Ein glücklicher Mensch

Nichts scheint geheimnisvoller zu sein als das menschliche Hirn. Es macht vor keinem Extrem halt. Es wuchert wie nichts. Es kann ausschweifen, wohin immer es will: in jeden Irrsinn und in jeden Gedanken, der in einem Geniestreich endet. Es kann in jede Richtung wandern, kann jede Tat rechtfertigen – auch die grausigste. Kann jede Tat vollbringen – auch die mutigste, die menschenfreundlichste. Es kann an Nichtigkeiten zerbrechen, und es kann Ungeheuerlichkeiten aushalten. Das Hirn ist ein Wunder.

Einem davon bin ich begegnet. Es geschah auf dem riesigen Northern Cemetery von Kairo. Als ich dort ankomme, findet gerade eine Beerdigung statt, ein kümmerlicher Trauerzug zieht vorbei. Die Leute deuten mit dem rechten Zeigefinger nach oben. Es soll sagen, dass nur ein Gott existiert. Ich trotte hinterher. Bald erreichen wir das Familiengrab, nur eine uralte Stele im harten Boden. Zwei Hunde kommen näher, sie haben Hunger.

Alles geht seinen gewohnten Gang. Ein halbes Dutzend Frauen, vermummt in ihren schwarzen Malabayas, sitzt bereits neben dem Erdloch. Einige reden, einige schluchzen. Die beiden Totengräber nehmen die in ein weißes Tuch gewickelte Leiche von der Bahre und legen sie in die Vertiefung. Routiniert schaufeln sie die Erde in das Loch. Jetzt kreischen Ehefrau und Töchter.

Die Stimme eines Mannes erhebt sich, sie verrät einen Sprachfehler und klingt zugleich warm und besänftigend: ein Totengebet und, wie ich später erfahre, der Hinweis auf die Güte des Verstorbenen, ja die Gewissheit, dass er nun bei Allah wohl aufgehoben ist. Erstaunlicherweise verebbt das schrille Lamentieren, nur noch leises Seufzen.

Dann passiert es. Ich drehe mich um und zucke zurück. Der Mensch mit der so beruhigenden Stimme hat keinen Kopf, eher eine Fleischkugel, an deren Vorderseite sich kein Gesicht befindet, sondern – vom Haaransatz abwärts – ein halbes Dutzend Hautlappen groß wie kleine Pfannkuchen baumeln, die sich grotesk überlappen. Ich entdecke keine Ohren, keine Nase, keine Augen, nur da, wo die Töne herauskommen, weiter unten am Hals, geht ein schiefer Schlitz auf und zu. Das muss der Mund sein. Absurderweise denke ich, dass er nie geküsst wurde. Dass niemand genug Liebe hat, um diesen hellroten Brei aus Menschenhaut so innig zu berühren.

Der Alte ist ein »Scheich«, einer, der den Koran auswendig kennt: Stirbt jemand, spricht er drei, vier Suren für ein paar Piaster. Ein Junge führt den Blinden, streckt irgendwann seine Hand in meine Richtung, er weiß, dass Fremde Geld haben. Während ich nach einem Schein suche, fällt mir David Lynchs Elephant Man ein, die wahre Geschichte eines grauenhaft verunstalteten Engländers aus dem 19. Jahrhundert. Doch dessen Kopf – Ohren, Augen, Lippen waren noch erkennbar – sah unvergleichlich »menschlicher« aus als das, worauf ich unbeirrbar und unerreichbar von allen Regeln des Anstands starre.

Seit einer Woche bin ich mit Ehab unterwegs, einem Studenten, den ich als Dolmetscher angeheuert habe. Er ist zuverlässig und belastbar. Auch er will nicht glauben, was er gesehen hat. So etwas passiert nur einmal im Leben, und es passierte an diesem Tag.

Als die Trauergäste gegangen sind, fragt Ehab einen der Arbeiter, wo der Scheich lebt. Jetzt gleich mit ihm sprechen, das geht nicht, ich muss mich vorbereiten, muss gefasster auftreten. Wir bekommen eine vage Adresse, nicht weit von hier.

Tage später finden wir den Mann, im dritten Stock eines heruntergekommenen Hauses, direkt neben dem Friedhof. Wir klopfen, und ohne Zögern werden wir hereingebeten. Armer Ägypter Zustände, die schlecht verputzten Wände, das uralte Mobiliar. Zehum wohnt bei der Familie seines Bruders. Alle sieben machen einen soliden, gelassenen Eindruck, ja strahlen – unheimlich – Zuversicht aus. Es gibt Chai und Orangen. Aber ja, wir dürfen fragen.

Der heute Einundsiebzigjährige wurde gesund geboren, mit zehn jedoch bekam er starkes Fieber, und sein Kopf begann sich zu deformieren. Wegen falscher Medikamente, glauben sie. Das Malheur schritt langsam voran, so war noch Zeit für den Jungen, Schreinergeselle zu werden. Zehum hatte Pläne, wollte heiraten und Kinder. Doch die Krankheit, für die sie keinen Namen wissen, stand nicht still.

Im Laufe eines halben Jahrhunderts verformten sich Zehums Gesicht, sein Schädel und der Hals zum Fleischberg eines Zombies. Jetzt – keine Ironie klingt mit in seiner Stimme – habe das »Wachstum« ein Ende. Zehum weiß es, weil andere ihm davon berichten. Er selbst ist längst blind. Nie hatte er eine Frau, nie einen Augenblick sinnlicher Intimität. Und er sagt, als ich mich danach erkundige: »Ja, ich bin glücklich.« Und wie geht das? In einem solchen Zustand?, frage ich verblüfft und wenig taktvoll. Und Zehum erklärt das unfassbare Glück: »Ich liebe die Schönheit der arabischen Sprache. Ich kenne den Koran, er bringt mir Freude.«

Nein, er hat sein Schicksal nie als Bestrafung verstanden, es ist, wie es ist. »Alhamdulillah«, gepriesen sei Gott. Das Gebet mache ihn stark, seine Arbeit bei den Beerdigungen sei nützlich, die Trauernden schätzten seine Anwesenheit. Selbstmordgedanken? »Nie.« Ob aus seinen verschwundenen Augen noch Tränen kommen? Auch das bejaht Zehum, zuletzt habe er viel beim Tod seiner Mutter geweint. Da floss das Wasser unter irgendeinem Hautwulst hervor.

Er bezieht umgerechnet fünf Euro Rente vom Staat. Die werden nicht reichen, um sich eine neue Unterkunft zu suchen, hat doch die Stadt bereits angekündigt, hier großflächig alles niederzureißen. Parkplätze für Touristenbusse sollen entstehen.

Ich weiß, Neugierde kann obszön sein. Dennoch bitte ich ihn, sein »Gesicht« anfassen zu dürfen. Was Zehum umgehend erlaubt, auch die Familie nickt bejahend. Und ich hebe die Fladen hoch, einen nach dem anderen, auf gut Glück, ohne die geringste Orientierung. Man kann nicht einmal vermuten, denn gegen jede Vorstellung entstand hier über viele Jahre ein »Ding«, für das es keinen Namen gibt. Schließlich entdecke ich unter drei Schichten uralter Haut zwei rote Schlitze, die ehemaligen, seit Langem nutzlosen Augen, stoße hinten am Hals, vom Hemdkragen verdeckt, auf einen vernarbten Riss im Gewebe: das eine Ohr, so informiert man uns, das noch funktioniert.

Ich will die Gutmütigkeit Zehums nicht überstrapazieren, so lege ich sacht, fast zärtlich meine Hände auf die beiden Stellen, wo sich bei gesunden Menschen die Wangen befinden, und danke ihm für sein Vertrauen. Zehum sagt nochmals, so, als wollte er mich beruhigen: »Ich kenne den Koran auswendig, ich liebe die Schönheit seiner Sprache.«

Unergründliches Menschenherz.