottee geliebt habe. Sogar so sehr, dass ich meine Mama immer überredete, es nach dem Waschen direkt in den Trockner zu stecken, damit ich es abends wieder aufziehen konnte. Keine einzige Nacht wollte ich dieses Gefühl vermissen.

Noch heute gibt es nichts Besseres als ein frisch bezogenes Bett. Nur so einen tollen Bezug habe ich leider nie wieder gefunden. Am liebsten würde ich mich direkt komplett darin einkuscheln. Und Take That, vor der Trennung von Robbie Williams, die formatfüllend draufgedruckt sind, feiere ich auch immer noch. Manche Dinge ändern sich wohl nie.

»Hast du’s bald?«, kommentiert sie genervt meine Streicheleinheiten für die Bettwäsche und rollt demonstrativ mit den Augen. Auch wenn es mir schwerfällt, lasse ich Robbie Williams Robbie Williams sein und hebe beschwichtigend die Hände, ehe ich sie in meinem Schoß falte.

Mein Blick fällt wieder auf das dem Tode geweihte My Little Pony in ihren Händen, und ich starte das Deeskalationsprogramm. Ich wackle erst mit der Nase hin und her und tue, als würde ich überlegen, bevor ich wie eine Komplizin flüstere: »Soll ich dir vielleicht ein scharfes Messer aus der Küche holen? Damit müsste es dann gehen.«

Blitzschnell drückt sie das kleine Pferd fest an sich, als ob sie es nun vor mir beschützen müsste. Sie funkelt mich mit bösem Blick an, dass ich es bloß nicht wagen sollte, ihren kleinen Glücksbringer auch nur anzuschauen.

Ich lächle. Umgekehrte Psychologie hat bei mir schon immer gewirkt. Wann immer mich jemand dazu bringen wollte, etwas zu tun, das ich eigentlich nicht wollte, musste er mich nur zum Gegenteil auffordern. Ich war so einfach zu spielen wie eine Kinderflöte, um es mal mit Marc-Uwe Kling zu sagen.

Mist! Jetzt scheint sie völlig überfordert von den schon wieder neuen Gefühlen und bricht hemmungslos in Tränen aus.

Na super, das war richtig dumm von mir, ärgere ich mich über mich selbst.

Ich rutsche näher und bin sehr erleichtert, als sie meinen Arm um ihre Schultern nicht nur zulässt, sondern sich an mich schmiegt, ihre Arme um meinen Körper schlingt und sich an meiner Brust richtig ausweint. Dabei streiche ich ihr beruhigend über den Rücken und fahre mit den Fingern verschiedene Formen und Muster ab, wie es mir schon immer gutgetan hat.

Als ich spüre, dass sie sich beruhigt und wieder langsamer, dafür tiefer atmet, sage ich mitfühlend: »Ich verstehe, dass du sauer bist, und du hast jedes Recht dazu. Es ist gut, wenn du die Gefühle nicht runterschluckst. Du machst alles richtig, lass deine Gefühle zu, lass sie raus, nimm sie an. Kein Gefühl ist falsch, begegne jedem mit bedingungsloser Neugier und frag dich, was es dir sagen will. Deine Gefühle sind auf deiner Seite, sie sind nicht dein Feind.«

Von purer Abscheu geschüttelt, löst sie sich hektisch aus meiner Umarmung. Ihr angewidert verzerrter Gesichtsausdruck wirkt, als hätte ich ihr etwas Ekliges erzählt. Sie lehnt sich noch ein Stück weiter nach hinten und mustert mich von oben bis unten so abwertend, als ob ich nicht mehr ganz zurechnungsfähig wäre. Wirklich, um dieses Bild zu komplettieren, fehlte jetzt eigentlich nur noch, dass sie sich gleich den Finger in den Hals steckt und dabei Würgegeräusche von sich gibt, um mir dadurch ihre Meinung zu meinen Gedanken mitzuteilen. Wundern würde es mich nicht.

»Alles okay?«, frage ich und muss grinsen, als sie mit verzogener Nase, als würde es nach verfaulten Eiern stinken, antwortet: »Bei mir ist alles okay, aber du scheinst den Schuss nicht gehört zu haben!«

Krass, ich hatte total vergessen, wie sehr mich diese permanent gut gelaunten, in allem etwas Positives sehenden Blogger, Vlogger und Influencer immer genervt haben. Bei jeder morgendlichen Ich-begrüße-den-neuen-Tag-voller-Möglichkeiten-Instagram-Story hätte ich mein Handy am liebsten gegen die nächste Wand gepfeffert und damit meinen Social Media Detox eingeläutet. Was gingen mir diese Frauen mit ihrer abstoßenden Fröhlichkeit und dem dämlichen Dauergrinsen auf die Nerven. Im Ernst, niemand kann doch immer gut drauf sein, zumindest kein echter Mensch.

Irgendwann hatte ich die Schnauze voll und entfolgte allen, die mir mit jedem einzelnen ihrer Posts nur noch mehr signalisierten, wie unfassbar unglücklich, langweilig und arm mein Leben und ich eigentlich wären. Klick und weg, ganz einfach. Ich wollte nur noch Menschen folgen. Also echten Menschen mit echten Gefühlen.

Für mich gab es für diesen Glücklichkeitswahnsinn nur zwei Erklärungen: Entweder nahmen sie irgendwelche illegalen Drogen, die langsam ihre Gehirne zersetzten, oder sie waren purer Fake und heulten den ganzen Tag, wenn sie nicht gerade eine Story drehten, um uns zu nerven.

Vor allem wurden das plötzlich immer mehr. Wie aus dem Nichts hatten sie dann auch noch alle Millionen von Followern. Als würden die happy Influencer, wenn der Regenbogen strahlend bunt am Himmel leuchtet, aus ihren Yoga-Retreats krabbeln und wehrlose Menschen mit Räucherstäbchen ebenfalls in Glückszombies verwandeln. Und das ging dann immer so weiter und immer so weiter … Und jetzt? Tja, jetzt war ich selbst so eine.

»Es tut mir leid, ich weiß genau, wie unfassbar dämlich sich diese Postkartensprüche für dich anhören!«, sage ich, als sie mir, wie aus der Pistole geschossen, ins Wort fällt.

»Ja, du hörst dich total dämlich an. Du glaubst diesen Quatsch doch nicht wirklich, oder?« Nun wartet sie auf eine Antwort. Verunsichert streiche ich mir eine Haarsträhne, die sich aus meinem Dutt gelöst hat, hinters Ohr. Wie zum Teufel soll ich denn bitte schön einer Vierzehnjährigen, die mitten in der Pubertät steckt, erklären, dass Gefühle etwas Wundervolles sind?

Sofort habe ich wieder die Worte meiner Oma im Ohr: Man sollte uns Jugendliche nicht zu ernst nehmen, weil wir in diesem Alter doch eh nur ein hilfloses Bündel von Emotionen wären und nicht wüssten, was wir wollten. Egal, um was es ging, meine Oma holte den Pubertätsstempel raus, und damit war alles, völlig egal, was es war, nur eine Phase oder würde sich mit der Zeit verwachsen.

Die Erinnerung an diese mit affektiertem Kopfwackeln vorgetragenen Erziehungsweisheiten bringt mich innerlich vor Wut zum Kochen. Als ich erkenne, dass ich mich aber in diesem Moment genauso verhalte, muss ich schlucken. Das ist ja schrecklich!

Und seien wir mal ehrlich: Die Tatsache, dass mein Papa keine andere Möglichkeit gesehen hat, als sich wegen seiner Sorgen und Ängste bis zur Besinnungslosigkeit abzuschießen, zeugt jetzt auch nicht unbedingt davon, dass meine Oma bei der Erziehung ihres Sohnes alles richtig gemacht hatte. Ich weiß, das klingt hart, aber ganz falsch ist der Gedanke nicht, oder?

Emotionen können unfassbar überfordern, und sicherlich muss man nach und nach lernen, mit ihnen umzugehen. Aber wie soll man das lernen, wenn alle immer vorgeben, dieser Zustand, der einen jahrelang fast um den Verstand bringt, wäre etwas, das man einfach nur stillschweigend aushalten müsste, anstatt etwas dagegen zu tun?

Das wäre ja fast so, als würde man einer drohenden Klimakatastrophe ins Auge schauen, im tiefsten Winter bei einer Poolparty im Garten einen süßen Früchtecocktail trinken und schulterzuckend sagen: »Okay, wir beobachten das weiter, aber unternehmen werden wir erst mal nichts. Wird schon alles gut gehen.« Im Ernst, wie bescheuert wäre das?

Ich wünschte mir damals so sehr, dass man mich ernst nimmt. Also tue ich jetzt ganz genau das, ich nehme sie ernst: »Doch, ich bin von diesem Quatsch absolut überzeugt«, sage ich und spüre, wie sich meine Mundwinkel bei dem Wort »Quatsch«, das ich extradeutlich betone, unweigerlich zu einem strahlenden Lächeln verziehen. Langsam fahre ich fort: »Unsere Gefühle und unser Herz sind das Allerbeste an uns, auch wenn ich das früher selbst nicht glauben konnte.«

Ich senke die Stimme so, als würde ich ihr ein Geheimnis anvertrauen: »Weißt du, lange Zeit hatte ich unglaubliche Angst vor meinen Gefühlen, weil ich sie nicht kontrollieren konnte. Sie tauchten aus dem Nichts auf und verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren, wieder im Nichts. Auf meine Gefühle war kein Verlass. Nur die Traurigkeit, die hat mich nie enttäuscht. Sogar in den schönsten Momenten war sie da, weil ich wusste, dass das Glück nicht für immer bleibt. Das war eine schreckliche Zeit, und ich bin froh, dass das endlich vorbei ist.«

Ich beobachte, wie sie mir aufmerksam zuhört und durch die Haare des kleinen Ponys in ihren Händen streicht.

»Ja, genauso geht’s mir auch! Ich kann meinen Gefühlen einfach nicht trauen«, meint sie nickend. »Wann hat das aufgehört, dass dir deine Gefühle Angst gemacht haben? War das, als du dich zum ersten Mal verliebt hast?«, erkundigt sie sich neugierig und rückt ein kleines Stückchen näher an mich heran.

Ich beginne zu grübeln. »Puh, gute Frage. Wann war das eigentlich?«