Die erste Leiche, die ich leibhaftig sah, war eine unglückliche Frau. Meine Großmutter mütterlicherseits. Und das Erste, was ich dachte, als ich sie fahl und mürbe und mit Lippenstift auf den dünnen Lippen im offenen Sarg betrachtete, war: Gut, dass sie tot ist. Nicht aus Wut auf sie, im Gegenteil, ich mochte sie, war voller Dankbarkeit ihr gegenüber. Aus vielen Gründen, auch weil sie es war, die mir Unterschlupf gewährt hatte, als ich meinem Vater, ihrem Schwiegersohn – sie hassten einander innig –, davongelaufen war. Ihr Tod stimmte mich froh, weil ich mich nicht erinnerte, sie je unbeschwert und heiter erlebt zu haben. Mir schien, als konnte sie nichts anfangen mit ihrem Hiersein. Alle Tage eine Bürde, die sie nie loswurde. Erst der Tod erbarmte sich ihrer.
Dennoch war ich traurig bei der Beerdigung. Über das Glück, das ihr entgangen war. Glück, so würde ich später lesen, hat gewiss auch mit der genetischen Veranlagung des Einzelnen zu tun. Die jemand hat oder eben nicht. Oma bekam nichts ab, sie war nicht begabt für Leichtigkeit.
»Am Leben sein« fand ich nie besonders aufregend. Die Frage war doch: wie am Leben sein? Irgendetwas muss das Leben einem geben, um durchzuhalten. Jeder, der den Suizid wählt, ist der Beweis dafür, dass der Mensch nicht oder nicht mehr bekam, was er sich erhoffte. Doch Selbstmord kam für Oma nicht infrage, sie war gläubig. Statt Tabletten zu schlucken, bettelte sie sonntags den Herrgott an, dass er sie »bald zu sich hole«.
Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges meinte einmal: »Ich habe die schwerste Sünde begangen, die ein Mensch begehen konnte: Ich war nicht glücklich.« Den Weltberühmten beschützte jedoch sein Genie, seine Kreativität, um das Unglück zu zügeln. Oma nicht. Sie war nur eine liebe, einsame, unglückliche Frau.
Auf einer Reise durch Mexiko hörte ich ein Interview mit einem Auftragskiller, Arbeitnehmer bei einem der berüchtigten Drogenkartelle. José bekam regelmäßig ein paar Tausend Dollar, um Konkurrenten, unliebsame Politiker und Journalisten zu liquidieren. Auf die Frage, ob ihn nicht Gewissensbisse plagten ob des kaltblütigen Tötens, meinte der Vielfachmörder, eher gefasst: »Nein, denn ich erlöse sie ja, sie haben es dann hinter sich.« So ungeheuerlich der Satz klingt, ich musste an meine Großmutter denken. An einem 12. Dezember hatte auch sie ihren Frieden.
Es hat sich längst herumgesprochen, dass der Tod unser Leben bestimmt. Würden wir nicht sterben, würden wir nicht leben. Denn kein Mensch könnte nur einen Tag die grausige Gewissheit aushalten, dass nichts ein Ende hat. Ewigkeiten mal Ewigkeiten endlose Aussichtslosigkeit auf das ewig Gleiche. Wer würde je eine Entscheidung treffen, je einen Krieg anzetteln, je ein Liebesgedicht schreiben, je eine Fünfte Sinfonie komponieren, wenn man wüsste, dass ein Entschluss, ein Plan, ein Versprechen noch weitere zehn Milliarden Jahre warten könnte. Und nochmals und nochmals zehn Milliarden. Keine Deadline in Sicht, nicht die geringste Hoffnung, dass Krankheiten, dass Schmerzen, dass Depressionen aufhören. Nichts hört auf, auch nicht die Ödnis, auch nicht der Überdruss, auch nicht die vergebliche Sehnsucht, zu verschwinden und zu vergehen. Aber ja, der Tod macht Angst. Doch seine Abwesenheit wäre die viel größere Katastrophe.
Für Gottesanbeter – sie haben für sich das »Jenseits« erfunden – ist die Sache allerdings noch nicht ausgestanden. Selbst wenn auf Erden für jeden von uns irgendwann Schluss ist, droht für sie die himmlische Ewigkeit – oder die teuflische. Wobei man nicht sagen könnte, welche sich schrecklicher anhört.
Bald nach dem Tag auf dem kalten Friedhof in dem Kaff, in dem Omi lebte und starb, kam der nächste Tote. Ich lag in einem Pariser Krankenhaus, im Hôpital Lariboisière. Nach Mitternacht war ich dort angekommen, per Taxi und mit einem überdicken, zum Platzen bereiten Mittelfinger, rechts. Hündisch schmerzhaft. Ich stotterte auf Englisch, was passiert war: nichts. Nur dass ich in meinem Hotelzimmer aufgewacht war, aufgescheucht von einem rasenden Stechen.
Man versprach, mich morgen zu operieren, und wies mir ein Bett in einem Saal zu, in dem mindestens dreißig (!) Personen lagen. Eine laute Nacht begann, viele keuchten und schrien. Ein Asyl für Abkratzer, Zustände wie in einem vergangenen Jahrhundert. Neben mir stöhnte ein Mann, irgendwann war Stille. Sobald es hell wurde, holten sie ihn ab. Er war tot. Er sah kaputt aus, ein Schwarzer. Ich fragte und glaubte, das Wort »alcool« verstanden zu haben.
Ein Chirurg verarztete mich, schnitt auf, Blut und Eiter flossen, eine freundliche Schwester cremte ein und legte einen mächtigen Verband an. Ich sagte brav »merci« und setzte mich ab, ohne zu zahlen. Ich war zweiundzwanzig und ziemlich arm.
Schon damals kannte ich den Satz von Freud, dass man erst ab dreißig den Tod als Wirklichkeit begreift. Davor ist man zu jung, um die Ungeheuerlichkeit hinzunehmen. So beunruhigten mich weder Omas Tod noch der des Ungekannten. Mein eigener Tod schien mir undenkbar, undenkbar fern.
Inzwischen war ich Student am Mozarteum, Bereich »Darstellende Kunst und Regie«. Eines Morgens, ein Jahr nach dem Vorfall in Paris, wurden wir knapp dreißig Schüler in den Saal der Probebühne gebeten und erfuhren, dass sich in der Nacht zuvor einer von uns das Leben genommen hatte. Getrieben, so mutmaßte man, vom Unglück in seiner Seele. Gefunden wurde er von der Freundin, die ebenfalls hier studierte und mit ihm zusammenlebte. Der Chef der Hochschule erzählte, was passiert war, und las uns zuletzt das Sonett 66 von Shakespeare vor. Die letzten beiden Zeilen sind eindeutig: »Müde von all dem, wär Tod mir süß;/Nur, daß ich sterbend den Geliebten ließ.«
Um den Schock abzufedern, lernte ich das Gedicht auswendig. Die Übersetzung von Gottlob Regis war altmodisch und ergreifend. Literatur, auch die traurige, kann trösten.
Diesmal war es anders. Obwohl ich O. wenig kannte (er war ein Jahrgang unter mir), kannte ich ihn genug, um zu erschrecken. Ein blutjunger Mensch wirft sein Leben weg. Weil er die Gedanken in seinem Kopf nicht mehr aushält. Das franst an, wohl wissend, dass nicht jeder gefeit ist gegen das lautlose Gift, das eines Tages anfängt, durch den Körper zu kriechen. Ich fühlte mich nicht gefährdet, aber seltsam irritiert von der Tatsache, dass ein Leben so leise verschwinden konnte. Weg – und nichts änderte sich. Die Stunde Gedenken war vorbei, und der Unterricht ging weiter. Brutal, irgendwie. Später wurde klar, dass das Drama nicht an die Öffentlichkeit dringen sollte. Fraglos, um den Ruf der Schule nicht zu gefährden. Tatsächlich stand nichts davon in der lokalen Presse. O.s Tod war tabu. Nachfragen wurden höflich ignoriert. Ein Verbrechen war ausgeschlossen, der Fall somit erledigt.
Ich fing an, von den Toten zu lernen, ganz langsam: Schmerzen nicht aufheben, nicht aufhäufen – wie die Bedrückung über den Selbstmörder. Sie zulassen, sie empfinden, doch, doch, aber nicht auf ihnen sitzen bleiben. Sie irgendwann loslassen. Damit Platz ist für neue Anwürfe. Die kommen, garantiert. Und die man parieren muss. Wer das nicht kann, wird leiden. Mit einem Kopf voller Sperrmüll, der nicht aufhört zu wachsen. Das hat nichts mit Herzenskälte zu tun. Eher mit Spielregeln, um die vielen Jahre durchzuhalten.
Wie sagte es Martin Walser: »Wenn du kein Virtuose im Vergessen bist, verblutest du auf der Intensivstation Erinnerung.«
Es dauerte nicht lange, bis die Nachricht kam, dass sich noch ein Schüler das Leben genommen hatte. Ihn kannte ich besser, denn wir hatten beide in einer Schulinszenierung von Ödön von Horváths Glaube, Liebe, Hoffnung gespielt. Er war umgänglich, skurril und auf intelligente Weise bissig. Nichts, absolut nichts in W.s Benehmen ließ auf schwarze Löcher in seinem Inneren schließen.
Das reicht noch immer nicht. Über dreißig Jahre später wird sich M. umbringen. Kopfschuss. Er war mir während der Studienzeit am Mozarteum einer der Liebsten, er war klug, wissenshungrig und ausgesprochen höflich. Und begabt. Wir standen gemeinsam auf der Bühne in einem Stück, in dem der Prozess und die Verurteilung Jeanne d’Arcs verhandelt wurden, waren beide fiese, bigotte Verhörer.
Ich rechne nach: Von den insgesamt sechzehn (männlichen) Studenten meiner Zeit haben sich drei für den Suizid entschieden. Die Selbstmordrate liegt in Deutschland bei 0,01 Prozent, bei uns lag sie bei knapp zwanzig. Unheimlich.
Man könnte nun denken, dass unsere Hochschule eine Brutstätte gnadenloser Konkurrenz, Kälte und Bosheit war. Eine Schmiede zum Unglücklichsein. Ein Ort eben, der labile Heranwachsende früher oder später ins Elend trieb. Mitnichten. Wir hatten engagierte Lehrer und einen charismatischen Leiter. Natürlich waren wir ehrgeizig, eitel und hungrig auf Anerkennung. Aber wir liefen nicht mit dem Messer zwischen den Zähnen herum. Wir arbeiteten miteinander, wir feierten zusammen, Liebeleien passierten quer durch alle drei Jahrgänge.
Kurioserweise spielte ich etwa zur gleichen Zeit – in Ireneusz Iredynskis Stück Leb wohl, Judas – einen Mann, der Teil einer politischen Untergrundorganisation ist, doch unter Folter zum Verräter wird, zum Judas. Er überwindet die Schmach nicht und erhängt sich. Was mitten auf der Bühne gezeigt wurde. Bei der Premiere funktionierte die unterm Hemd verborgene Vorrichtung nicht korrekt, um den Fall des Körpers abzufedern. Bewusstlos musste ich weggetragen werden.
Es dauerte nur Monate, und ich bekam einen Brief vom Bruder einer Freundin aus Abiturzeiten. Sie war beim Segeln ertrunken, er hatte überlebt. Barbara war ein Ausbund von Lebensfreude. Und mit dreiundzwanzig tot. Als ich aufgehört hatte zu heulen, kam die nächste Einsicht: Nichts beschützt. Eine Welle reicht, um uns auszulöschen. Oder ein Hirn, das den Depressionen nicht mehr standhält. Oder ein Baum, der im Weg steht. (Wochen nach Barbaras Tod flog ein gemeinsamer Schulfreund aus der Kurve.) Nachrichten, die bizarrerweise meinen Lebenswillen stärkten. Er schien mir die einzig mögliche Antwort. Von der Idee überirdischer Hilfe hatte ich mich längst verabschiedet.
Natürlich war ich nicht immer auf der Höhe meiner Ansprüche, war schwach, war mutlos, schielte bisweilen nach Kompromissen. Doch der Wille blieb, dieser kategorische Imperativ: sich nicht gehen zu lassen, sich zu wehren – auch gegen die Botschaften vom Tod der anderen. Das dauert, denn aus dem Vorsatz wird am nächsten Tag keine Tat. Geduld muss her.
Umzug nach München. Über die jämmerliche Zeit als Schauspieler dort habe ich bereits berichtet. Ich verdiente so wenig, dass ich nachts – ich hatte ja einen festen Vertrag am Staatstheater – heimlich Taxi fuhr. Als erstaunlicher Liebhaber fiel ich ebenfalls nicht auf. Da der Text hier von den Toten in meinem Leben handelt, sei immerhin der Hinweis auf Sabrina erlaubt. Wir hatten das, was die Franzosen eine »histoire de cul« nennen, sanft übersetzt mit: Bettgeschichte. Sie nannte mich einen Feigling, der für die »große Liebe« nicht taugte. Was gewiss stimmte. So wurde sie bald meiner überdrüssig, da besessen von der Suche nach »dem einen, dem Richtigen«. Sie war ein paar Jahre älter als ich, vielleicht erklärt das ihre Eile.
Unergründliches Menschenherz. Monate später klingelte das Telefon, und der Anrufer stellte sich als Thomas R. vor. Wieder ein Bruder, diesmal der von Sabrina. Er habe meinen Namen in ihrem Adressblock gefunden. Er meinte, ich hätte ein Recht zu erfahren, dass seine Schwester nicht mehr lebe. Tod durch den Sprung aus einem Fenster im zehnten Stock. Bevor ich reagieren konnte, erfuhr ich von einem Abschiedsbrief. Sie sprach darin von einem gewissen A. – nein, nicht ich –, der sie verlassen hatte. Ich stotterte mein Beileid und erzählte ihm von Sabrinas unbedingtem Wunsch, die ewig wahre Liebe zu finden. Ein Hinweis, der niemanden tröstet. Aber irgendetwas musste ich ja sagen.
Ich werde noch begreifen lernen, dass Frauen, die nach dem Einen, dem Einzigen, Ausschau halten, gefährdeter sind als die, die leichtfertiger unterwegs sind. Wehe ihnen, wenn der Prinz nicht auftaucht. Und wehe den Männern (ich weiß, wovon ich rede), die es nie zum Prinzen geschafft haben.
Diesmal habe ich nicht geheult. Es hätte falsch geklungen, Sabrina und ich waren ja nie verliebt gewesen. Mich plagten auch keine Ressentiments, weil sie sich damals nicht mehr gemeldet hatte. Ich wusste von ihren Ansprüchen, und ich wusste, dass ich ihnen nicht genügen würde. Uns trennte so vieles, auch das Motiv ihres Selbstmords war mir unendlich fern. Kein Mensch darf Macht über mich haben, erst recht nicht die Macht über mein Leben.
»Sie haben es hinter sich.« Der Satz des mexikanischen Auftragsmörders ist wahr, auch wenn es aus seinem Mund maßlos zynisch klingt: Der Satz ist nicht zynisch, wenn ein Mensch freiwillig aus dem Leben scheidet. Wer das tut, muss vorher unvorstellbar gelitten haben. Sei es körperlich oder in der Seele – oder überall. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jedem Unglück standhalten würde. Selbstmord hat etwas Faszinierendes. Die Aussicht, das Ende bestimmen zu können, wirkt beruhigend.
Männer werden ebenfalls verlassen und verlieren die Nerven. Jemand schickte mir, vielleicht ein Jahr nach Sabrina, die Todesanzeige eines Mannes, den ich als Zehnjährigen zum letzten Mal gesehen hatte: einen Mitschüler aus der Volksschule. Daneben ein kurzer Brief, erklärend: R., 27, hatte sich in die Badewanne gelegt und den Föhn mitgenommen. Aus Liebeskummer.
Wir zwei waren damals nicht befreundet, aber wir kamen ohne Probleme miteinander aus. R. war friedlich und eher unauffällig. Seine Eltern führten einen Milchladen, wo man Eis kaufen konnte. Für zehn Pfennig die Kugel.
Diesmal weinte ich. Womöglich aus Selbstmitleid. Der Abstieg als Schauspieler war nicht aufzuhalten, und meine psychosomatischen Einbrüche trieben mich von einer Therapie zur nächsten. In einer solchen Verfassung schwächelt das Immunsystem – innen wie außen. Nebenbei empfand ich Wut auf R. Wie kann man so närrisch sein, so ausgeliefert? Ist die Liebe davon, dann suche man sich eine neue. (Der Rat gilt auch für Frauen.) Ich will Mann sein und Niederlagen aushalten, es lernen. Schwache Menschen verunsichern mich. Ist das ein Zeichen eigener Schwäche? Schon möglich.
Die strapaziösen Nachrichten hörten nicht auf. Bald erfuhr ich aus den Medien vom Tod Sylvia Manas’. Sie war neunundzwanzig und bereits ein Star. Ob TV, ob Film, ob Theater, die Schauspielerin war rastlos gefragt. Nur vier Jahre zuvor hatten wir gemeinsam einen kleinen Film für das österreichische Fernsehen gedreht. Eine vertrackte Liebesgeschichte. Nur sie und ich, und gewiss mit intimen Szenen. Alle am Set waren hinter ihr her, so schön war sie, so begabt. Und so sweet. Sie mochte meine Nähe, nicht als Liebhaber, aber als einem, dem sie vertraute, mit dem sie über ihre melancholischen Schübe und ihre (damals) wenig erfreuliche Ehe reden konnte. Sie war wunderbar reich im Kopf und auf sanfte Weise ironisch. Dass sie bis zu ihrem Unfall mit Dieter Wedel liiert war, gehört – eingedenk dessen, was man heute über den Mann weiß – zu den Widersprüchlichkeiten menschlichen Verhaltens.
Sylvia Manas verunglückte am Steuer ihres Wagens, auf der Autobahn zwischen München und Salzburg. Vermutlich, so hieß es, durch eine Unachtsamkeit, eine falsche Reaktion. Niemand sonst war involviert.
Manche Tote strengen mehr an als andere.
Ich flog nach Indien, denn ich bekam mein Leben nicht in den Griff. Nirgends. Auch ein Engagement in Wien machte aus mir keinen brauchbaren Schauspieler. So landete ich in Poona, bei Bhagwan, dem damals berühmtesten Guru. Er war berüchtigt für seine Radikalkuren, vielleicht entdeckte ich dank ihm eine Begabung, die bis dato für keine Karriere gereicht hatte.
Bhagwan war ein Weltwunder, und nicht einen Tag will ich bereuen. Obwohl ich mich um keinen Millimeter verbesserte, beruflich. Aber das ist nicht das Thema hier.
In Indien sah ich zum ersten Mal einen Menschen auf einem Scheiterhaufen liegen und lichterloh brennen.
Von diesem Abend soll berichtet werden: Ich gehe zur Verbrennungsstätte, nahe am trägen Mutha River. Prem Anando, eine einundzwanzigjährige Engländerin, ist an chronischer Hepatitis gestorben. Ich kannte sie flüchtig aus einer Meditationsgruppe im Ashram.
Es dämmert, der Platz vor dem Krishna-Tempel füllt sich langsam, Frauen, Männer, Kinder, fast alle orangefarben gekleidet, fast alle Schüler, Anhänger, Bewunderer, wie immer man sie nennen mag, von Bhagwan.
Die Prozession kommt, vier Swamis tragen die mit Blumen geschmückte Bahre mit der Toten. Nur das schöne, blasse Gesicht ist zu sehen. Friedlich, keine Spur von Bitterkeit.
Niemand trauert, kein stummes Dastehen und Betrübtsein. Im Gegenteil, viele lachen, viele reden, viele singen. Manche haben ihre Instrumente mitgebracht, Bongos, Gitarren, Saxofone: »Walk into the holy fire/Step into the holy flame.«
Die Bahre wird auf den mächtigen, etwa 150 Zentimeter hohen Holzstoß gelegt. Ich habe einen schwer bedrängten Platz in der ersten Reihe, nur einen Schritt entfernt. Jemand wirft eine Fackel, eine Stichflamme lässt uns zurückweichen, furios schnell umzingelt das Feuer das benzingetränkte Holz. Eine Hochofenhitze und beißender Rauch durchdringen die Luft. Ich ziehe das T-Shirt aus und drücke es gegen das Gesicht. Husten, durch die winzig geöffneten Augen schaue ich auf Anando, noch liegt ihr junger Körper unversehrt da.
Der schwarze Fluss, die Nacht, die Feuersbrunst, der tief von Regenwolken verhangene Himmel, inniger kann das Leben gerade nicht sein. Wir beginnen, um den brennenden Leichnam zu tanzen, ganz nah, bald zügellos und wild. Lunghis, Schals, Schmuck, Halsbänder und Obst landen im gierigen Feuer. Der Schweiß der Musiker, der Schweiß der Tanzenden.
Immer wieder starre ich auf die Tote, deren Kopf sich langsam aufrichtet, mit den versengten Haaren und den züngelnden Flammen aus den Augenhöhlen. Die Konturen des nackten Schädels sind nun erkennbar, das Fleisch knallt, der linke Oberschenkel brennt ab, die eine Hälfte des Knochens ist schon sichtbar, auch er ragt in die Höhe.
Stunden vergehen, viele haben die Stätte inzwischen verlassen, es ist still geworden. Nur das Knistern des Feuers, das unaufhaltsam Anandos Leib verschlingt. Bisweilen springen die Eingeweide aus dem kochenden Becken, die Nase weg, die Augen bereits leer gefressen, der Mund treibt auseinander – als wollte ein gellender Schrei nach draußen. Die Zähne noch vorhanden und die zu Hautfetzen verkommenen Lippen. Zwei Stümpfe, ach, der kümmerliche Rest ihrer Beine.
Drei Uhr morgens, ein paar neugierige Kühe tauchen auf. Bestimmt hat Anando sehr am Leben gehangen, noch immer kämpft sie. Der widerspenstige Schädel, auf eine Faust zusammengeschmolzen, führt einen erbitterten Kampf gegen die Flammen. Mir kommen die Tränen, wie anderen auch. Mich tröstet kein Gedanke an die Wiedergeburt. Nur eine andere Fabel, um uns den Schrecken vor dem Sterben zu nehmen. Anando ist tot, und sie wird nicht wiederkommen, nicht als englische Studentin und nicht als dreibeiniger Hund in einem Hinterhof von Kolkata. Für eine Ewigkeit ist sie verschwunden.
Wie sagte es Bhagwan: »Die Frage ist nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, die Frage ist, ob du vor dem Tod am Leben warst.«
Als ich aus Indien zurückkehrte, ging es mir die ersten Monate schlechter als zuvor. Die körperliche Umstellung, die seelische, nichts erwartete mich im knallharten Westen. Ein paar Rückkehrer, so war zu hören, kamen mit den Herausforderungen nicht zurecht und beendeten entmutigt ihr Leben.
Ich nicht, ich stabilisierte mich langsam. Dennoch, Indien machte aus mir keinen Bühnenstar, aber ich sah nun klar genug, dass es für ein Schauspielerleben nicht reichte – immerhin. Mehr Klarheit war nicht, der Rest blieb ungewiss. Ich wurde wieder Taxifahrer, bezog Stütze und tingelte mit Gedichten von Brecht und Goethe durch bayerische Kaschemmen. Ich war jetzt über dreißig, und die Zukunft schien eher aussichtslos zu sein. Da ich wie ein Hungerkünstler aß und wohnte, konnte ich sparen – und reisen. In keiner Sekunde wäre mir eingefallen, damit eines Tages Geld zu verdienen.
Mein Vater starb. Einsam – wie er es verdiente. Schon als Minderjähriger lebte ich mit ihm in Scheidung. Er war der wichtigste Tote von allen. Jahrzehntelang hatte ich mir sein Ende gewünscht. Dann kam es, und ich schluchzte eine Nacht lang an seinem offenen Sarg: über uns beide und die Einsicht, wie wir unser gemeinsames Leben verpfuscht hatten.
Acht Stunden später wurde er in der Familiengruft begraben, hinein ins dunkle Loch zu Toten, die ich nie kennengelernt hatte. Plötzlich empfand ich Ekel bei der Vorstellung, einen Menschen in zwei Meter Tiefe abzuladen. Auf dass er dahinsieche und verwese. Dieser Abscheu hat sicher mit den Erfahrungen in Indien zu tun. Das Feuer eines Scheiterhaufens sorgt für ein sauberes Finale.
Nach der Beerdigung war die Sache erledigt. Ich war vorher schon vaterlos gewesen, und jetzt war es amtlich. Die Nachricht stärkte mich, es ging aufwärts. Bei manchen beginnt das Leben mit dem Tod eines anderen.
Die Wunde – der missratene, liebesunfähige Vater – verschloss ich. Die Gewissheit, dass er tot war, hielt den Stich in Schach. Ich kam zurecht mit ihm. Nie habe ich mir lange erlaubt, mich und die Welt mit meiner Trauer zu behelligen. Leben hat Vorfahrt, und Narben sind Teil davon. Wieder einmal: Ich halte Schwäche nicht aus.
Zu dieser Zeit fiel mir auf, wie oft ich als Jugendlicher und als längst Erwachsener respektlos über alte Frauen und Männer sprach. Viele machen das. Auch eine Folge des Jugendwahns. Doch der Hohn hat tiefere Gründe. Die Erfahrung des Alterns, das stetige Näherkommen des Todes, ist so ätzend, dass wir uns – obwohl noch weit weg von ihm – via Spott und Ablehnung zu retten versuchen. Ihr Anblick zeigt uns, wo wir eines Tages landen: im Schattenreich der Alten, schon lange nicht mehr biegsam und attraktiv, dafür so nah der Aussicht zu sterben, ja, sterben zu müssen.
Das musste sich ändern, die Respektlosigkeit. Auch um mich selbst zu schützen. Denn je boshafter ich heute missachte, desto mehr werde ich, wenn meine Zeit gekommen ist, leiden. An mir, dem Alten, und an der Verachtung der Jungen.
Die Angst vor dem Tod, warum? Jeder hat seine Gründe. Bei mir ist es nicht so sehr das Gefühl, dies und das will ich noch erleben. Das zählt, gewiss. Aber drängender ist die Angst, die kurz vorm Sterben sagt: Du hast nicht genug geleistet, nicht genug geliebt, bist oft feig und faul gewesen. Du hättest ein sinnlicheres Leben, ein tieferes haben können. Wenn.
Die Angst ist lästig, doch sie treibt zugleich an. Bisweilen unerbittlich. Ihre Botschaft ist unüberhörbar: Ein missratenes Leben darf nicht sein! Wie unzumutbar wäre das.
Ein Wunder geschah. Das Wort stimmt. Drei Jahre nach dem Tod von Vater wurde ich Reporter. Von heut auf morgen. Als Ungelernter, als Quereinsteiger, als Ex-Schauspieler, den keiner wollte. Auf einer Reise durch Peru fiel mir einst dieses Handwerk ein, und ich fing an, davon zu träumen. Das einzige Handwerk, das ich aushalten, und das einzige, für das die Begabung – vielleicht – reichen würde.
Die Zahl der Toten wuchs, berufsbedingt. Keine Toten, die altersschwach und selig entschliefen, eher solche, die zäh dahinsiechten oder krepierten oder blitzschnell verschwanden. Das Gefühl von Chaos und Fassungslosigkeit verstärkte sich. Meist war ich außerstande, eine Erklärung für diesen oder jenen Tod zu finden. Auf das Banalste reduziert: Sie kamen um, weil sie sich zur falschen Stunde am falschen Ort befanden. Aber ich war bisweilen zur selben Stunde am selben Ort. Und überlebte. Nicht, weil ich cleverer war oder – ich muss grinsen, wenn ich das hinschreibe – es »verdiente«, sprich, von himmelhochdroben beschützt wurde. Nein, Zufall war es, nackter, blindwütiger Zufall, der mich davonkommen ließ.
Bei der »Todeswallfahrt« in Kaschmir, meiner ersten Reportage, ging es hinauf bis auf 4500 Meter Höhe – auf der indischen Seite des Himalajas. Um oben den Eis gewordenen Penis von Gott Shiva – so die Legende – zu berühren. Das stärke die männliche Potenz, die weibliche Fruchtbarkeit. Hoffen sie. Tausende Hindus nehmen an der Pilgerreise teil, und ein paar stürzen ab. Jedes Jahr. Nicht, weil es so gefährlich ist, nein, weil sie einen Moment nicht achtgeben und mit dem Fuß auf die falsche Stelle treten. Zweimal kam ich an Passagen vorbei, an denen kurz zuvor Wallfahrer abgestürzt waren. Tief nach unten. Und für lange Zeit, wenn nicht für immer, dort liegen bleiben würden. Zu kompliziert, so hieß es, die Leichen zu bergen.
Wie rasant, wie ganz nebenbei ein Mensch verschwinden kann. Bei einer aussichtslosen Krankheit sieht man den Tod sich nähern, hier nicht. Hier haut er um, nicht eine Sekunde bleibt, um ihm auszuweichen. Dass nicht einmal, wie hier, ein Begräbnis stattfindet, verstärkt nur den Sinn für die Absurdität des Lebens. Der Tod dieser Leute hat keine höhere Bedeutung. Sie sind für nichts und niemanden gestorben. Ihre Leiber stürzten nach unten, und keiner wird sie wegräumen. Viel sinnloser lässt sich nicht sterben.
Ach, Indien, noch eine Reportage: Auf dem Weg hinauf zum Ursprung des Ganges wurde mehrmals vor Steinschlag gewarnt. Hatte man Glück, so sah man rechtzeitig Geröll herunterkommen. Und wartete. Dann die nächsten hundert Meter im Sprint überqueren. Dann unbeschwert weiterziehen. Bis wieder ein Schild auftauchte. Diesmal sah ich zwei Leichen, zwei Italiener, wie ich später erfuhr, unten in einer Schlucht verrotten. Von Granitbrocken hinweggefegt. Was denkt ein Mensch in den Sekunden, in denen er weiß, dass es ihn nicht mehr geben wird?
Nach einigen Tagen erreichte ich Rishikesh. Heiliger Ort am heiligsten Fluss. Voller Heiliger und Schlitzohren, Wunderheiler und Quacksalber, voller seliger Geheimnisse und fordernder Wirklichkeit.
Ich flanierte an den Ghats entlang, jenen endlos breiten Stufen, die hinunter zu Mother Ganga führen. Bald sah ich einen alten Mann am Ufer liegen. Die zerrissene Hose am Leib, sonst nichts. Seine löchrige Haut und ein paar verkümmerte Finger – Lepra. Ich holte etwas Blätterteig und Tee. Der Greis drehte langsam den Kopf Richtung Bäume. Ich trug ihn hinüber in den Schatten.
Da saßen wir, kein Wort fiel. Die Sprache fehlte, und ihm die Kraft. Ich schaute den Kindern zu, die im Fluss spielten. Nur Heiterkeit lag in der Luft. Gegen Abend starb der Inder, den genauen Zeitpunkt habe ich verpasst. Er starb leise und ohne Verzweiflung. Kein Schrei, kein Röcheln, nur sanft und lautlos. Das waren schöne Stunden, wundersam friedlich.
Noch eine Geschichte aus Indien, die letzte. Ziemlich mysteriös. Ich hatte einen Wagen mit Fahrer gemietet. Wir befanden uns auf dem Weg nach Gangtok, der Hauptstadt von Sikkim, ganz im Norden. Plötzlich riss Dubby das Steuer zur Seite, um jemandem auszuweichen, der auf der Straße lag. Doch statt anzuhalten, gab Dubby Vollgas. Nach der dritten Bitte, umgehend zu stoppen, drohte ich ihm, das vereinbarte Honorar nicht auszuzahlen. Das wirkte, er hielt, ich lief zurück.
Wir hatten uns nicht getäuscht. Da lag einer, mitten auf der Fahrbahn. Kein Puls, kein Herzschlag, die unbeweglichen Pupillen. Keine zwei Stunden war er tot, denn die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Vielleicht vierzig Jahre alt, nur ein zerlumptes Hemd und eine zerlumpte Hose am Leib, sonst nichts. Keine Schuhe, nichts in den Taschen, kein Zettel, nicht eine Rupie. Ich drehte ihn um und nirgends eine äußere Verletzung, auch keine Würgemale. Nur ein bisschen trockenes Blut, das am rechten Mundwinkel klebte. Ein Unfall? Ein Verbrechen? Ein Rätsel.
Ich zog den Toten zur Seite. Autos fuhren vorbei, und niemand kümmerte mein seltsames Tun, im Gegenteil, sie beschleunigten ebenfalls. Ich stellte mir vor, ich komme auf die Welt und eines Tages zerrt mich ein Wildfremder leblos vom Asphalt ins staubige Gebüsch.
Viele haben ein Scheißleben und hinterher einen Scheißtod.
Dubby erklärte mir, warum anhalten für ihn nur Probleme bringen würde, noch größere Probleme, wenn er die gefundene Leiche meldete: Die Polizei verdächtigte ihn automatisch als den Schuldigen, den Verkehrsrowdy, den Verbrecher, als was auch immer. So lange, bis er genug Scheine organisierte, um sich freizukaufen. Wer den indischen Freund und Helfer ein wenig kennt, glaubt sofort, dass Dubby die reine Wahrheit spricht.
Jahre später kam es in Afrika, in der Republik Côte d’Ivoire, zu einem ähnlichen Vorfall. Ich fuhr nachts mit dem Chef einer NGO zurück nach Abidjan. Wir kamen durch ein Dorf, wo ein Mensch auf der Straße lag. Wir hielten, erkannten blitzschnell, dass kein Beistand weiterhalf, rollten ihn zur Seite und rauschten ab. Aus einer Telefonzelle in der Großstadt informierten wir anonym die Polizei. Hätten wir den Dorfbewohnern von dem tödlich Verletzten berichtet, wir wären wohl gelyncht worden. Da nur wir zwei für den Unfall verantwortlich sein konnten. Derlei Fälle sind passiert.
Rüber nach Tibet, dort ist Totsein auch nicht heiterer. Ein paar Kilometer außerhalb von Lhasa beobachtete ich eine »Himmelsbestattung«. Eher drastisch und unfassbar: Irgendwo auf einem Hügel, nicht weit von einem Kloster, wird die Leiche abgelegt. Und ein Mann fängt an, den Körper zu entkleiden und zu zerhacken (!), mit Messer und Beil. Inzwischen haben die Geier, nur Schritte entfernt, Platz genommen. Ihr Fressen wird gerade zerkleinert.
Dann verschwindet der Metzger, und die Raubvögel stürzen sich auf den zerlegten Toten. Sie rangeln und raufen um die besten Stücke. Die hässlichen Kreaturen gelten als »Engel«, die ihre Beute – die menschlichen Fleischfetzen – in den Himmel tragen. Daher auch der Name für das abscheuliche Schauspiel. Wie den Gedanken aushalten, dass ein Mensch, dessen Haut man einst mit Hingabe und Sehnsucht umarmt hat, so endet – klein gehackt im Magen fliegender Hyänen.
Erstaunlich, was für Bizarrerien die Menschheit sich einfallen lässt, um den Tod – das Ende von allem – nicht ertragen zu müssen. Der himmlische Geierfraß klingt ähnlich grotesk wie das, was man meiner Generation im Religionsunterricht eingetrichtert hat: dass am Weltenende der Herrgott auf den fünf Kontinenten die Gräber öffnen lässt und die Guten, das wären die Herrgott-Gläubigen, hinauf in den christlichen Himmel befördert, die zweite Gruppe, die Lässlich-Sündigen, ins Fegefeuer expediert und die Schwerst-Lasterhaften – lebenslänglich, in dem Fall ewiglich – in die Hölle abkommandiert.
So ist es: Hat man erst die Angst verkauft, und sitzt diese Angst irgendwann tief, kann man jedes Gräuelmärchen propagandieren. Und es kann nicht grauenhaft genug sein, als dass Milliarden es nicht glaubten und fürchteten.
Wer Glück hat, wird selbst als Leiche grandios gefeiert. Und geliebt und verehrt. Das war in Bangkok, als Srinagarindra – einst Berkeley-Studentin, einst bürgerliche Krankenschwester und mit siebenundzwanzig Mutter von König Bhumipol – beerdigt wurde. Mit fünfundneunzig. Ein menschenfreundliches Wesen, eine Wohltäterin, nie ein Skandal, nie als luxusgeiles Shopping-Monster aufgefallen, nie beim Verschwenden öffentlicher Gelder. Wer als »Königliche« so ein Leben schafft, dessen Seele fährt, so die Tradition, direkt ins Nirwana. Ohne noch ein einziges Mal auf die Erde zurückkehren zu müssen. Hunderttausende säumten an diesem knallheißen Julitag die Straßen der Hauptstadt und weinten, als die Prozession vorüberzog.
Auch dieser Traum sei erlaubt: Man hat sein letztes Stündlein hinter sich, und das Volk beginnt zu trauern. Beneidenswert. Manche haben ein gutes Leben und hinterher einen sachten Tod. So unbegreiflich und unerklärlich wie sein Gegenteil.
Damit es nicht zu romantisch wird: Auch Väterchen Stalin, sowjetischer Dracula und fleißiger Massenmörder, wurde unter den Tränen der Massen zu Grabe getragen. Anything goes.
Reporter sein ist einer der schöneren Berufe. Man läuft Frauen und Männern über den Weg, die die Tage und Nächte reicher machen. Man landet in Situationen, um die man nachdrücklich beneidet wird. Um andere nicht. Denn sie schwärzen das Herz, lassen Spuren, die lange bleiben. Weniger der Anblick von Toten, eher die Nähe von gepeinigten Sterbenden, denen man hilflos beim Sterben zusieht.
Das Widersprüchliche: Es zieht mich immer wieder hin zu Menschen, deren Dasein in ein paar Minuten oder ein paar Stunden vorbei sein wird. Getrieben von der absonderlichen Hoffnung, dass ich eine letzte Weisheit, einen letzten Satz höre, der mir selbst helfen könnte beim Loslassen.
Ich habe diesen Satz nie erfahren. Es gibt ihn nicht.
Von einigen Toten will ich noch berichten. Von denen ich fast nichts weiß, obwohl ich mich bei ihrem Sterben in direkter Nähe befand.
Der Reihe nach: Ein Krankenhaus in Kabul, wo eine junge Frau – zu 90 Prozent verbrannt – gerade eingeliefert worden war. Die Achtzehnjährige hatte mit Dynamit hantiert, wusste nicht, um was es sich handelte. Dunkelschwarz versengtes Fleisch riecht gräulich. Da das internationale Rote Kreuz das Hospital finanzierte, gab es genügend Morphium, um die glühenden Schmerzen zu betäuben. Fiebrige Töne kamen aus Nadaras Mund. Ihr Bruder Hafiz stand leise murmelnd am Bettende. »Betest du?«, fragte ich ihn. »Ja, damit sie sterben darf.« Sie hatte Glück, sie starb noch am selben Tag. Herzversagen.
Die jungen Männer, die neben den Gleisen auf der Strecke zwischen Soweto und Johannesburg lagen. Männer, an denen Fotograf Ken Oosterbroek und ich kurz vorher vorbeigekommen waren und die nach einer halben Stunde nicht mehr lebten. Mit Beilen und Macheten hingerichtet von marodierenden Zulu-Banden: angestiftet und bezahlt von Weißen, die nicht wollten, dass Mandela – ein Schwarzer – als Präsident gewählt wird. Ihr Morden sollte der Welt beweisen, dass die »Kaffern« (Afrikaans für »Nigger«) für Politik nicht taugten.
Postskriptum: Zwei Jahre später wurde Ken, der Freund und Meisterfotograf, mit einunddreißig erschossen. Unsere Freundschaft war schnell gewachsen, die gemeinsam erlebten, haarsträubenden Szenen hatten wie ein Katalysator gewirkt. Ich erinnere mich nicht, länger und heftiger den Tod von jemandem beweint zu haben.
Weiter nach Phuket, der berühmten Insel vor der Westküste Thailands, über die am 26. Dezember 2004 ein Tsunami fegte und wo ich tags darauf eintraf, um einen Bekannten zu suchen. Und ihn fand, in Sicherheit, und die vielen Leichen sah, die aufgedunsen vom Wasser am Strand lagen. Mit ungeheuer entstellten Gesichtern. Mich überkam der abstruse Gedanke, dass sie zweifellos tot waren, aber etwas von ihnen noch lebte: das uns Lebenden nun traurig zusah, wie wir da sein durften, wie wir das so unverdiente Glück hatten, noch nicht sterben zu müssen. Ich setzte mich in den Sand, das Meer war wundersam friedlich. Weit entfernt standen Trucks und Arbeiter, die alle Toten fotografierten, sie in einen Plastiksack legten und aufluden. Sie kamen nur langsam voran, es gab viel zu tun.
Tatort Afrika. Der Sahelflüchtling, der mit neun anderen und mir die Meerenge zwischen Marokko und Spanien überquerte – und mit einem Steuermann, dem Schlepper, der uns jede Bewegung verboten hatte, um das übervolle Boot nicht zum Kentern zu bringen. Und der junge Kerl stand aus unerfindlichen Gründen doch auf – im selben Augenblick schlugen die heftigen Wellen eines querfahrenden Tankers an die niedrigen Wände – und verlor den Halt und kippte ins Wasser. Wir stoppten, starrten in die Nacht, auf das schwarze Meer, horchten. Aber nichts zu entdecken, keine wild gestikulierenden Arme, nichts zu hören, kein Schrei, kein Gellen. Nur Stille. Ein leiser Tod, wie bei den meisten Ertrinkenden.
Eine winzige Unachtsamkeit, und ein Mensch bezahlt mit seinem Leben. Eiskalte Naturgesetze. Eine falsche Geste – und du musst sterben.
Noch ein letzter Fall zum Thema »Reporter und Tod«, sonst wird die Liste zu lang. Ich arbeitete in einem buddhistischen Tempel, wo HIV-Infizierte und Aidskranke betreut wurden. Als Hilfskraft, sprich, Windeln wechseln, massieren, die Frauen und Männer zur Toilette begleiten, sie duschen. Eines Tages bat mich Yves, der belgische Arzt, der hier seit Monaten (unbezahlt) Behandlung und Pflege koordinierte, an das Bett von Taween. Eine hübsche junge Frau, keine äußeren Wundmale entstellten ihre Haut. Sie würde die nächsten Stunden nicht überleben, so Yves. Die Politik des Hauses war eindeutig: Niemand darf beim Weggehen allein sein. So setzte ich mich neben sie, nahm ihre schon kalten Hände, hielt sie und war still. Keine Sprüche, kein Flüstern, nur da sein und dableiben. Taween schlief mit halb geschlossenen Augen, noch atmete sie, dann eine längere Pause, dann ein Ruck, als ob das Herz erneut anspränge. Eine Zeit lang der stets gleiche Rhythmus. Dann plötzlich ein Gurgeln, zwei, drei Konvulsionen des Körpers, wieder Stille – aus.
Einen »schönen Tod« nennen sie das hier. Weil ohne Bewusstsein, ohne Kampf und Widerstand. Dennoch, sterben neben einem Fremden, ist das schön? Vielleicht doch weniger einsam, weil einer da ist, der Anteil nimmt.
Als ich nach Europa zurückkam, hörte ich vom Tod Helens. Wir hatten – Jahre zuvor – einen durchaus angenehmen One-Night-Stand. In ihrer Wohnung in Paris. Aber am folgenden Morgen war die Wärme vorbei. Und ich Persona non grata. Trotz mehrerer Versuche meinerseits, ihr den Grund für die Kälte zu entlocken, verweigerte sie fortan jede Aussage. Folglich auch jede Intimität. Von ihrem Selbstmord erfuhr ich durch einen Anruf bei ihrer Arbeitsstelle, der International Herald Tribune. Bei der die Amerikanerin arbeitete – als Korrektorin. Ich hatte dort angerufen, absurderweise, weil ich ein letztes Mal herausfinden wollte, was damals passiert war. Aus schierer Neugier. Das Gespräch mit ihrem Bürochef war erstaunlich offen, obwohl wir uns nicht kannten. Ja, sie sei immer depressiver geworden, ja, er wusste sogar, dass sie Drogen sniffte. Um ihr Unglück auszuhalten. Ihr Traum war das Leben als Filmemacherin, doch zweimal fiel sie bei der Aufnahmeprüfung durch. Und als Autodidaktin fehlte ihr wohl die Kraft, das Unbeirrbare. Und so drehte sie eines Tages den Gashahn auf und steckte den Kopf ins Backrohr. Der Geistesgegenwart der Concierge war es zu verdanken, dass an diesem Nachmittag nur Helen starb, und kein Haus und die übrigen Hausbewohner in die Luft flogen.
Als Taxifahrer hatte ich immer wieder Leute befördert, die mir von ihren jugendlichen Illusionen berichteten. Die gern als Musiker oder Schriftsteller oder Maler oder Schauspieler berühmt geworden wären. Aber nichts davon wurden. Aber auch nicht daran zugrunde gingen. Irgendwann hatten sie ihr Herz beschwichtigt und waren einverstanden mit einem weniger glamourösen Beruf. Nicht Helen, sie wollte leuchten.
Meine Mutter starb. Nicht allein, doch ohne mich. Ich war weit weg, und die Gefahr, dass ihr Ende so schnell kommen würde, bestand nicht. Sie war kein niederträchtiger Mensch, gewiss nicht, sie war großzügig und herzensgut. Was ihr, der Untröstlichen, das Leben verdarb, war ihre Schwäche. In ihrer Nähe habe ich gelernt, später allen Schwachen aus dem Weg zu gehen. Frauen wie Männern. Bei ihr habe ich mit ansehen können, in welche Untiefen ein Leben führt, in dem man sich nicht wehrt. Nicht gegen den Terror eines Ehemanns, nicht gegen den Terror einer Religion, deren schamlose Drohgebärden und Panikszenarien sie in einen Zustand permanenter Furcht versetzten. Einst hatte ich ihr einen Merkvers von Nicolae Ceaușescu, dem Blutsauger und langjährigen Staatspräsidenten Rumäniens, aufgeschrieben: »Du kannst mit dem Volk tun, was du willst, du musst ihm nur genug Angst einjagen.« Hatte noch erwähnt, dass der Satz für den Kommunismus und für jeden anderen Erlösungswahn gilt. Sie lächelte nur abwesend. Sie war längst das perfekte Opfer, hatte längst den Giftbecher geschluckt.
Mutter starb dreimal im Laufe ihrer Jahre, einmal als Schönheit, einmal als Ungeliebte, einmal als Demenzkranke. Zu ihrer Beerdigung war ich rechtzeitig zurück und empfand ähnlich wie damals beim Tod von Großmutter: Erleichterung, gut, dass die geschundene Seele nun Ruhe hatte. Selbst der Nonsens des Pfarrers störte nicht. Mutter war jetzt taub, nicht mehr erreichbar für den metaphysischen Hokuspokus. Sie war in Sicherheit.
Eine kleine Szene, sie soll aufheitern. Und zeigen, dass Tote ungemein zum Leben inspirieren können. Ich besuchte die Pyramiden bei Kairo. Die offiziellen Besuchszeiten waren schon vorbei, aber inoffiziell geht es in Ägypten fast immer weiter. Hassan sprach mich an, er gehörte zu den Heerscharen von Guides, die mitverdienen wollen am Weltwunder von Gizeh. Hassan war inoffiziell unterwegs, da ohne amtliche Befugnis. Das funktioniert, solange er an die Tourist Police diskret das übliche Bakschisch abdrückte.
Wir wanderten durch die Gräber der Sklaven, die hier vor 4500 Jahren den Geist aufgegeben hatten. Aus Erschöpfung, so darf man vermuten. Es war bereits Nacht, und durch die Treppen und Schächte, in die wir hinabstiegen, drang nicht einmal das Leuchten des Vollmonds. Unsere Taschenlampen gaben genug Licht.
Irgendwann stoppte Hassan und berichtete, dass er noch einen Nebenberuf ausübe: wenn Interesse bestünde, würde er die Herumgeführten beschlafen. Oder sich von ihnen – der Fünfunddreißigjährige begeisterte sich für beide Geschlechter – beschlafen lassen. Er würde dann einfach die Gruppe vorausschicken und hurtig neben oder auf einem Sarkophag die Kundschaft bedienen. Die ausländischen Damen würden kostenlos versorgt, die Herren müssten ein paar Scheine spendieren. Auch mit mir könnte er sich ein »Ficki-Ficki« – der amüsante Dicke kannte die wichtigeren Wörter in fünf verschiedenen Sprachen – zu vorgerückter Stunde vorstellen. Jetzt, sofort. Ich bräuchte nur Ja zu sagen, und los ginge es.
Wieder zurück nach Europa. Schauspieler werden, Schauspieler sein, irgendwie scheint das eine gefahrvolle Tätigkeit zu sein. Nein, die Rede ist nicht von mir, meiner nicht stattgefundenen Karriere. Das Talent fehlte, wie banal. Ich erinnere jedoch an die beiden Selbstmorde am Mozarteum und will von einem weiteren Kollegen berichten, der in meinem Jahrgang gewesen war und bald nach Abschluss der Ausbildung durchstartete, mich links und rechts überholte. Es kamen so peinsame Augenblicke, in denen ich unten im Publikum saß und ihn die Hauptrolle spielen sah, während ich – am selben großen Theater – abends darauf in einem anderen Stück einen lächerlichen Auftritt hatte.
Aber B. trieb eine Sucht. Er trank. Er fing damit schon in unserer gemeinsamen Zeit in Salzburg an. Warum? Er sah gut aus, war intelligent, war charmant im Umgang mit Frauen. Warum also? Ich weiß es nicht.
Wir verloren uns aus den Augen, doch irgendwann, zwei Jahrzehnte später, rief ich ihn an und lud ihn zu einer Lesung in der Stadt ein, in der er lebte. B. winkte ab, stattdessen erzählte er von seinem übervollen Terminkalender, der ihm keine freie Minute gönne. Schön aberwitzig, denn inzwischen galt B. als unvermittelbar: nachdem er – bisheriger Höhepunkt – sturzbetrunken bei einer Generalprobe von der Bühne geflogen war. Und aus dem Vertrag. Ich hielt den Mund, wollte ihn nicht kränken. Keine fünf Monate danach war B. tot. Totgesoffen. Mit neunundfünfzig.
Er war ein Mensch, mit dem ich während der drei Jahre am Schauspielseminar viel erlebt hatte – viel Lampenfieber, viel Konkurrenz, viel Gemeinschaft. Ihn oft beneidete. Für sein lässiges Grinsen, seine Nonchalance, mit der er durchs Leben ging. Doch irgendetwas, verborgen in ihm, zog ihn Richtung Abgrund. Was? Warum? Ich rätsle immer über den frühen Tod von Frauen und Männern, die – so reich anfangs beschenkt – eines Tages falsch abbiegen und mit roher Konsequenz ihre Existenz ruinieren.
Gila sei noch erwähnt. Sie hatte ich ebenfalls am Mozarteum kennengelernt. Als Dozentin, die jeden Freitagnachmittag angereist kam und für ein paar Stunden Theatergeschichte unterrichtete. Witzig, rasant, kein dröges Herunterleiern von Daten. Ich wette, jede und jeder von uns wollte mit ihr ins Bett. So attraktiv, so klug war sie.
Erst zehn Jahre später wurden wir Liebhaber. Längst weg aus Salzburg. Sie war noch immer Professorin, Buchautorin und Fotomodell. Ein Wunderwesen, das Bewunderung und Furcht einflößte. Eine starke Frau ist für viele Männer eher eine Zumutung, sie fühlen sich bedroht. Doch wir zwei, abgesehen von infantilen, kurzfristigen Egomanien, kamen gut miteinander aus. Sie war frei im Kopf, absolut desinteressiert an bürgerlicher Moral. Ihr Geist und ihr Körper überwältigten.
Irgendwann fingen wir an auseinanderzudriften. Der einfache Grund: Ich zog um, weit weg. Der grausame Grund: Ihr einziges Kind – Heroinjunkie und aidsverseucht – wurde von einem anderen Süchtigen erwürgt. Und der entscheidende Grund, ja, der: Gila wollte sich nicht mehr herzeigen. Das Alter hatte sie eingeholt und wurde ihr Todfeind. Die Blicke waren verschwunden, das Begehrtwerden, die souveräne Gewissheit, erotisches Fieber zu entfachen. Sie hielt noch eine Weile durch, doch an einem Augusttag schluckte sie eine Schachtel Schlaftabletten und verschwand. In ihrer Abschiedsnotiz stand, dass »nichts und niemand diesen Ekel besänftigen konnte, immer weniger zu werden«.
Nicht drei Tage vergehen, ohne an sie zu denken. Riskante Gedanken.
Im Griechischunterricht am Gymnasium hatte ich mich in Epikur verliebt, den Philosophen, der vor gut 2500 Jahren in Athen lebte. Verliebt in seine Ideen, seine Unbekümmertheit. Sich krümmen vor Gott und den Göttern verachtete er, und den Wahn, man könne mit Gebeten und Gaben das Schicksal der Welt beeinflussen, verspottete er. Doch auch seinen Umgang mit unser aller Gewissheit zu sterben fand ich tröstlich. Nicht Tag und Nacht, da es bisweilen kein Wort gibt, um den Verlust des Lebens hinzunehmen. Und dennoch, bisher habe ich nichts Klügeres zum Thema auswendig gelernt als diesen Absatz, den Epikur in einem Brief an einen Freund schrieb: »Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.« Die Kunst sei, »ein gutes Leben zu führen, das ohne die Furcht vor dem Danach auskommt«. Ganz trockene Zeilen sind das, unsentimental und durchaus hilfreich.
Während ich dieses Kapitel schreibe, bekomme ich die Nachricht, dass meine »Tante Carola« den Freitod gewählt hat. Frei, das Wort passt zu ihr. Mit Bedacht entschieden, da längst in Betracht gezogen, längst Mitglied bei EXIT, der Suizidbegleitung. Aufhören, so ihr Wille, wenn die Schmerzen zu heftig werden und die Aussichten auf ein geistig und körperlich bewegliches Leben nicht mehr existieren. Sie war fünfundneunzig, hatte alles erreicht, auch eine große Liebe, zwei liebende Kinder, eine höchst erfolgreiche Karriere als Kinderpsychologin und Publizistin mit Doktortitel. Sie war nie eine »echte« Tante, aber ich lernte die Freundin meiner Mutter als Junge kennen, und so blieb es bei der Bezeichnung. Sie war die einzige Frau, auf die mein Vater hörte (klugerweise entzog sie sich seinen tapsigen Verführungsversuchen), zudem hatte sie mir durch ihr Denken und Reden geholfen, die Flucht von zu Hause anzutreten. Über fünfzig Jahre lang habe ich sie beneidet. Um ihre Klarheit. Bis auf den heutigen Tag. Ihr Ende ist der gelassene Abschluss eines souveränen Lebens.
Gila tötete sich aus Verzweiflung, Carola mit dem Gefühl von Souveränität. Wie folgerichtig, dass der eine Tod die Überlebenden beschwert und der andere eine Art Zustimmung auslöst. Und Bewunderung. Weil jemand bis zuletzt seine Werte nicht verriet. Beide Frauen haben übrigens auf jeden »spirituellen Beistand« verzichtet. Sie glaubten nur ans Diesseits, himmlische Belohnungen und höllische Teufel blieben ihnen fremd.
Noch zwei Tote. Die vorläufig letzten. Noch zwei Frauen, noch zwei, die ihr Dasein nicht mehr aushielten. Ich bin selbst überrascht über die hohe Zahl jener, die ich kannte und die sich frühzeitig verabschiedeten. Reiner Zufall. Ich habe weder den schicksalhaften Akt befördert noch ihn verhindern können. Keine Sekunde käme ich auf die Idee, mich als tragische Figur zu sehen. Am Ende des Tages ist der lebensmüde Mensch allein, beklemmend allein mit seiner Entscheidung.
Ich schreibe auch über diese Frauen, um mich zu bedanken. Für alles, was sie mir schenkten. Sei es als Liebhaberinnen, sei es als geistige Gefährtinnen, sei es für das eine und/oder das andere. Wie die meisten denke ich beim Tod einer Person, die mir nahestand: Fuck, ich hätte großzügiger sein sollen, milder, nachsichtiger, nicht so oft beschäftigt mit dem eigenen Wichtigsein.
Dania war Polin, die als kleines Mädchen mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen war. Bereits als Zwölfjährige wurde sie als Schönheit in der Verwandtschaft herumgereicht. Zudem fiel sie in der Schule als ausnehmend intelligent auf. Die häuslichen Verhältnisse waren in Ordnung, solide Mittelklasse, unauffällig, nicht viel Wärme, aber auch keine Gewalt. Nichts fehlte für ein gelungenes Leben.
Seltsamerweise gelang so wenig. Irgendetwas in ihr, sagte sie einmal, wollte in der neuen Heimat nicht ankommen. So ein Umzug mag irritieren, doch ist noch kein Grund, sich von einem Irrweg in den nächsten zu verlaufen: schon früh die ersten Kinder zeugen, gleich mit dem ersten falschen Mann – zuerst Heroinspritzer, dann Alkoholiker. So unreif und geschlagen wie sie – wie so viele – von der Illusion, dass der eine die Probleme des anderen lösen wird. Das funktioniert nicht. Im Gegenteil, die Probleme verdoppeln sich.
Andere Männer kamen, andere Kinder, die Last des Alltags wurde nicht leichter.
Dania war schwermütig, fiel regelmäßig in Depressionen und Zustände namenloser Angst. Bisweilen redete sie wie Kassandra, die vor keinem Abgrund zurückwich. Und sie war schwach, willensschwach. Schon als Teenie. Mehrmals weinte sie in meiner Gegenwart über diesen »Makel«, so nannte sie es: dass sie nie die Kraft besaß, einen ihren Fähigkeiten gemäßen Beruf zu erlernen. Sie fing etwas an, hörte auf, fing etwas anderes an und war nebenbei das rundum beschäftigte Allzweckmöbel: war Köchin, Erzieherin, Putzfrau und nachts Gattin mit einem primären Geschlechtsorgan zur sorglosen Befriedigung des Herrn, der mit ihr das Ehebett teilte. Und sie war durchgehend abhängig vom Geld des jeweils Sorglosen. Und die letzte Todsünde: Zum Haushaltsgeld gab es bisweilen ein paar Prügel. Auch die nahm sie hin – ohne sich zu wehren, ohne schreiend davonzulaufen, ohne den Täter vor aller Welt zu denunzieren.
Irgendwann begann sie, deutsche Auschwitz-Literatur ins Polnische zu übersetzen. Texte, die gewiss nicht die Lebensfreude befeuern. Und irgendwann verlor sie das Interesse und haderte, wie üblich, mit ihrem Mangel an Konsequenz.
Wir hatten uns bei einer Lesung kennengelernt, und wann immer sie nach Paris kam, um mich zu besuchen, sagte sie: »Ich komme nach Frankreich und zu dir, um mich von meinem Leben zu erholen.« Wie begabt sie mit Sprache umging.
Doch weder Paris noch ich konnten Dania erlösen. Auch nicht Therapien, auch nicht der Aufenthalt in einer therapeutischen Tagesklinik. Umso weniger, als nun unerklärbare Schmerzen ihren Körper heimsuchten. Sie irrte von Arzt zu Arzt, die nichts fanden und Medikamente verschrieben, die nichts linderten. Vermutlich plagten sie psychosomatische Leiden, die sich im Leib manifestierten, deren Ursprung aber im »Gemüt« der Gepeinigten lag. Doch Dania, wie typisch, gab die Suche nach Hilfe bald auf, lehnte ebenfalls – dringende Bitte von mir – einen Check-up via MRT-Röhre ab. Die fürchte sie. Selbst der Hinweis, dass sie vorher Beruhigungsmittel bekäme, ja, sie nur mit dem Finger eine Klingel betätigen müsse, wenn sie es nicht mehr aushielte: »Nein.« Möglicherweise hatte sie recht, kein Wunder der Technik hätte sie gerettet.
Es ist ein ungemein komplexer Vorgang im tiefsten Innern eines Menschen, der ihn daran hindert, rigoros einen Ausweg einzuschlagen, dafür lieber rigoros den eigenen Niedergang zu organisieren. So auch Dania. Bis zum allerbittersten Ende, bis zu jenem Julivormittag, an dem sie in den Keller hinunterstieg und sich erhängte. Und ihr Jüngster sie am Strick baumelnd fand.
In ihrem Abschiedsbrief stand: »Ich wollte nie von Euch gehen, nie, aber es gab keine Rettung, mein Gehirn war dabei, eine völlig andere Frau aus mir zu machen. Ich liebe Euch, Eure Mama!«
Ich hielt tagelang still, bevor ich auf die Nachricht des Überbringers reagierte.
Noch ein letzter Tod, Manons Tod. Kennengelernt hatten wir uns in Südamerika, dank einer gemeinsamen Freundin. Keine körperliche Intimität, doch eine warme Nähe verband uns.
Was für ein Lebenslauf: die Mutter Französin, der Vater aus den USA, geboren in England, aufgewachsen in Saudi-Arabien und Costa Rica. Schon früh entdeckt die ruhelose Reisende ihre Liebe zu Mexiko. Schließt ein Archäologiestudium ab, spricht vier Sprachen, arbeitet mit internationalen Universitäten und der UNESCO zusammen, findet – dank ihrer grenzenlosen Empathie – zuletzt ihre Bestimmung und wird Schamanin (!) bei den Mayas, einem der Urvölker Mexikos. Schamanen, sagte sie, sollen mithelfen, das Leid in der Welt zu mildern.
Dort, in Mexiko, trafen wir uns, unten im Süden, in San Cristóbal de las Casas. Ich wollte wissen, was eine Schamanin macht, und sie bot mir spontan eine »limpia« an. Eine Art seelische Reinigung, um die dunklen Flecken – Gier, Bosheit, Neid etc. – loszuwerden.
Ich habe die Zeremonie an anderer Stelle schon einmal beschrieben, so sei nur erwähnt, dass sie mich an Voodoo-Rituale erinnerte, voller Beschwörungen und Riten, voll reinen Glaubens. Nein, ich habe nicht eine Minute bereut, da berührt von Manons festem Willen, aus mir einen besseren Menschen zu machen. Doch für all das bin ich nicht begabt, kein Draht in mir führt zu »höheren Wesen«, bin vollkommen verstockt gegenüber übersinnlichen Anrufungen. Dennoch, ich habe die lange Stunde genossen, selbst den spirituellen Zinnober, den sie inszenierte. Durchaus physisch fordernd, für beide von uns.
Manons Ausstrahlung und Herzensbildung will ich nicht vergessen. Unbesiegbar, so sagte sie beim Abschied, sei sie »vom Triumph des Guten, des Lichts« überzeugt. Kein Tag, »auch nicht der schwärzeste«, würde sie umstimmen. »Der Endsieg der Liebe ist gewiss.«
Manon hat sich getäuscht. An einem kalten Januartag kam der schwärzeste Tag, der sie umstimmte und an dem sie sich, mit zweiundvierzig, im Haus ihrer Eltern vor den Toren von Paris das Leben nahm. Liebesschmerz.
Der Endsieg der Liebe – so anders kann man den Satz jetzt verstehen.
Nach all den Toten weiß ich vom Tod so viel wie ein Neugeborener. Nein, das stimmt nicht. Immerhin bin ich überzeugt, dass hinterher Schluss ist. Sich folglich keine weiteren Fragen stellen. Das spornt an – zur radikalen Liebe zum Leben. Da kein Plan B vorgesehen ist, passieren unsere siebzig oder achtzig oder neunzig Jahre täglich als Premiere. Wiederholungen entfallen. Dass rachsüchtige Götter mich und mein kleines Leben – mein Leib nur noch ein Häuflein Asche – anschließend zur Rechenschaft ziehen, wäre eine gar kindlich narzisstische Vorstellung.
Auch wahr: Natürlich gibt es ein Leben nach dem Tod, nur nicht deins, nur nicht meins. Denn wie jede Orchidee, wie jeder Kuhfladen und wie jeder Rüssel der längst vergangenen Dinosaurier wird einst der Rauch meines in Flammen liegenden Körpers im endlosen Schlund des Weltalls verschwinden. Dieses Wissen ist dennoch betrüblich, denn ein (gutes) Leben ist gewiss bewegender als ewig abhanden sein.
Am leichtesten habe ich den Tod in Indien ausgehalten. In Varanasi, dem Traumziel jedes gläubigen Hindus: um dort zu sterben und dort verbrannt zu werden. Wer das schafft, spart sich die tausendundeins elend schweißtreibenden Wiedergeburten und fährt senkrecht ins Nirwana. Noch eine schräge Idee, um sich zu trösten.
Ich saß immer auf den Ghats und sah zu. Wie sie den Holzstoß aufbauten, wie sie die mehr oder weniger pompös eingewickelte Leiche brachten, wie bald alles Feuer fing. Direkt am Ufer des Ganges. Besonders nachts war das ein wunderliches Schauspiel. Und niemand sprach, keine Totenrede, keine letzten Lügen. Nur schauen und still sein.