In der Bibliothek meines Vaters entdeckte ich einst Das große Geheimnis, ein Buch über Yoga. Die Fotos zeigten einen Mann mit einem unglaublich biegsamen Körper. Ich war elf, und es war das erste Mal, dass ich das indische Wort las. Und solche Verrenkungen sah. Eine unerklärliche Faszination ging von den Seiten aus. Voller Staunen stellte ich es zurück. Unverstanden, ungelesen.
Jahrzehnte später flog ich nach Indien. Das siebte Mal. Aber diesmal, um an einem Yogakurs teilzunehmen. Aus zwei Gründen: Ich wollte einen anderen Leib, einen, den ich in alle Himmelsrichtungen drehen konnte, mühelos und elegant – samt einem tadellosen Rücken, der aufhörte, Tag und Nacht zu jammern.
Und ich wollte meine Bereitschaft zur Menschenfreundlichkeit ermutigen. Sie war mutlos geworden, kleinlaut angesichts so mancher, die von Freundlichkeit nichts wussten. Vielleicht hat auch meine Trägheit dazu beigetragen. Ich vermute wohl beides.
Irgendwann begreift man, dass ein Zusammenhang besteht: zwischen einem Körper, der seinen Besitzer mit keinem Schmerz, keiner verdächtigen Unruhe plagt, und der Fähigkeit, spielerisch und unangestrengt auf die Welt zuzugehen. Dreht man den Satz um, stimmt er ebenfalls: Je mehr Probleme – physisch und/oder psychisch – der Mensch mit sich herumträgt, desto komplizierter wird die Nähe zu anderen. Die Gefahr droht, die eigenen Neurosen, innen wie außen, auf seine Umgebung loszulassen.
Ein paar Nuancen dramatischer drückte es Gérard Depardieu aus: »Wenn man geliebt wird, versucht man, liebenswert zu sein. Wenn man ungeliebt ist, ist man wie alle Ungeliebten unausstehlich.«
Seit ich denken kann, verfolgt mich der Traum von der erträglichen Leichtigkeit des Seins: ein Leben, das durchaus Tiefe haben soll, aber nichts von seiner Heiterkeit einbüßt. Jeden, der gleich beides besitzt, bewundere ich.
Unser Yogameister war großartig. Nie lachte er dreckig, wenn er mit mir oder den übrigen Talentlosen übte, ja, mit immer ruhiger Hand half, unsere verkrampften Faszien zu lösen, unsere Körper an »asanas« heranzuführen, Stellungen, die er wie ein Zauberer vorführte – und die bei einigen von uns wie bizarre Gebilde aussahen. Gewiss zum Lachen.
Wir bildeten eine gute Truppe. Die Könner standen den Unbeholfenen bei. Die Fortschritte? Winzig, aber sie reichten für ein gehobeneres Lebensgefühl. Am Ende jedes Nachmittags tat alles weh, doch der Kopf war wundersam friedlich. Den ganzen Abend lang.
Jeden Morgen kamen wir an einem an die Wand genagelten Holzbrett vorbei, auf dem ein Kalligraf vier berühmte Sutras gemalt hatte. Verfasst wurden die »Lehrsätze« von Patañjali, der als Erster die Leitfäden für Yoga zusammengestellt hatte. Insgesamt 195. Vor zweitausend Jahren etwa.
Die Sprüche waren maßlos fordernd und wohl gedacht für künftige Heilige. Wobei sie sich im Grad ihrer Ansprüche unterschieden: »Karuna« ist das Sanskritwort für Mitgefühl. Das kann ich, nicht immer, aber oft. Wen das Leid seiner Mitmenschen nicht anrührt, dem ist auf Erden nicht zu helfen. Wie man weiß, ist diese Eigenschaft zum Teil angeboren. Sie sollte folglich ohne spezielle Nachhilfe funktionieren.
Darunter stand »Mudita«, die Neidlosigkeit, ja, glatte Freude über den Erfolg eines anderen. Auch den Erfolg eines Gegners. So weit bin ich nicht. Meine eigenen Erfolge mag ich lieber als die meiner Konkurrenten. In der New York Times las ich kürzlich das Wort »Freudenfreude«. Die Amerikaner haben diesen Neologismus erfunden, den es ja im Deutschen nicht gibt. Sie leiteten ihn von »Schadenfreude« ab, einem Ausdruck, der seit Urzeiten fester Bestandteil der englischen Sprache ist, und bastelten – konsequent – das Gegenteil daraus. Eben die Freude über die Freude eines anderen. Und Freude auch dann, wenn es sich um einen Typen handelt, den man – so würden die Wiener sagen – als nicht »hautfreundlich« empfindet.
Das kann ich nicht, will ich nicht. Das Leben eines Unbescholtenen ist mir zu fad, ab und zu will ich lästern, will laut verkünden, dass ich die oder den für überschätzt halte, dass jemand Schmu redet oder schreibt – und mir die Lebenszeit stiehlt.
Der dritte Punkt ist der interessanteste: »Upeksha«. Ich befragte den Meister auch dazu, und seine Interpretation klang ziemlich modern: Man solle – vor der (moralischen) Verurteilung – darüber nachdenken, wie man sich in derselben Situation verhalten hätte, in der ein anderer der Versuchung erlag – nach Ruhm, nach Dollars, nach Macht, nach was auch immer. Wer jetzt genau in sich hineinschaut, wird feststellen, dass die Gier (nur ein Beispiel) nicht weniger an einem selbst zerrt als an der Person, deren Gier man gerade belauert. Und missbilligt. Upeksha verhindert das Wuchern von Scheinheiligkeit, das eitle Herausputzen der eigenen Unfehlbarkeit.
Wie angenehm die Nähe von Frauen und Männern, die ihre Schatten zugeben, die sich nicht als weißblütige Geschöpfe aufführen, sondern um ihre Widersprüche und Zwielichtigkeiten wissen. Man atmet freier.
Das vierte Sutra handelte von »Maitri« – mein Thema. Für die großen Nachsichtigen unter uns könnte man es mit »Herzensgüte« übersetzen. Doch der Meister wusste um uns Menschlein, er wollte uns nicht überfordern. Er meinte, man könne für »Maitri« auch »kindness«, auch »friendliness« sagen, ja, »politeness«. Beruhigende Hinweise, denn keiner ist imstande, zu aller Welt gütig zu sein. Aber Höflichkeit und – die wärmere Version davon – die Freundlichkeit, das wäre ein Fortschritt.
Ich habe, hie und da, die eine oder den anderen beobachtet, die gnadenlos höflich blieben. Geradezu penetrant, ja, damit noch mehr Wut auf der Gegenseite provozierten. Und niemand war fähig, sie umzustimmen. Auch die Rüpel nicht, auch die prinzipiell Unhöflichen nicht, keiner weit und breit. Sie sind mit dem Florett unterwegs, jede Attacke parieren sie mit federleichten Paraden. Ihr Geheimnis? Wohl ein Geschenk der Götter. Die brauchen kein Yoga und keine Meditation. Sie kamen so auf die Welt.
Die Wochen verliefen heiter, und am Ende konnte ich mich tatsächlich ein paar Millimeter geschmeidiger bewegen. War zudem wieder konzentrierter, seltener bereit, mich ablenken zu lassen. Allerdings: ob derlei Unternehmungen den Charakter eines Menschen ändern, Richtung Menschenliebe? Ich zweifle. Man redet sich etwas ein, will es unbedingt. Und für ein, zwei Monate hält die Illusion an. Dann übernehmen die Gene wieder, und die scheinen unbesiegbar zu sein.
Höflichkeit ist kein Gen. Die kann man sich zulegen, sie üben und trainieren. Auch die Freundlichkeit. Wie eine Sprache. Zuerst stottert man, aber mit der Zeit gehört sie einem, wird Teil der Persönlichkeit.
Warum hungert mich so danach? Weil ich täglich erfahre, wie ich blühe, wenn mir der andere (die andere) mit Swing begegnet. Weil die Begegnung – und wäre sie nur eine Minute lang – mich nährt, die Zukunft gleich besser aussieht, beschwingter. Und genau das Gegenteil passiert, wenn mir eine Pestzecke über den Weg läuft. Wobei es mich immer wieder verblüfft, wie verletzend das nachwirkt. Ich wünschte, es ließe mich kalt. Nein, tut es nicht. Es brennt.
Das versteht sich von selbst: wünsche ich mir »Manieren«, dann muss ich sie ebenfalls herzeigen. Doch auch da hapert es. Es kommt zu absurden Auftritten, bei denen ich weiß, dass jetzt Coolness und Souveränität gefragt wären und ich trotzdem als missmutiger Spießer auftrete und nicht als lässiger Weltbürger. Verpatzt. Und keinen Augenblick gibt es in der Wirklichkeit, den man wiederholen kann. Man pfuscht, und die Niederlage steht hinterher im Tagebuch. Bis zum Ende meiner Tage. Immerhin: Ich bessere mich.
Guten Muts flog ich vom Meister davon. Auch aus Begeisterung über einen, der so überlegen, Tag für Tag, sein Leben im Griff hat. Der auf unheimlich konzentrierte Weise anwesend war. Der sich nicht ablenken ließ, nie im Trainingsraum ein Handy zückte, den ich nicht einmal mit einem abwesenden Gesichtsausdruck beobachtete. Er beherrschte etwas, was uns längst abhandenkam: »da-sein«. Er widmete sich jeder und jedem mit allem Seinem. Kein Narzissmus stand ihm im Weg, keine Altlasten strapazierten ihn. Er konnte so präsent sein, weil seine Vergangenheit vergangen war.
Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Berliner Psychotherapeuten. Sein Spezialgebiet war die Behandlung von Männern, die bei Ausbruch ihrer cholerischen Wut gewalttätig wurden. Meist gegenüber ihren Freundinnen, ihren Frauen. Der Psychologe war der Überzeugung, dass ein Mensch sich im Laufe seines Lebens einen »Werkzeugkasten« anschaffen sollte: voller (emotionaler) Instrumente, die man – je nach der gegebenen Situation – einsetzt. Es braucht eine ganze Reihe verschiedener »Techniken«, um mit den oft delikaten Herausforderungen des Alltags fertigzuwerden. Der Therapeut zitierte ein japanisches Sprichwort: »Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, sieht alles wie ein Nagel aus.« Diese Männer, diese Faustkämpfer, sind mangelhaft ausgerüstet, meinte er. Nur ein Hammer steht ihnen zur Verfügung, und die alleinige Alternative für sie heißt folglich ausholen und draufhauen.
Von Terence, einem amerikanischen Teilnehmer an dem Yoga-Retreat, hatte ich das Wort »facework« gelernt. Es geht darum, bei sozialer Kommunikation den Respekt zu wahren. Via Takt auf jeden Fall vermeiden, dass jemand sein »Gesicht verliert«. Wenn es sein muss, sogar mithilfe von Notlügen und dem Übergehen von Reizthemen.
Früher hätte ich derlei Ratschläge ätzend gefunden. Lieber alles herausschleudern, ohne Rücksicht auf etwaige Flurschäden. Als unerbittlicher Wahrheitsapostel – wie lächerlich. Das Ergebnis waren zwei Schlechtgelaunte, die sich anschließend nichts mehr zu sagen hatten. Inzwischen vermute ich, dass der Mangel an Achtung – nur ein anderes Wort für Respekt – die Hauptursache für den Frust so vieler ist. Wer sich gedemütigt fühlt, sinnt auf Vergeltung, nicht auf Versöhnung.
Dass bei gewissen Anlässen klar und deutlich die Fakten ausgesprochen werden müssen – der Hinweis erübrigt sich.
Eine Anmerkung sei noch erlaubt: Natürlich gibt es die verlogene, die inszenierte Höflichkeit. Sie will etwas, sei es Geld, Gunst, Sex, welche Gefälligkeit auch immer. Ein waches Misstrauen kann bei passender Gelegenheit nicht schaden. Aber davon ist in diesem Text nicht die Rede. Hier geht es ausschließlich um die – wie die Franzosen es nennen – »politesse désintéressée«: eine Höflichkeit ohne Hintergedanken, ohne Forderung, ohne den Wunsch nach Belohnung.
Zum Abschluss will ich vier winzige Geschichten erzählen, sie alle als »Aphrodisiaka« gedacht. Nicht zur erotischen Luststeigerung, sondern als Mittel, um das zu steigern, was man in der englischen Sprache social grace nennt. »Soziale Anmut«, was für ein smartes Konzept.
Wir lernen, mir geht es zumindest so, vom Benehmen anderer. Entweder findet man es grässlich, oder man beneidet die Frau, den Mann, will es können wie sie: diese Lässigkeit, diese Nonchalance. Als Antidot gegen den florierenden Grobianismus.
Die erste Story spielt in den USA. Sie dauert ein paar Augenblicke und ist voller Bedeutung – wenn man um die Zusammenhänge weiß. Ich sitze in einem Bus in Baton Rouge, der Hauptstadt von Louisiana. Der Bus hält, und eine ältere schwarze Frau steigt ein – jede Sitzgelegenheit belegt. Und jetzt passiert es: Ein weißer Mann – äußerlich das Inbild eines Rednecks – steht auf und bietet ihr seinen Platz an. Der vielleicht Fünfzigjährige ist korpulent, ein Stiernacken ragt aus dem Hemdkragen. Und er lächelt, verweist mit galanter Geste auf den nun freien Sitz. Auch sie lächelt, bedankt sich mit einem leichten Kopfnicken. Und setzt sich.
Man muss sofort an Rosa Parks denken, die sich vor siebzig Jahren im Nachbarstaat Alabama weigerte, den von einem Weißen beanspruchten Platz in einem Bus zu räumen. Damals zu Zeiten strikter Rassentrennung im Süden Amerikas. Der Busfahrer rief die Polizei, die Renitente wurde verhaftet.
Das war die eine Demütigung zu viel, eine knappe Woche später organisierten die Schwarzen der Stadt den Montgomery Bus Boycott, der dreizehn Monate dauern sollte – ein Meilenstein in der landesweiten Bürgerrechtsbewegung. Angeführt von Martin Luther King, neben ihm immer auch Missis Parks, die schon lange für die Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß kämpfte.
Die kurze Busfahrt war lehrreich. Einmal die Erkenntnis, dass sich Zustände tatsächlich ändern. Und dann mein Vorurteil über den Dicken, den ich – seines Aussehens wegen – eher für einen white supremacist gehalten hätte und der sich als vollendeter Gentleman erwies.
Jetzt nach Deutschland. Eine Mini-Episode, ein Drei-Sekunden-Ereignis. Und bestimmt ohne tiefere Bedeutung. Nur Staunen, Überraschung und Wärme. Zuerst die »Vorgeschichte«: Wir kennen sie alle, jene, die vor uns durch eine Tür gehen und vollkommen gleichgültig gegenüber der Welt um sie herum die Tür hinter sich zufallen lassen. Statt einen Blick zurückzuwerfen, um zu sehen, ob jemand folgt. Und wenn ja, die Tür offen zu halten – eine klitzekleine Geste, die zur Freude im Leben beiträgt. Wie diesmal. Doch der Clou der Geschichte ist, dass kein Erwachsener vor mir durch die Bahnhofstür ging, sondern ein Mädchen, sicher nicht älter als acht, und das – so werde ich noch erfahren – Simone hieß. Und Simone stemmte ihre vermutlich dreißig Kilo gegen das schwere Metall, um mir, den ihr völlig Unbekannten, den Weg zu erleichtern. Was für eine kleine Dame, was für eine souveräne Tat.
Auf nach Paris. Die Pariser haben einen schlechten Ruf. Zäh erworben dank ihrer sprichwörtlichen Arroganz. Vor Jahren berichtete die französische Presse über »Pari Shôkôgun«, frei übersetzt mit: Paris-Syndrom. Eine Reihe von japanischen Touristen litt darunter, unter der Ruppigkeit der Einwohner. »Die Stadt der Liebe« erwies sich als hartes Pflaster. Dazu die Sprachbarriere, die Hetze, die allgegenwärtige Ungeduld. Verständlich, denn in Japan gehören Höflichkeit und Rücksicht zur nationalen DNA. Die Sensibelsten bekamen Bettruhe verordnet, die schweren Fälle mussten ins Krankenhaus, die aussichtslosen traten überstürzt die Heimreise an.
Ich schwöre, der Freundlichkeitsquotient hat zugelegt. Auch in Paris hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es a) neben der französischen Sprache noch andere gibt und b) selbst einer Wunderschönen ein Maß an courtoisie gut ansteht.
Hier der Beweis meiner forschen Behauptung: Bushaltestelle, mitten in der Hauptstadt. Ein Bus hält, die Türen gehen auf. Vor der mittleren, der breiteren, steht ein Mann mit Krücken. Er will einsteigen, erfolglos. Wohl zu schwach die Beine, wohl zu unbeweglich. Nun geschieht etwas gänzlich Unerwartetes, nicht ohne eine Prise Komik. Genau vierzehn Fahrgäste verlassen den Bus und wollen ihm helfen, fragen, diskutieren. Bis zwei junge Kerle je einen seiner Arme um ihre Schultern legen, ihn hochheben und vorsichtig in der Ecke für Kinderwagen abstellen. Wo er sich anlehnen kann. Leute klatschen, lächeln, alle sind für Momente selig. Der kranke Mensch ist nicht schön, nicht reich, nicht berühmt, und dennoch regt sich der Herzmuskel in uns.
Darf ich mich kurz als Menschenkenner aufspielen? Tief drinnen – wo immer das sein mag – vermute ich, ist der Mensch dem anderen zugetan und bereit, dessen Kummer und Drangsal zu lindern. Wenn nicht vernagelt von religiösem oder politischem Wahn. Manchmal schwankt die Vermutung, aber sie bleibt grundsätzlich intakt. Auch wahr: Manche sind nicht mehr zu erreichen. Ein stillgelegtes Herz hört nichts. Will nichts hören. Will seine Ruhe.
Eine letzte Story. Sie spielt in Nowosibirsk, irgendwo in Sibirien, knapp 3000 Kilometer östlich von Moskau. Ich war auf der Durchreise von Berlin nach Wladiwostok – mit der Transsibirischen Eisenbahn. Es gibt wohl keinen Zug, in dem man unbekümmerter Leute kennenlernt. Die Reise dauert Tage und Tage, die Kabinen liegen direkt nebeneinander, und man trifft sich immer im selben Restaurant.
Valentin, der Russe, der als Beamter in die Provinz strafversetzt wurde, hatte genug Wodka an Bord geschafft, um uns alle bei Laune zu halten. Mein Lieblingsmensch aber war Drake, der Kanadier, der aus der Türkei ein viertel Kilo (!) grünen Türken, allerfeinstes Haschisch, nach Russland geschmuggelt hatte. Er und ich wussten sogleich, wie tapfer er war, hatten wir doch beide Midnight Express gesehen, den Schocker von Alan Parker: die wahre Geschichte von Billy Hayes, einem Amerikaner, der am Flughafen von Istanbul mit Dope erwischt und zu dreißig (!) Jahren Haft verurteilt wurde. Und erst nach Verrat, Folter und Verlegung in ein Irrenhaus entkommen konnte. Denn er nahm den »Midnight Express«, das Insiderwort für Flucht. Wie aus dem Wasser gezogen verließ man den Kinosaal.
Natürlich lud mich Drake zu einer »session« ein, verschloss sorgfältig die Tür, brach einen Riegel von dem harten, flachen Teil und formte zwei fingerdicke Klumpen. Und wir zündeten sie an und inhalierten mit offenem Mund den göttlichen Rauch. Verstärkt wurde diese Stunde der Dämmerung durch den Blick aus dem Fenster, vor dem der Zauber der russischen Taiga vorbeizog. Innerhalb von Minuten waren wir high – so lupenrein der Stoff, mit nichts gestreckt, ja, reines, tadelloses Gift. Wir mutierten zu unaufhörlich kichernden Kindsköpfen, die nach oben auf die Gepäckträger krabbelten. Und dort haltlos bis in die späte Nacht weiterkicherten.
Nein, das war nicht die entscheidende Szene von wegen Höflichkeit, sie war nur das Vorspiel, herrliches Vorspiel – aber noch keine Sensation.
Die kam, als wir am nächsten Vormittag in Nowosibirsk ankamen. Längerer Aufenthalt. Das Personal verstaute frische Nahrungsmittel in der Küche, Reinigungstrupps zogen durch die Gänge, neue Passagiere stiegen zu. Das dauerte, denn hier waren sie mit Tonnen von Gepäck unterwegs, mit Koffern à la sozialistischer Realismus und kubikmeterdicken Kisten.
Alles wäre nach Plan verlaufen, hätten wir nicht plötzlich Kinder gesehen, die mit prächtigem Eis, Fruchteis, an uns vorbeischlenderten. Und Zino, Weltreisender, Grieche und eine Seele von Mensch, bot sich an, ein paar Portionen zu holen. Trotz unserer Warnungen – das Gebäude lag über zweihundert Meter weit weg und Menschengedränge überall – lief er los.
Es kam, wie es kommen musste. Keine fünf Minuten waren vergangen, und die Pfeife des Schaffners schrillte. Erster Hinweis auf die baldige Abfahrt. Augenblicke später ertönte das zweite Schrillen, kurz darauf das dritte. Und kein Zino, nirgends. Wir riefen seinen Namen, gestikulierten, nichts.
Dann setzte sich die Transsib in Bewegung. Und jetzt tauchte der Kopf von Zino auf. Wir lehnten uns aus den Fenstern und feuerten ihn an, den Helden mit den Rieseneistüten in beiden Händen: während die Lok Fahrt aufnahm, und wir – angesichts der Ausweglosigkeit der Situation – Zino brüllend zu verstehen gaben, doch das verdammte Eis fallen zu lassen.
Mindestens dreißig Sekunden ging das so, so lange, denn hier war kein runaway train unterwegs, sondern ein behäbiges Alteisen auf Rädern: Zino, der ambulante Eismann, spurtete tatsächlich bis vor auf die Höhe unseres Wagons, war aber partout nicht willens – ein Heiliger eben –, die Last abzuwerfen und in die von uns offen gehaltene Tür zu springen.
So geschah das Wunder von Nowosibirsk. Ein Deus ex Machina trat auf, in Gestalt von Valentin, der den skurrilen Vorgang ebenfalls verfolgt hatte, ja, bereits angeheitert war vom Lauf der Dinge und ein paar Schlucken aus der Wodkaflasche. Und nun seelenruhig auf den Hebel der Notbremse zuging und kräftig daran zog, es laut quietschte und der Zug zum Stehen kam. Zino stieg ein und überreichte uns mit dem Lächeln eines Siegers das Eis. Was für ein Kerl! Was für ein Grieche!
Ach ja, der Schaffner kam, eher schlecht gelaunt. Da ich mich ein bisschen im Land auskannte, hatte ich schon einen Zwanzigdollarschein bereitgelegt. Und sorgte für eine diskrete Übergabe. Ein Akt reinster Selbstverständlichkeit. Damit war die Sache erledigt, es ruckelte wieder, und weiter ging es in den fernsten Osten.
Diese Geschichte steht – Stichwort Höflichkeit, Stichwort Freundlichkeit, Stichwort Hilfsbereitschaft – ganz oben auf meiner Hitliste. Alles kam da zusammen: Heiterkeit, Großzügigkeit, Witz, Bewunderung und so eine lässige, unaufgeregte Chuzpe. Und die Freundschaft zwischen Fremden, die sich vorher nie begegnet waren. Ein Glückstag, ganz unvergleichlich.