Irgendwann, nachdem der zweite Lockdown beschlossen war, fiel mir ein Satz von Woody Allen ein: »Die Ewigkeit kann lang dauern, besonders dem Ende zu.«
Zurück auf Anfang. Als es März 2020 ernst wurde mit der Pandemie, hatte ich einen Unfall in Paris, wo ich lebe. Ein Autofahrer war so freundlich und drängte mich, den harmlosen, den geruchlosen, den lautlosen Radfahrer, zur Seite. Mein rechtes Knie knallte auf das Trottoir, und ich lag flach. Der Täter gab unbekümmert Gas und verschwand.
Knie und Wade verbogen sich die folgenden Tage. Ich reiste nach Deutschland, um mich untersuchen zu lassen. Da inzwischen die Krankenhäuser verpflichtet waren, »nicht absolut notwendige« Eingriffe zu verschieben, musste ich – bald ausgerüstet mit Orthese und zwei Krücken – betteln gehen. Um eine barmherzige Seele zu finden, die bereit war, mich zu operieren. Da eine konservative Heilung nicht mehr infrage kam. Zu heftig die Verletzung. Ich fand den Barmherzigen, der meinen Fall für »absolut« erklärte, denn weiteres Warten hätte bleibende Schäden bedeutet.
Fünf (!) Wochen nach der Kollision kam ich unters Messer, mit Vollnarkose. Um drei Stunden später das Krankenbett wieder frei zu machen. Ich war entlassen.
Sorry, ich hatte mich getäuscht, schon jetzt begann die Ewigkeit.
Einen Tag und eine Nacht hielt das Knie still, noch anästhesiert. Dann näherte ich mich dem ersten Kreis der Hölle. Noch keine Hölle, aber entschieden näher dran. Die Aussage eines befreundeten Chirurgen fiel mir ein: dass Knie besonders begabt sind für Schmerzen.
Acht (!) Monate zog sich das hin, täglich und nächtlich sediert mit Diclofenac und Tilidin. Unmöglich herauszufinden, ob bei der Operation gepfuscht worden war oder nicht. Die nächste Komplikation: Ich war mitten im Schreiben eines neuen Buchs, mit einem Abgabetermin Anfang November. Am Schreibtisch sitzen ging nicht mehr, ich zog um auf den Futon. Mit dem Rücken an der Wand konnte ich das Bein ausstrecken, vor mir ein kleines Tischchen. Legte ich mich in die Badewanne, musste die Freundin mich herausheben: 75 Kilo, begleitet von lautem Geschrei.
Ich will nicht klagen. Bisweilen – wer weiß, warum – gab die Pein für eine Stunde Ruhe, und ich war imstande, die Seligkeit zu genießen, die ein Opioid dem Körper schenken kann.
Corona war gnädig mit mir, nie erreichte das Virus meinen Rachen. Trotzdem, die Kollateralschäden waren beträchtlich – vom Reiseverbot nicht zu reden. Von den drei weiteren Skandalen gewiss: die geschlossenen Cafés – wo sonst täglich lesen, sprich, anderer Leute kluge Fundsachen entdecken? Die verriegelten Kinos – wo sonst so folgenlos denken, fühlen und weinen dürfen? Und der größte Skandal: das Auftreten jener Hanswurste, die unter dem Pseudonym »Querdenker« lautstark bewiesen, dass man hirntot sein und sich gleichwohl bester Gesundheit erfreuen kann.
Ich hielt durch, das Manuskript landete rechtzeitig auf dem Schreibtisch der Verlegerin, und ich humpelte – Orthese am Bein und die Krücken in beiden Händen – brav und regelmäßig zum Physiotherapeuten. Und hörte nicht auf, trotz gemeiner Verrenkungen, mich jeden Tag eiskalt zu duschen. Vor langer Zeit hatte ich beschlossen, an keinem Tag Opfer sein zu wollen.
Wem ich diese Sturheit verdanke? Den acht Monaten, die ich als junger Kerl in einem japanischen Zenkloster verbracht hatte. Mein Ziel war, weder Buddhist zu werden noch das Göttliche zu finden. Ich versuchte etwas viel Anstrengenderes, ich wollte mein Leben in den Griff bekommen.
Aller Anfang war schwer, auch damals in Kyoto. Denn sogleich musste man damit beginnen, sich von einer seiner Lieblingsbeschäftigungen zu trennen: sich rastlos in Selbstmitleid zu baden und blindlings andere für die eigenen Abstürze haftbar zu machen. Jetzt hieß es, das Spiel der Infantilisierung zu unterbrechen und zu lernen, als Volljähriger aufzutreten. Als einer, der Verantwortung übernimmt für das, was er sagt, und für das, was er tut. Das würde dauern, hieß es. Und es dauerte.
Zen ist nicht für jede und jeden die Antwort. Ein Amerikaner, nur wenig älter als ich und der zweite Ausländer im Kloster, nahm sich in seiner Zelle das Leben. Natürlich war die Praxis der Meditation nicht der Auslöser der verzweifelten Tat. Philip war schon mit Depressionen hier angekommen. Und dagegen braucht es andere Mittel, kein stilles Sitzen auf einem Kissen erlöst aus einem solchen Leid. Im Gegenteil, das Maß an Strenge und die endlosen Stunden vollkommen verschwiegenen Versenkens werden die Einsamkeit verstärken.
Viele Jahre später sah ich Bohemian Rhapsody, den grandiosen Film über Freddie Mercury. In einer Szene gibt der Vater dem jungen Freddie drei Regeln mit: »Good thoughts, good words, good deeds«, was in Zen-Sprache übersetzt weniger moralisch klingt: Klare Gedanken, klare Worte, klare Handlungen.
Wer exakt denkt und das Gedachte exakt formuliert, darf damit rechnen, dass er in einer Weise handelt, die seinen Vorstellungen und Wünschen am nächsten kommt. Natürlich, auch Intuition kann helfen. Aber ich bin nicht sonderlich begabt dafür, ich traue mehr dem Verstand.
Corona hat gezeigt, wo man landet, wenn man das Denken einstellt und »gefühlten Wahrheiten« vertraut: auf der Intensivstation oder in der Urne.
In den langen Monaten der Plage erinnerte ich mich oft an ein Wort des Roshis, des Abts im Kloster. Nicht, dass ich jeden Tag stark genug gewesen wäre, um es mit dem Satz aufzunehmen. Doch er diente als Vademecum, als sanfte Peitsche. Damit ich nicht zum ambulanten Tränensack mutiere: »Die meisten begreifen alles, was ihnen widerfährt, entweder als Segen oder als Fluch. Manche sehen darin eine Herausforderung.«