Ich glaube dir nicht

Ob das Wasser spätabends deutlich kühler ist als am Tag?, geht es mir durch den Kopf, während ich am Strand entlanglaufe. Wenn ich meine Füße nicht so hässlich fände, würde ich mir die Schuhe und Socken ausziehen, die Hose hochkrempeln und ein bisschen durch das seichte Wasser laufen, um den nassen Sand unter den Zehen zu spüren und mich von den Wellen kitzeln zu lassen.

Aber noch während ich hin und her überlege, ob ich es wagen sollte, bin ich bereits bei ihr angekommen. Es tut mir weh, sie wie ein Häufchen Elend im Sand kauern zu sehen.

Mit einem leisen »Lass mich bitte einfach in Ruhe!« schaut sie zu mir auf, und ich sehe ihre Augen im dämmrigen Mondlicht glänzen. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie mich erkennt.

»Ach, du bist es nur!«, sagt sie fast tonlos und ein bisschen enttäuscht.

»Darf ich mich dazusetzen?«, frage ich.

Sie nickt.

»Taschentuch?« Ich reiche ihr ein Tempo und sehe ihr die Erleichterung an.

Als ich, nachdem sie einmal kräftig geschnäuzt hat, gerade anfangen will, mit ihr über den Tag und das Geschehen am Lagerfeuer zu sprechen, donnert sie von null auf hundert richtig los. Mit einer ruckartigen Bewegung dreht sie sich so weit zu mir, bis sich fast unsere Nasenspitzen berühren. Mir schwappt eine Welle voller Abscheu und Hass entgegen, dass ich mich vor lauter Schreck an meiner eigenen Spucke verschlucke.

»Ist das eigentlich so ’n Ding von dir? Immer in den schlimmsten Situationen aufzutauchen? Willst du dich an meinem Leid ergötzen oder hast du so ’n beschissenes Helfersyndrom?«, herrscht sie mich an, während ihr wieder die Tränen kommen.

Ich schlucke. Wow, das kam unerwartet.

»Ja, ernsthaft. Gibt dir das einen Kick, zu sehen, wie ich leide? Macht es deinen Tag besser, wenn du siehst, wie schlecht es mir geht?«

Ich räuspere mich. Erstens, um Zeit zu schinden, weil ich so gar nicht weiß, wie ich darauf reagieren soll, und zweitens, um nicht lauthals loszuhusten.

Ohne nachzudenken, antworte ich: »Um ehrlich zu sein, ja, mein Tag wird dadurch besser, dich so zu sehen.«

Mit diesem auch für mich selbst ziemlich überraschenden Eingeständnis gewinne ich nun Ruhe und ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich sage mit hoffentlich beruhigender Stimme: »Es tut mir immer wieder gut, wenn ich mir zwischendurch vor Augen führe, wie weit ich schon gekommen bin, was ich hinter mir gelassen habe und wie glücklich ich jetzt bin. Das erfüllt mich mit einer unbeschreiblichen Dankbarkeit.«

Sie legt den Kopf schief, wie ich es noch heute tue, wenn ich versuche, die wahren Gefühle meines Gegenübers in der kleinsten Änderung der Mimik zu lesen, und antwortet: »Ich nehme dir dein Lächeln nicht ab. Es ist doch total masochistisch, sich immer wieder in diese Erinnerungen zu flüchten. Du leidest jedes Mal aufs Neue. Du gibst dich zwar abgeklärt, als wärst du die große Retterin, die es geschafft hat und nun ach so voller Glück und Selbstliebe durchs Leben geht. Aber im Grunde badest du einfach nur viel zu gern in deinem eigenen Elend und Selbstmitleid. Ich finde das krank. Ich glaube, du bist längst nicht so weit, wie du tust. Sonst würdest du einfach dein Leben leben und nach vorne schauen.«

Ich möchte ihre Atempause nutzen, um zu antworten, aber sie holt nur kurz Luft, um direkt noch weiter zum Rundumschlag auszuholen.

»Hast du inzwischen eigentlich einen Mann und Kinder? Oder wenigstens einen festen Freund?«

Ich schüttle verneinend den Kopf.

Sie ergänzt nun in einem fast schon demütigenden Tonfall: »Wundert mich nicht. Vermutlich glaubst du immer noch, jeder, der sich bloß im Ansatz für dich interessiert, leide an Geschmacksverirrung. Diese Beleidigung konnte sich nur so tief einbrennen, weil genau das deine Überzeugung ist.«

Okay, das trifft es ziemlich auf den Punkt. Ich hatte fast vergessen, wie gnadenlos selbstreflektiert ich schon immer war. Es bringt nichts, es zu leugnen. Daher stimme ich ihr zu: »Ja, du hast vollkommen recht, dieser Satz oben am Lagerfeuer hat mich sehr, sehr lange verfolgt. Jeder Typ, er konnte noch so attraktiv und charmant sein, wurde ab dem Moment, da er mit mir geflirtet hat, mit einem Schlag uninteressant. Ich und begehrenswert? Ne, der litt vermutlich an Geschmacksverirrung oder hatte einen Fetisch, mit dem stimmte irgendwas nicht. Jahrzehntelang war ich davon fest überzeugt.«

Sie greift nach einem kleinen Stock und stochert neben sich im Sand herum, wo die Wellen auftreffen. Dann murmelt sie leise: »Stimmt ja auch.«

Ich fühle mich gekränkt, freue mich aber gleichzeitig tierisch, dass meine Empörung über ihre Aussage von ganz tief innen kommt. Deutlich bestimmter entgegne ich: »Ne, sehe ich anders. Ich finde mich sogar ziemlich attraktiv.«

»Attraktiv?«, entgegnet sie entsetzt, wie aus der Pistole geschossen. Sie mustert mich von oben bis unten. »Dein Gesicht ist okay. Die Haare? Hm, ne, ständig dieser Dutt, das geht gar nicht, offen wären die Locken vielleicht schön. Aber der Rest? Sei ehrlich, würdest du dich jemals freiwillig ohne Klamotten zeigen?«

»Du meinst nackt?«, frage ich unnötigerweise nach, nur um ihre schockierte Reaktion zu beobachten. Ich schiebe direkt hinterher: »Yep, würde ich. Habe ich sogar. Mich hat halb Deutschland nackt in der BILD gesehen.«

Jetzt ist sie die Empörte, geradezu panisch schießt es aus ihr heraus: »Warum? O Gott, wie schrecklich. Wie ist das passiert? Wer hat dir das angetan?«