Ich schaff das schon!

Als ich das Krankenzimmer in der siebten Etage, das sogar durch die geschlossene Tür wie eine Blumenwiese duftet, betrete, strahlt mir ein unglaublich schöner Sonnenuntergang entgegen und taucht das Zimmer in warmes goldenes Licht.

Wow, was ein atemberaubender Anblick! Mit der leisen Melodie im Hintergrund, die mir nur allzu vertraut erscheint, wirkt das Ganze wie eine epische Filmszene.

Schade, dass ich das leuchtende Abendrot hinter den dunklen Wäldern während meines Aufenthaltes hier nicht sehen konnte, weil ich gefühlt von der ersten bis zur letzten Minute in diesem Zimmer flachlag. Im wahrsten Sinne, denn direkt nach der Lumbalpunktion, als sie mir vor wenigen Tagen noch unten in der Notaufnahme ohne Betäubung mithilfe einer speziellen Nadel im Bereich der Lendenwirbel eine kleine Menge Liquor, also Hirn- oder Rückenmarksflüssigkeit, aus dem Wirbelkanal abgezapft haben, gab es die Anweisung, mindestens eine Stunde liegen zu bleiben, da die Kopfschmerzen sonst unerträglich und nur im flach liegenden Zustand auszuhalten wären.

Ich wollte nicht hören, hatte die Befolgung des Ratschlags für ein kurzes Telefonat mit meinem besten Freund gegen Kopfweh getauscht und so diese unvergleichlich schöne Aussicht verpasst. Na ja, wer nicht hören will … Ich blicke aufs Bett und sehe die Bettpfannenverweigerin, wie sie mit AirPods in den Ohren auf dem Rücken liegt und nichts um sich herum wahrzunehmen scheint. Neben ihr auf dem Nachttisch das Zäpfchen, falls die Schmerzen noch stärker werden, dahinter der roségoldene Laptop und ein bunter Blumenstrauß, der so üppig ist, dass er keinen Platz neben all den anderen auf der Fensterbank gefunden hat. Daneben ein leerer Kaffeebecher.

»Pst, sag’s mir nicht!«, flüstert sie plötzlich, ohne die Augen auch nur einen Spaltbreit zu öffnen.

»Dir was nicht sagen? Ob du das Zäpfchen nehmen sollst?«, flüstere ich ebenso zurück und bin von ihrem entspannten, beinah beschwingten Tonfall mehr als irritiert.

»Nein«, erwidert sie lachend. »Aber ich höre doch schon an deiner Atmung, was gleich wieder – garniert mit den schönsten Postkartensprüchen – kommt. Ich will es aber gar nicht wissen. Meine Frage, ob das jetzt so bleibt, war eher rhetorisch gemeint!«

»Rhetorisch gemeint?«, wiederhole ich völlig verdattert und schaue genauer hin.

Aber ja, um ihre Lippen spielt tatsächlich ein vergnügtes Lächeln.

»Yep, rhetorisch. Ich muss die Diagnose und das alles hier ja auch erst mal verdauen. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Da stellt man sich schon mal solche Fragen.«

»Ja, aber…«, setze ich noch mal an.

»Pst …«, unterbricht sie mich erneut. »Kein Aber. Ich will absolut nicht wissen, was meine Zukunft für mich bereithält. Ich will nicht wissen, ob du im Rollstuhl sitzt, ich will nicht wissen, ob du eine Windel trägst. Ich möchte nicht wissen, ob du verliebt, verlobt oder verheiratet bist. Nein, ich will nicht mal wissen, ob du immer noch ständig den Knödel auf dem Kopf trägst oder wie grau deine Haare inzwischen sind!«

Zackig drehe ich mich zum Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand hängt, und erkenne sogar auf die drei Meter Entfernung, dass ich dringend einen Frisörtermin zum Nachfärben machen muss. Und neue Strähnen sind auch mal fällig.

»Weißt du«, sagt sie weiter mit entspannter Stimme, »ich will es auf mich zukommen lassen. Ich möchte mir meiner selbst bewusst sein und an meine Grenzen und darüber hinaus gehen. Wie soll ich durch meine Erfahrungen wachsen, wenn sich jeder Schmerz, jede Unsicherheit und jede Angst in Luft auflösen, sobald du auftauchst?«

Ich schlucke und lehne mich vorsichtig gegen die einzig nicht durch Blumen besetzte Stelle auf der Fensterbank und lasse meinen Blick auf ihren geschlossenen Augen ruhen.

»Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber von jetzt an schaffe ich das wirklich allein, vertrau mir bitte.«

Als sie das sagt, treten mir vor Rührung Tränen in die Augen, und ich muss die Nase hochziehen.

»Du weinst doch jetzt nicht etwa?«, fragt sie.

Ich schüttle schniefend den Kopf.

Weiterhin mit geschlossenen Augen streckt sie langsam suchend, in der Luft tastend die Hand nach mir aus, und ich ergreife sie.

Während sie meine Finger tröstlich drückt, flüstert sie: »Ich lasse dich jetzt gehen, denn du hast mich stark gemacht.«

Während ich mir die Tränen von den Wangen wische, beuge ich mich zu ihr übers Bett, drücke ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und sage: »Du hast mich stark gemacht.«

Sie lächelt. »Einigen wir uns auf gutes Teamwork. Aber jetzt musst du echt mal langsam aufwachen.«

Sie beginnt vergnügt, ganz leise ein mir vertrautes Lied zu singen:

 

 

Fuck, wir sind wieder an dem Punkt,

an dem das Leben verdammt unfair scheint.

Und die Panik schlägt Vernunft.

Du selbst bist dein größter Feind.

 

Doch ich weiß, dass du’s kannst.

Du hast es so oft bewiesen.

Und jede neue Narbe

hat dich nur weiter angetrieben.

»Hörst du das auch?«, frage ich und beuge mich etwas weiter zu ihr nach vorne, um zu orten, ob die Musik vielleicht aus ihren AirPods kommt.

Tatsächlich, die Stimme meines besten Freundes erkenne ich sofort und von Zeile zu Zeile, die ich jetzt immer deutlicher direkt neben meinem Ohr höre, wird mein Herz leichter und meine Gedanken klarer.

 

Jetzt schaust du in dein Spiegelbild.

Zum ersten Mal gefällt dir, was du siehst

und wenn du dir grad selbst noch nicht traust,

bin ich dein Kalenderspruch, damit du’s glaubst.

 

Du bist schön,

du bist stark,

es gibt so viel, was ich an dir mag.

 

Auch mal verplant,

einfach genial,

hab ich dir das eigentlich schon gesagt?

 

Du bist viel größer, als du denkst,

wünsch mir so sehr, dass du’s auch erkennst.

 

Du bist schön,

du bist stark,

ey, ich feier dich für deine Art.

 

Denkst du dich um dein’ Verstand,

dann glaub nicht alles, was dein Kopf dir sagt.

Bist so lange weggerannt,

vor dir selbst, vor dem nächsten Tag.

 

Jetzt schaust du in dein Spiegelbild.

Zum ersten Mal gefällt dir, was du siehst

und wenn du dir grad selbst noch nicht traust,

bin ich dein Kalenderspruch, damit du’s glaubst.

 

Du bist schön,

du bist stark,

es gibt so viel, was ich an dir mag.

 

Auch mal verplant,

einfach genial,

hab ich dir das eigentlich schon gesagt?

 

Du bist viel größer, als du denkst,

wünsch mir so sehr, dass du’s auch erkennst.

 

Du bist schön,

du bist stark,

ey, ich feier dich für deine Art.

Für deine Art.

 

Du bist viel größer, als du denkst,

wünsch mir so sehr, dass du’s auch erkennst.

 

Du bist schön,

du bist stark,

ey, ich feier dich für deine Art.

 

Du bist schön,

du bist stark,

es gibt so viel, was ich an dir mag.

 

Auch mal verplant,

einfach genial,

hab ich dir das eigentlich schon gesagt?

»Hast du den Song etwa die ganze Zeit immer wieder auf Repeat gehört?«, frage ich, während die Musik jetzt zusätzlich von einem rhythmischen Rappeln begleitet wird.

»Ich ja, aber du auch! Dein Wecker wird nicht aufhören zu klingeln, bis du endlich aufstehst«, höre ich ihre Antwort nun nur noch wie aus weiter Ferne. Dann lässt sie meine Hand los …