Ich weiß bis heute nicht, ob das, was ich getan habe, schrecklich war, ziemlich schrecklich. Oder nicht, eher ein Akt, der sein musste. Der genau passte. Weil er mich frei und leicht machte.
Vor Jahren habe ich eine Story mit dem Titel »DER DIEB/Eine Liebesgeschichte« veröffentlicht. Ich beschreibe darin die unglaubliche Mühe, den endlosen Stress, die Schweißströme, die Hungertage, die Geldhaufen, den kriminellen Eifer, die detektivische Hartnäckigkeit und die Schmerzen am Körper. Sie alle waren der Preis, den ich vierzig Jahre lang zahlte: um mir eine Bibliothek aufzubauen. Von über neuntausend Büchern.
Hier ein paar Stichwörter: Wie so oft fing ich als Spätentwickler an, wurde erst mit einundzwanzig zum besessenen Leser. Und da ich mittellos war, entwickelte ich mich zum begabten Bücherklauer, der sich Spezialtaschen in dicke Sakkos und Mäntel nähen ließ und vor dem Spiegel die schnellen, fehlerlosen Bewegungen übte: um das Diebesgut lautlos und ungesehen verschwin-den zu lassen. Ich stahl überall, in Buchhandlungen, in Büchereien, in Antiquariaten, bei Bekannten, bei Verwandten, bei Freund und Feind. Auf mehreren Kontinenten.
Niemand erwischte mich, stets verließ ich gut bestückt den Tatort. Zweimal in den vielen Jahren kam ich haarscharf davon. Ach, Momente, in denen das Adrenalin noch heftiger sprudelte.
Nein, nie fühlte ich mich schuldig, ich konnte ja nicht anders. Ich war Junkie, geblendet und blind von dieser Sucht nach Gedanken auf weißem Papier. Hätte man mich ertappt und verurteilt, ich wäre nicht in ein Gefängnis gewandert, eher in eine Nervenheilanstalt. Ich war nicht haftbar. Bestimmt auch nicht heilbar.
Ich schaffte es, nur noch einmal pro Tag zu essen. Um Ausgaben zu sparen für das nächste Buch. Ich stahl, aber bisweilen zahlte ich. Um keinen Verdacht zu erwecken. Ich war ein scheinheiliger Dieb.
Bald folgten den Diebestouren rigorose Sanierungsmaßnahmen. Denn das Lesen allein genügte nicht. Eine zweite Obsession verfolgte mich, lange schon vor dem Bücherwahn: die Sehnsucht nach Schönheit, nach Ebenmaß und Harmonie. Soll sagen, die Bücher mussten gut aussehen, Eleganz ausstrahlen. Zerfledderte Ramschware, grauschmutzig gefingerte Blätter, eselsohrengeschundene Exemplare, sie alle wurden einer Generalrenovierung unterzogen. Etwa fünfhundert Bände schickte ich nach Leipzig, ins »Zentrum für Bucherhaltung«. Damit sie dort die inzwischen braun gewordenen Seiten entsäuerten. Abertausende Bücher transportierte ich zu Buchbindern, um sie neu binden zu lassen. Und jedes einzelne Buch band ich hinterher mit durchsichtiger Folie ein – um sie gegen künftige Anwürfe zu schützen. Zuletzt orderte ich einen Stempel: »Ex Libris« mit meinem Namen. Jeder sollte sofort wissen, wem das Teil gehörte.
Nicht zu zählen die Stunden, die ich – sobald es das Internet gab – vor dem Computer verbrachte, um vergriffene Titel zu finden. Selbst aus Südamerika bekam ich Post. Augenblicke geschahen, da dachte ich, jetzt werde ich irre, jetzt platzt das Hirn, nichts wird mich je wieder von dieser Hysterie erlösen, ja, dass ich enden würde wie Dr. Kien, der Held in Canettis Die Blendung, den seine Bibliomanie in den Wahnsinn getrieben hatte, und der sich zuletzt mitten hineinsetzte und samt seiner 25 000 Folianten verbrannte.
Eines Nachts, nach einem nächsten Umzug – jetzt nach Paris – zuckte ich beim Heben einer vollen Bücherkiste zusammen. Und kroch behutsam zum Telefon. Um den Notarzt zu verständigen. Ein Hexenschuss hatte mich niedergestreckt, ich brauchte eine Spritze. Am folgenden Tag ging ich zum Orthopäden, drei Kilometer zu Fuß, da unfähig, mein Rad oder ein Taxi zu besteigen. Jeder Muskel meines Rückens war aus Eis.
Noch zweimal, schon weit nach Mitternacht, musste ich um Hilfe rufen und um eine Injektion betteln. Nicht, dass mich die Hilflosigkeit zur Einsicht bewegt hätte. Ich liebte Bücher, und Liebe kann radikal uneinsichtig sein.
Nicht eine Sekunde lang bereute ich. Jeder Schmerz war der Beweis meiner Hingabe. Was keine Frau, kein Mann, kein Gott geschafft hatte, Sprache aber gewiss: Jetzt war ich hörig.
Wie folgerichtig, denn fast jedes Buch war ein Gefährte geworden. Eine Art Schutzengel, der Worte aufgeschrieben hatte, die mich beseelten, ja, mir beistanden in dunklen Zeiten.
In Paris gab es sogar einen ganz praktischen Grund, eine (weitere) Bücherwand hochzuziehen: In der Nachbarwohnung waren zwei Alkoholiker eingezogen, und die elf langen Bretter – randvoll mit Büchern – dienten als Lärmschutz. Wie offensichtlich: Geist gegen Grölen. Kein Zweifel, Lesen macht klug und verbreitet Stille, Saufen macht blöd und produziert Lärm.
Damals las ich einen Bericht über einen Mann in Kalifornien, dessen Villa in Flammen stand und der in höchster Not seine Katze rettete. Was für eine Liebestat.
Würde ich die Katze in Sicherheit bringen? Statt der Bücher? Ich traue mich nicht, über die Antwort nachzudenken.
Das mag ein Außenstehender, einer, der nichts weiß von dieser Gier, nicht begreifen. Was ich über Jahre – manchmal wöchentlich, manchmal täglich – unter ständiger Gefahr der Entdeckung nach Hause schleppte, machte mich nicht gesünder, nicht schöner, nicht wohlhabender, taugte nicht als Altersvorsorge, ja, nach nur einmaliger Benutzung fiel der materielle Wert dieses Guts beträchtlich. Zuweilen sah ich arme Teufel damit auf einem Trödelmarkt hausieren gehen. Für fünfzig Cent pro Stück schlugen sie los, was einmal dreißig-, vierzigmal mehr gekostet hatte. Wie Hochverräter kamen sie mir vor.
Irgendwann wurde mir sogar bewusst, dass Lesen nicht zwingend aus jemandem einen besseren Menschen macht. Auch Hitler, der Welt erfolgreichster Massenmörder, war ein veritabler Bücherfreund. Wie manch andere Monster. Es muss auch nicht sein, dass man nach der Lektüre geistreicher durch den Tag geht. »Lesen gefährdet die Dummheit«, verkünden die Optimisten. Sie übersehen gerne, dass Schiffsladungen von Büchern auf dem Markt landen, die man mit weniger als drei Gramm Hirn bewältigen kann.
Geschenkt. Meine Euphorie blieb intakt. Aus der jeweils kiloschweren Last wurden die einzigen Gegenstände in meinem Leben, die ich hortete. Ich hasse Sammeln. Aber hier war ich hilflos. Was ich zuerst unbewusst ahnte, wurde allmählich zur irritierenden und gleichzeitig beruhigenden Gewissheit: solange ich der Sucht nachgab, befand ich mich auf der sicheren Seite, denn das Fieber – nicht so sehr das Stehlen (das auch!), eher das Genießen der heißen Ware – rettete mir mein Leben. Das ist ein bombastischer Satz, der ruhig stehen bleiben darf. Denn dank dieser Leidenschaft fand ich irgendwann, über tausend Umwege, meinen Beruf.
Stichwort Raubzüge: Sobald ich – spät genug – ordentlich Geld verdiente, hörte ich auf, mir unbezahlt Bücher anzueignen. Ich hatte keine Ausreden mehr, war nicht mehr arm und ärmlich. Zugegeben, es gab Rückfälle, alle fünf, sechs Monate. Und stets nur ein einziges Buch. Aber es musste sein: um die Reflexe zu checken, ob ich es noch kann und ob ich mich noch traue. Meist legte ich die Beute am nächsten Tag wieder zurück an ihren Platz. So diskret und heimlich wie vorher beim Entwenden.
So ging es ziemlich genau siebenunddreißig Jahre lang. Dann passierten seltsame Dinge. Inzwischen war jeder verfügbare Zentimeter entlang der Wände vergeben – an Bücher. Und der Blick auf sie, der mir täglich an weit über 13 000 Tagen ein Wohlgefühl, ja, Sicherheit und Schutz vermittelt hatte, fing an, mich zu bedrücken. Nachts träumte ich davon, dass die Abertausend stets näher rückten und mich mitten im Schlaf erdrückten – jene dicken Mauern, die mich bewachten, mich überwachten. Ich hatte keine Wohnung mehr, eher eine Bibliothek mit Schlafplatz und Schreibecke.
Ich suchte nach einem Ausweg. Eine Alternative wäre gewesen, mich in Paris nach einer größeren Unterkunft umzusehen. Da ich bereits über 30 Euro pro Quadratmeter für meine aktuelle Bleibe zahlte, hieße das plus 1000 Euro pro Monat. Um so viel Raum zu haben, damit wir beide – die 120 Meter Bücher und ich – ohne Platzangst miteinander leben könnten.
Was ich mir hätte leisten können – und dennoch nicht infrage kam. Denn die jetzige Lage war nicht zu toppen: in einer Sackgasse, autofrei, zentral gelegen, nur wenige Schritte zur Metro, zudem seit geraumer Zeit lärmfrei, da ohne den Polizisten (!), der seine Freundin ohrfeigte (und die mir erzählte, dass sie ihn liebe), ohne den Maurer, der seine Frau anbrüllte und sie bedrohte (und die sich anbrüllen und bedrohen ließ), ohne das zänkische Ehepaar über mir (das fest entschlossen schien, uns alle im Haus an seinem Elend teilhaben zu lassen), ohne die zwei ersten und später anderen Spritnasen (die anscheinend nur mit ein paar Promille im Schädel ihr Leben aushielten).
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich die Polizei rief. Damit Ruhe und Frieden einkehren. Erstaunlich, mit welchem Nachdruck Leute ihr Unglück inszenieren. Ach, nicht zu vergessen die vier Halbwüchsigen beiderlei Geschlechts, die hier einzogen und unmöglich je das Wort »Rücksicht« gehört haben konnten: So kaltblütig drehten sie die Musik auf, so nachdrücklich knallten die Türen, so unbekümmert grölten sie zweimal die Woche, freitags und samstags, ihren Frust in die Nacht.
Das alles war Vergangenheit. Irgendwann hatten wir friedlicheren Mieter dafür gesorgt, dass ihnen gekündigt wurde, allen. Gleichzeitig versprach uns der Besitzer, in Zukunft energischer die Neuzugänge zu überprüfen.
Jede und jeder sei mir willkommen. Unter der Voraussetzung, dass man sich auf die Grundregeln des zivilisierten Zusammenlebens einigt.
Mir blieb die wunderbare Einsicht, dass ich einen fabelhafteren Platz in Paris nicht finden würde, und die ebenso klare Erkenntnis, dass es Zeitgenossen gibt, Frauen wie Männer, bei denen man nicht andocken kann. Garantiert nicht mit Worten oder fairen Angeboten. Da sie längst beschlossen haben, sich nicht zu ändern. Selbst die offiziellen Verwarnungen und Bußgelder wirkten nur Tage. Dann legten sie erneut los. Unbelehrbar.
Die Alternative – woanders einzuziehen – wurde verworfen. Umso unbeschwerter, da ich ab nun unter Leuten lebte, die sich freundlich und zuvorkommend benahmen.
So begann der dreijährige Kampf: Behalte ich die Bücher, oder entferne ich sie? Der Gedanke kam mir anfangs vor, als verriete ich jene, die mich so ausdauernd behütet hatten. Und ohne die ich nicht davongekommen wäre. Ich rechnete mit bitteren Depressionen nach der Tat, der Untat. So schreckte ich immer wieder zurück, traute mich nicht.
Aber ich hatte mich verändert. Ich brauchte keine Bücherwände mehr, um vor jedem Besuch anzugeben. Zudem war ich fauler geworden, verlor die Lust, an jedem Jahresende Tonnen von Papier wegzuräumen – um Bücher und Bücherregale von Staubwolken zu befreien.
Das war ja meine Spießerseite, seit ich denken kann: penetrante Sauberkeit. Ich ertrug den Spott meiner Umgebung, verwies lächelnd auf Henry Miller, dessen zweite Frau June ihn als »petty bourgeois« verlacht hatte. Das immerhin durfte ich mit Henry gemeinsam haben, den Putzfimmel. Der amerikanische Schriftsteller nannte als Ausrede seinen deutschen Vater Heinrich Müller, von dem er die Peinlichkeit geerbt habe.
Und noch etwas war verschwunden: meine Versagerängste, die schwarzen Stunden der Sinnlosigkeit. Ich musste nicht mehr beschützt werden, die Krücken konnten weg. Zeit war, mir zu beweisen, dass ich ohne sie zurechtkommen würde. Das Loslassen der Bücher sollte mich näher an mein Traumziel bringen, die noch immer unerreichte Leichtigkeit – in jeder Hinsicht, materiell und oben im Kopf. Außer meinem Bankkonto, den Klamotten, dem Mac und dem Fahrrad wollte ich nichts mehr besitzen. Gut, meine geliebte Pariser Wohnung, sie soll mir auch bleiben.
Das alles nicht aus ideologischen Gründen, sicher nicht, nein, rein aus dem drängenden Bedürfnis, das bisschen Lebenszeit nicht mit der Verwaltung meines Hab und Guts zu verschleudern. Auf keinen Fall das Leben verbarrikadieren mit Dingen und Gerätschaften, die man anschließend einräumen, putzen, stapeln, wegräumen, umschichten, versichern, reparieren, ja, für die man ganze Garagen hochziehen muss, um sie mit immer neuem Müll zu fluten.
Die »quality time« – so sagen sie in Amerika – sollte zunehmen. Und den Anteil von »shit time« so gering wie möglich halten.
Ich durfte nicht enden wie Tutanchamun, der vor etwa 3350 Jahren als Pharao herrschte. Als man seine Grabkammern entdeckte, brauchte man Tage, um das königliche Gerümpel, das man ihm mitgegeben hatte, zu sichten. Abgesehen von ein paar Zentnern Gold lagen unter vielem anderen 145 leinene Unterhosen für den Toten bereit. Damit er adrett gekleidet im Jenseits unterwegs sei. Nun, die Unterwäsche lag noch immer da, unbenutzt.
Ich wollte anders tot sein. Ohne Berge von Arbeit für die Lebenden zu hinterlassen. Ich kannte Leichen, die waren leblos so anstrengend wie mitten im Leben. Ungeheure Aufräumarbeiten mussten erledigt werden, um sie endgültig loszuwerden.
Das wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Denn das Erste, was der Wohnungsbesitzer nach meiner Beerdigung – verfeuern und verstreuen, bitte – tun würde: die Müllabfuhr anrufen und die Bibliothek abtransportieren lassen. Ist es da nicht intelligenter, sie vorher an den rechten Ort, die rechte Person zu befördern?
In Mexiko hatte ich einen Friedhof besucht, auf dem sich viele Gräber von Drogenbossen – jeder ein Vielfachmörder – befanden. Manche von ihnen, so die Totengräber, schafften es, unversehrt und vollständig zu sterben. Andere kamen nur durchlöchert oder zerstückelt zur letzten Ruhe. Das ungemein Witzige: Die meisten verwesten nicht in Mausoleen, sondern unter einer Art Einfamilienhaus mit allen Schikanen: Klimaanlage, Fernseher WiFi-Anschluss, Sofa, Esstisch, Küchenecke mit Kühlschrank, ja, einem Treppenhaus, das zum Schlafzimmer führte. Oft schmückte noch ein Altar die Möblierung. Tiefgläubige Schwerverbrecher mit dem Gekreuzigten als Schutzpatron – Realsatire vom Feinsten.
Sie benahmen sich wie Tutanchamun, getrieben von Protzsucht und Raffgier, Aberglaube und Infantilismus. Nur moderner ausgerüstet. Dennoch fest überzeugt, dass es hinterher weitergeht. Entweder in der Nähe von Sonnengott Aton oder im katholischen Himmelreich.
Noch eine Beobachtung, die vieles lehrte. Ich will behaupten, dass mir die folgende Szene einmal die Woche passiert. Da ich grundsätzlich versuche, auch unterwegs als Gentleman aufzutreten, helfe ich Damen – gleich welchen Alters – beim Wuchten ihrer Gepäckstücke: hinein in den Wagon oder hinauf zu den über den Sitzen befindlichen Ablagen. Man könnte denken, dass die Schwerstbepackten für zehn Jahre in ein anderes Land ziehen. Aber nein, es geht nur in die nächste Stadt. Von dem Hinweis in (französischen) Zügen – »Voyagez léger!«, Reisen Sie leicht! – wollen sie nichts wissen.
Unheimlich, diese zähe Angst, nicht genug zu haben.
Noch ein letztes Beispiel. Eine Leserin – nennen wir sie Dorothea – schrieb mir einst eine lange Mail. Monate zuvor hatte sie mein Buch Triffst du Buddha, töte ihn! gelesen. Der Titel ist ein berühmter Satz aus Indien, der sagen soll: Irgendwann musst du dich von deinem Guru trennen, deinem Psychiater, deinem Gott oder von wem auch immer, der dich bisher geleitet, geführt und bestimmt hat. Du musst erwachsen werden, musst selbst über dich entscheiden, selbst entscheiden, was richtig ist und was nicht.
So klappte Dorothea frohgemut das Buch zu und kletterte hinauf in den Speicher. Sie wollte mit den übersichtlicheren Zwängen anfangen, die ihr Leben einkesselten: den unterm Dach (und im Keller) seit drei Ewigkeiten unberührten Schrott loswerden. Denn Freiheit, dachte Buddha, dachte Konfuzius, dachte mein Zenmeister, blüht leichter, wenn ein Mensch von mehr »Leere« umgeben wird. Wenn das Auge nicht ununterbrochen gebremst wird, sondern schweifen darf. Die zwei Wörter »Ballast abwerfen«, sie klingen garantiert in jeder Sprache verlockend.
Doch Dorothea scheiterte. Sie beichtete mir ihr Versagen, gestand, dass sie vor Ort war, ganz oben im letzten Stock, mitten in einem Meer verranzter Kartons mit dem Weihnachtsflitter aus irgendeinem Jahrhundert und einem verbeulten Kinderrad aus fernen Tagen und rostigen Türgriffen aus dem Haus ihrer Eltern und, und, und – sie es »nicht übers Herz brachte«, den Plunder in Plastiksäcke zu stecken und verschwinden zu lassen.
Da ich ein gemeiner Mensch bin, habe ich lauthals gelacht, als ich von ihrer K.-o.-Niederlage erfuhr. Sie könne nicht, sie schaffe es nicht. Okay, erst gelacht, als sie mir von ihrem dritten Anlauf erzählte, bei dem sie einmal mehr mit leeren Händen zurückkam. Verstanden, die zehn Paletten Sperrmüll müssen bleiben, den Unrat darf keiner anrühren. Unergründliches Menschenherz.
Ich erinnerte mich an eine Stelle in Key Largo, einem Film mit Humphrey Bogart: Gangsterboss Rocco (Edward G. Robinson) ist wie so oft gehörig unzufrieden, und Bogart, eine Art Geisel von ihm, weiß auch, warum: »He wants more.« Und der Chef, geradezu begeistert, bestätigt: »That's right, I want more.«
Ich vermute, dass all diese Begebenheiten, all diese Szenen dazu beitrugen, dass ich es riskierte – ein Leben ohne eigene Bibliothek.
Hier der letzte Funken, der nötig war, um zu handeln: Ich war von Frank Plasberg in seine Talkshow eingeladen worden. Unter den anderen Gästen befand sich auch ein gewisser Oliver I. Er hatte vor Jahren weit über eine Million im Lotto gewonnen. Und Olli, völlig entspannt, erzählte, wie er sie hurtig loswurde. Mithilfe seiner Großzügigkeit, der falschen und echten Kumpels, seiner Nonchalance. Jetzt war er sie los und lebte wieder von Hartz IV. Ohne Ressentiments, ohne Reue, auch ohne Schuldzuweisungen. Er hatte eine Menge Kohle, super, und nun hatte er sie verjubelt. Denn die Kiste Scheine habe ihn – wie bizarr – »bald belastet«.
Es war dieser Abend, an dem ich zum ersten Mal – aus Ollis Mund – den so einfachen, so weisen Satz hörte: »Irgendwann hat der Besitz dich.«
Das war der letzte Auslöser, klar und keinen Widerspruch mehr duldend. Zurück in Paris, kümmerte ich mich umgehend – nach so viel Zeit voller Ja und Nein, Pro und Contra – um den Abtransport der etwa vier Tonnen Papier plus der einen Tonne Holz. Der Gesamtwert – Erwerb, Instandhaltungskosten, Regale (Maßarbeit) und Umzugsrechnungen addiert: rund 150 000 Euro. Mit einem Schlag wurde ich um 5000 Kilo leichter. Ich ließ alles los und verlangte keinen Cent. Vierzig Jahre lang hatte ich den Bücherberg hochgezogen, nun war er in acht Stunden verschwunden. Ich legte mich ins Bett und wartete – auf die Depression. Die nicht kam. Ich grinste zufrieden.
Kleines Nachwort: Ich liebe Bücher noch immer. Und kaufe sie noch immer. Aber wenn ich fertig mit ihnen bin, dann lasse ich sie liegen. Sodass sie jemand an sich nimmt und liest. Und jedes Mal überkommt mich beim Loslassen der grandiose Gedanke: »Ich will es nicht besitzen.« In dieser Nacht erinnerte ich mich auch an ein Standardwerk von Erich Fromm, Haben oder Sein. Ich wollte unbedingt sein und einzig das – gewiss noch viel – haben, was dem Sein nicht im Weg steht. Leichtigkeit, das wär’s.