Das Handwerk des Lebens

Vor einiger Zeit stand ich vor meinem kambodschanischen Schuster. Mit der Bitte, die Stiefel neu zu besohlen. Vor einem Jahr hatten wir uns das letzte Mal gesehen. Wir mögen uns, er hat Witz. Ich setzte mich auf den Kundenhocker und fragte ihn, wo er die vergangenen zwölf Monate gewesen sei. Und mit einem feinen Sinn für Lakonik antwortete Song: »Here.« Die Nächte zu Hause bei Frau und vier Kindern. Und die Tage hier, auf einem Trottoir in Phnom Penh. Wäre ich achtsamer, hätte ich mir die Frage sparen können. Wo sonst sollte der arme Teufel sein Leben verbringen? Wenn nicht täglich auf seinen zwei Quadratmetern, mitten in der hübsch abgasversauten Hauptstadt?

Himmel, habe ich ein Glück! Das ich gewiss nicht verdiene und für das ich mich in keinem Moment schäme. Und nicht eine Sekunde lang bemitleide ich Song. Wie stets strahlt er Gleichmut aus, so eine lässige Zufriedenheit. Bin mir nicht sicher, wer beneidenswerter ist, er oder ich?

Ich will mich nicht beschweren. Ich darf in der Welt herumfahren und nach Frauen und Männern suchen, die mir einen Blick in ihre Seele gewähren. Viel inniger kann es zwischen zwei Wildfremden nicht werden. Jemand erzählt aus seinem Leben, und ein anderer hört zu.

Mir ist allemal recht, wenn Sprache Gefühle auslöst – auch die bitteren, auch die todtraurigen. Ich will nicht ausweichen, keinem Wort, keinem Gefühl. Ich mag Menschen, die mich verwirren, die clever auf meine Sicherheiten zielen.

Mich nach jeder Begegnung eine Spur intelligenter bewegen: Wer könnte sich da beklagen?

Doch bisweilen täusche ich mich: Da sitzt ein Flachkopf, der nur Flachheiten preisgibt. Man bohrt, man bohrt weiter, dennoch, nur Holzwolle kommt zum Vorschein. Dann verdufte ich. Alles ist willkommen, nur kein Geleier aus 1001 Plattheiten. Wie sagte es Jack Kerouac? »Life is holy and every moment is precious.« Den Satz hat er mit der Keule geschrieben. Viele haben ihn noch nie gehört.

Ob Sprache jene aufwecken kann, die schon tot sind, bevor sie offiziell begraben werden? Zweifel sind erlaubt.

Irgendwann schreibe ich über sie, über all die, die sich tatsächlich trauen, auch ihre Widersprüche, die Niederlagen und dunklen Zonen auszuhalten. Die sich nichts weglügen. Und erkenne mich wieder. Nicht in allem, aber fraglos hie und da. Jeder Mensch ist mein Niveau.

Vor nicht langer Zeit, während ich in meinen Mac tippte, erinnerte ich mich an eine Zeile, die auf der Fassade einer französischen Schule stand: »Schreiben heißt das Glück suchen.« Von wegen, schreiben heißt das Glück finden.

Beide Arten von Glück sind ein Geschenk. Einmal die Nähe von Fremden, die mich an ihrem Schicksal teilhaben lassen, einmal sinnieren und Schreiber sein dürfen – hinter verschlossener Tür, unerreichbar, fern jeder Stimme. Nur das unhörbare Summen des Computers.

Habe ich schon erwähnt, dass ich ein Weltmann bin? Ah, das pompöse Wort hat bei mir eine durchaus bescheidene Rechtfertigung: Ich bin es, weil ich in die Welt verliebt bin. Wie jeder sich einen Weltmann (oder eine Weltfrau) nennen darf, der mit einem Freundschaftsvertrag in der Tasche loszieht. Die Erde als Freund.

Der Satz klingt wie ein Märchen, denn unser Ein und Einziges, unser Planet, hat eine Menge Feinde, unheimliche Feinde. Die vor Urzeiten beschlossen haben, dass zu viel niemals genug sein kann. Gnadenloses Wachstum als Antwort auf die Leere in uns, die wir nicht loswerden.

Wer heute seinen Rucksack schultert, der muss auch die klaffenden Wundstellen verkraften, die Mondlandschaften, die Betonwüsten, die dahinsiechenden Wälder, die Meere, die Flüsse, sie alle ächzen unter einer namenlosen Gier. Der unsrigen.

Ich will kein Robinson Crusoe sein, der sogleich plant, seine Insel zu kolonisieren. Will lieber Marco Polo nacheifern, der stets nur zeitweise Gast war, nie Beutemacher, nie Aggressor, nie einer, der erobern musste. Er wollte nur schauen, nur wissen, nur begreifen. Und immer staunen. Über jedes Weltwunder, an dem er vorbeikam.

Moral predigen ist ätzend. Nicht vieles ödet rabiater an als Texte, die mit dem erigierten Zeigefinger verfasst wurden. Wer will schon belehrt werden? Vielleicht funktioniert verführen. Mit Worten, die ganz nebenbei, eher nachlässig eine Idee verbreiten, die zu mehr Sanftmut anstiftet. Damit wir abrüsten und weniger radikal auf die Natur einprügeln.

Ich versuche stets, meinen pädagogischen Eros zu zügeln. Und scheitere, oft. Wie jetzt: Wer immer hier mitliest, messieurs-dames, ich will Sie zur Liebe zur Welt und zur Liebe zum Reisen überreden. Sagen wir, so reisen, dass die Welt dabei nicht vor die Hunde geht. Früher hätte ich an dieser Stelle ein paar Hardcore-Regeln abgefeuert, überzeugt, dass Zorn die Zustände ändert. Wie vermessen, wie müßig. Heute verstecke ich mich hinter einem, der es besser kann als die meisten von uns, hinter Antoine de Saint-Exupéry. Der Franzose, der Schriftsteller (Der kleine Prinz), der Verwegene und Pilot, der mit vierundvierzig Jahren bei einem Aufklärungsflug vor der Küste von Marseille von einem deutschen Jagdflieger abgeschossen wurde. Er notierte einmal: »Wenn du ein Schiff bauen willst/So trommle nicht die Menschen zusammen/Um Holz zu beschaffen/Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen/Sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.«

Das ist umwerfend klug. Und ohne einen Funken Wut geschrieben. Was für künftige Seeleute gilt, soll auch für alle acht Milliarden Einwohner der Erde gelten: Wer seinen Wohnort liebt, unseren unvergleichlichen Globus, ihn achtet, sich nach ihm sehnt, der wird ganz selbstverständlich mit Respekt und Bewunderung mit ihm umgehen. Wem derlei Liebe fehlt, der wird über ihn herfallen, der wird ihn sich – bereits in der Bibel steht der Aufruf zu diesem Verbrechen – »untertan« machen. Und Untertanen behandelt man schäbig, man beutet sie aus, denn ihr Wohl verspricht null Mehrwert.

Die einzige Gier, die keine Spur der Verwüstung hinter sich herzieht, ist die Neugier. Sie will nicht haben, sie will sein, will näher kommen den Myriaden Rätselhaftigkeiten.

Wir lesen oder hören, was wir durchaus bejahen. Heimlich geben wir dem Autor oder der Autorin recht, die uns auf dunkle Ecken – Verzagtheit, Bequemlichkeit, Angst – in unserem Leben hinweisen. Er (sie) spricht etwas aus, was uns alle angeht. Heftiger als uns lieb ist. Aber wir schieben den Mahnruf weg, Ausflüchte sind prompt zur Hand, und der Teufelskreis der Routine lässt uns nicht los. Eisern. Eisern lang. Bis wir am Ende unserer Tage in Tränen ausbrechen über die Sehnsüchte, die wir stillschweigend begruben. Long ago.

Zuletzt die Geschichte von einer, die es sich anders überlegte. Grandios anders. Eine gute Geschichte, die tatsächlich davon erzählt, was uns Rilke schon vor Urzeiten aufgetragen hat: »Du musst dein Leben ändern!«

Und das beginnt mit der Sprache. Sprache als Herzschrittmacher. Und sei es der innere Monolog, bei dem wir mit uns selbst reden. Wo ein Mensch unhörbare Pläne schmiedet. Weil er mit dem, was er an Leben hat, nicht zufrieden ist. Wer nun über genügend Entschiedenheit und Willen verfügt, der setzt um, was er sich ausgedacht hat. Jeder kennt das mitreißende Gefühl, wenn aus vagen Worten Wirklichkeit wird, wenn man imstande ist, eine über viele Jahre eingeschlagene Richtung zu verlassen und sich woanders hinzutrauen. Mit der unwiderruflichen Absicht, dort anzukommen, wo es lebensfroher zugeht, sinnlicher, mit gewiss weniger Stumpfsinn.

So ist nun die Stunde von Mariella gekommen, die mir eine erstaunliche Mail schrieb, ihr erster Satz: »Sie haben mich infiziert, Herr Altmann.« Das ist kein schöner Anfang, aber ich sollte gleich erfahren, dass sie ihn ganz und gar bildlich meinte. Nun, sie habe, so fuhr sie fort, ein Buch von mir gelesen und dieses Buch – eine Reise durch Indien – habe ihr »den Rest gegeben«. Es sei das Streichholz gewesen, »um die Lunte anzuzünden«. Die das Fass in ihr sprengte, ein Fass voller Wut und Depressionen und beschädigter Träume. Bestimmte Absätze seien »wie Peitschenhiebe« auf ihr gelandet.

Okay, der Autor infiziert, gibt den Rest, legt Feuer und peitscht seine Leserinnen und Leser!

Auf jeden Fall habe sie drei Tage nach der Lektüre angefangen, ihr altes Leben abzureißen, sprich, konkrete Schritte unternommen, um allem Unglück zu entrinnen: der faden Stadt, der faden Ehe, dem faden Beruf. Und ein paar Monate später war sie alles los, auch das Haus – auch fad. Und ging davon.

Mariellas Mail kam mit einem Foto. Da sah man die vielleicht Fünfzigjährige in der Hütte ehemaliger Menschenfresser sitzen. Mitten in Borneo. Sie lächelte triumphierend. An den Rand des Fotos hatte sie ein Zitat von Kurt Tucholsky gekritzelt (es stand im Indienbuch): »Und höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Ferne, und ich drehe mich im Bett herum und denke: Reisen …«