Der Augenblick, der mein Leben veränderte

Ach, »Der Augenblick, der mein Leben veränderte«. So lautete das von einem ahnungslosen Redakteur geforderte Thema. Ach, wie ich keiner Geschichte traue, die mit einem solchen Titel protzt. Ach, der Hype, das Gebläse, ach, der unbedingte Wunsch, das eigene Leben dramatisch auszuleuchten. Wie die Herrschaften, die den Jakobsweg entlanglatschen und hinterher die Welt wissen lassen, dass nun »alles ganz anders« sei. Aber ja, drei Wochen lang. Anschließend kommt der alte Affe Mensch wieder zum Vorschein. Wie der Speckgürtel nach einer Hungerkur.

Versuchen wir doch, etwas cooler aufzutreten. In solchen Momenten erkennen die meisten von uns – auch die rastlosen Reisenden –, dass sie wohl noch nie einen Augenblick erlebten, der ihr Leben veränderte. Dass wir – wenn wir denn Glück hatten – gewiss Frauen oder Männern begegneten, die uns bewegten. Die Freudenschreie oder Kummertränen lostraten. Oder uns zu wunderbar tiefen Einsichten in das Leben und das Leben in dieser Welt verführten.

Derlei Storys lade ich mir herunter, zuerst auf mein Hirn, mein Herz, dann auf den Mac. Weil sie mich heller machen. Weil sie ohne Superlativ auskommen. Weil hier kein Wundermensch auftritt, sondern einer, den ich für sein Menschsein bewundere, ja, für seine Begabung, mich zum Fühlen und Denken zu beflügeln. Einer eben wie Herr Aref, der Palästinenser. Natürlich hat er mein Leben nicht verändert. Aber er hat es beschwingt, so oft mit Staunen erfüllt.

Von ihm muss nun berichtet werden: Ich reiste durch Palästina. Um ein Buch über ein Land zu schreiben, das den Palästinensern seit mehr als siebzig Jahren gestohlen wird: von der israelischen Regierung, mithilfe ihrer Armee. In Tateinheit mit fanatisch-religiösen Siedlern – ebenfalls schwer bewaffnet. Der Landraub ist längst weltweit aktenkundig, längst weltweit geächtet. Was niemanden kümmern soll.

Im Goethe-Institut in Ramallah, der »Hauptstadt«, traf ich Herrn Aref zum ersten Mal. Als Chefrezeptionist. Da man kluge Zeitgenossen schon nach zehn Worten als klug erkennt, nahm ich ihn umgehend in Beschlag. Der Arme. Immer wieder entführte ich ihn in eine stille Ecke und beutete ihn aus. Ihn und sein Alleswissen. Nie – und ich stellte ihm hundert Fangfragen – kam ihm eine Silbe Hass über die Lippen. Obwohl auch seine Familie, wie hunderttausend andere, unter die Räder israelischer Vertreibung geraten war.

Verfallen bin ich dem Mann aber wegen seiner Meisterschaft der deutschen Sprache. Die Liebe zu ihr hatte er vom Vater geschenkt bekommen, dem Ingenieur, der nebenberuflich ein Schöngeist war, abends am Klavier Robert Schumann spielte und anschließend Kant und Schopenhauer las.

An meinem letzten Nachmittag in Palästina war ich noch einmal mit ihm verabredet. Zu einem feinen Dinner, zu dem ich ihn hartnäckig hatte überreden müssen. Ich begrüßte ihn wie immer mit »Monsieur Aref«. Weil dieser vielsprachige Palästinenser – weltwach, weltoffen, weltverliebt – Tag für Tag als Gentleman auftrat. Und, auch das noch, ein elegantes Französisch sprach. Neben Arabisch, Ungarisch (!) und Englisch.

Für all meine Fragen, die Aref tapfer beantwortete, für all die Zeit, die ich ihm raubte, für jeden gewährten Blick in seine Seele, seine Schmerzen, seine Lebensfreude, für jede ausgesprochene oder getane Freundlichkeit, für all das und viel mehr müsste ich ihm ein Museum hinstellen. Ziemlich hoch. Bis hinauf in luftige Höhen. Für ihn allein. Und in jedem Stockwerk könnte man die Belege für eines seiner Geschenke an die Welt begutachten: gleich fünf Etagen für seine fünf Sprachen, das nächste halbe Dutzend für sein unerhörtes Wissen, seinen Humanismus, seine an alle verschwendete Aufmerksamkeit, die tadellos geschnittenen Anzüge, seine dezente Ironie und für die souveräne Gewissheit, dass uns Menschen wohl nicht zu helfen ist. Quelle classe! Quel homme!

Bei diesem Dinner passierte, was stets passierte, wenn wir uns sahen. »Übertragung« nennt es die Psychologie: Ich »verliebte« mich in ihn, wollte ihn für mich. Als Vater. Es kamen immer wieder Momente in unseren Gesprächen, in denen ich – schier unbewusst – abdriftete und in die Träumereien eines sehnsüchtigen Kindes versank, das sich wünschte, in seiner Nähe aufzuwachsen. Egal wo. Hauptsache, umgeben von seinen Gedanken, seiner Wärme, ja seiner Begabung zu leben.

Ich ahne nicht einmal, woher dieser Mensch seine Kräfte nahm. Aber immerhin konnte ich mich vor ihm retten, damit das Verliebtsein keine neurotischen Züge annahm: Ich folgte dem Rat von Meister Goethe, der allen empfiehlt, haltlos zu bewundern – um mit der Übermacht eines anderen fertigzuwerden.

Wie jetzt. Monsieur Aref und ich saßen im wundersamen Garten des Restaurants Zarzour. Und er musste erzählen, wieder einmal. Die Vögel trällerten, und ich fantasierte mittendrin davon, den Sechzigjährigen mit nach Paris zu nehmen. Zum Herzeigen und Angeben: Schaut nur, der ist meiner, schaut nur, wie er funkelt!