Vor einiger Zeit las ich einen Bericht über Brigitte Bardot. Drei Seiten lang in der Le Monde. Einst weltberühmtes Sexsymbol, dann weltberühmte Tierschützerin. Sie erwähnte unter anderem, mit welcher Leichtigkeit sie mit vierzig ihre Schauspielkarriere aufgegeben hatte. Ein Film mehr mit ihr würde den Weltenlauf nicht ändern. So grandios sei ihr Talent nicht gewesen, um nicht unbekümmert davon zu lassen. Sie sah sich nie wie viele ihrer Kolleginnen, für die dieser Beruf alles bedeutet, ja, die sich jenseits der Kamera kein Leben vorstellen können. Sie konnte es. Was sie anschließend souverän bewies.
Unbescheidenerweise musste ich beim Lesen an mich denken. Obwohl nie Sexbombe und nie weltberühmt. Aber die Einsicht, dass keine meiner Zeilen etwas bewirken, je irgendwen beeinflussen wird, die kam bei mir an. Mit der Erkenntnis, dass die Menschheit durchaus auf meine Begabung – die mir manche bescheinigen – verzichten könne.
Das war nicht immer so. Früher, als ich anfing zu schreiben, war ich von Übermut ergriffen: Ich erfinde die Sprache neu, hier kommt ein Wunder auf die Leserschaft zu, hier setzt einer entscheidende Maßstäbe.
Heute kichere ich, sobald ich mich an diesen Größenwahn erinnere. Denn in der Zwischenzeit musste ich erfahren, dass es andere auch können – vielleicht besser. Und dass wir keine neue Sprache haben. Was wir haben, wenn wir es haben: Talent und die Bereitschaft, uns zu schinden. Um anzutreten gegen einen übermächtigen Gegner: das Genie deutsche Sprache.
Zurück zu Madame Bardot. Gewiss, ihr Interview brachte mich ins Grübeln. Plötzlich gefiel mir die Vorstellung, das Schreiben aufzugeben. Zugegeben, nur als Gedankenspiel. Da ich nichts anderes kann, wofür mir jemand mehr als fünf Euro pro Tag zahlen würde, zudem mir alle Kraft fehlt, um Mensch und Tier zu retten, muss ich wohl bis auf Weiteres hocken und tippen.
Wie erfreulich, mit der Zeit verging mir jeder Anflug von Hochmut. Wie die so aberwitzige Idee, »der Welt den Spiegel vorhalten« zu wollen. Das moralisch Hochgerüstete verließ mich. Jede »Mission« schien mir von nun an verdächtig zu sein. Was bleiben soll, unbedingt: Texte für helle Köpfe zu verbreiten. Die beim Lesen mitdenken und mitfühlen. Was für ein Geschenk an einen Autor.
Die Folge: Ich mäßigte mich, ich hörte auf, mich zu überschätzen. Das Einzige, was mich in Zukunft antreiben sollte, war eine Tagebuchnotiz von Gabriel García Márquez, die ich in der Nationalbibliothek in Bogotá gefunden hatte. Die paar Wörter klangen wundersam trocken und cool: »Ich glaube, die revolutionäre Aufgabe des Schriftstellers ist es, gut zu schreiben.« Irgendwann las ich noch einen Satz von ihm zum Thema: »Warum ich schreibe? Um Frauen kennenzulernen.« Unheimlich, was Männer alles unternehmen, um zu gefallen.
Schreiben ist die nackte Maloche.
In Boulder, im Bundesstaat Colorado, traf ich am Naropa-Institut den finnisch-amerikanischen Übersetzer, Professor und Dichter Anselm Hollo. Der Dreiundsechzigjährige, erfolgreich und angesehen, leitete an der Universität einen Literaturkurs, an dem ich während ein paar Stunden – als stiller Zuschauer – teilnehmen durfte. Einer seiner vielen intelligenten Sätze, die ich notierte, ging so: »The basic line of writing is: tell a story!« Aus seinen weiteren Ausführungen habe ich in etwa verstanden: Erzähle eine Geschichte, stringent, zügig. Erzähle sie so, dass man sie beim ersten Lesen versteht. Moralisiere nicht, vermeide Detailhuberei, denke stets beides gleichzeitig: Inhalt und Form. Weder das eine noch das andere ist wichtiger, sie bedingen sich.
Ein kluger Gedanke in elegante Worte verpackt ist der Traum aller, die Sprache lieben. Kommt sie in Hochform daher, dann ist sie bisweilen imstande, uns die Trägheit des Herzens (»the inertia of heart«) auszutreiben. Eine Zeit lang, immerhin.
Noch ein Hinweis, bitte. Er bezieht sich auf das vorliegende Buch. Den Begriff »Reiseschriftsteller« finde ich eher bizarr. Das hieße ja nichts anderes, als dass so einer nur auf Reisen lebt und schreibt. Den Rest seines Daseins passiert nichts, da ist er tot. Noch ist es nicht so weit, ich bin jeden Tag, auch zu Hause in Paris, lebendig und jeden Tag – nebenbei – ein »writer«. Das ist einer, dem Dinge zustoßen, die er irgendwann veröffentlicht. Wenn sie denn bemerkenswert sind. Dabei ist vollkommen egal, wo es gerade brennt. Das Einzige, was zählt: Rührt es mich an, und könnte es andere anrühren? Ob ich in der Metro eine mutige Frau beobachte oder in New York durch die Subway fliege: Szenen eben, die uns etwas vom Leben auf Erden berichten.
PS: Erstaunlich, doch beim Stoffsammeln für dieses Vorwort fiel mir wieder die Nachricht einer Leserin ein (ich hatte sie radikal verdrängt), die mir vor Monaten gemailt hatte, dass ich ihr das Leben gerettet hätte. Das Leben! Mit einem Buch. Da ich als Reporter zuerst grundsätzlich nichts glaube, habe ich intensiv nachgefragt. Eine Art Kreuzverhör, mit detaillierten Fragen, um herauszufinden, ob hier jemand pathetisch übertreibt oder tatsächlich die Wirklichkeit berichtet. Aber ihre Geschichte blieb kohärent. Keine Widersprüche, auch später nicht. Zudem schrieb sie ruhig, ohne Drama, ohne Superlativ in der Wortwahl.
Was war geschehen? Die junge Frau, Ende zwanzig, hatte eine widerliche Kindheit hinter sich, später zwei Begegnungen mit schwer übergriffigen Männern. Was zuletzt nicht ohne psychische und psychosomatische Folgen blieb: auch strudelnde Depressionen, auch eine kaputte Niere. Was nicht aufhörte, was nur bedrohlicher wurde. Also packte sie eines Tages ihren Rucksack und fuhr in ein Land mit viel Meer an allen Küsten. Dort, im Atlantik, wollte sie aufhören zu leben. Das war ihr Plan.
So weit, so schaurig, aber: Ein Freund, wohl wissend um ihre Gefährdungen, hatte ihr meine Biografie mitgegeben, »Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend«. Und Anna, so soll sie heißen, fing an zu lesen, nachts im Zelt. Und sie las so, wie ich es mir immer gewünscht hatte: nicht als Bericht aus dem Fegefeuer, sondern als rotzige Abrechnung, angetrieben von einem unbedingten Willen, nicht zu zerbrechen. Und Anna dachte, so schrieb sie mir: Was der kann, kann ich auch – davonkommen und ein anderes Leben finden. Und sie baute das Zelt ab und kam zurück. Nicht geheilt, aber mit der Kraft, nach einem Ausweg zu suchen. Einem sanfteren als dem Tod. Was ihr offensichtlich gelungen ist.
Okay, ich widerrufe kurz. Ein Mal hat ein Buch von mir den Lauf der Dinge verändert. Ich will mich nicht beklagen.