Eine Frau

Welcher Mann kennt das nicht: Man lernt eine Frau kennen und ist begeistert. Ich meine nicht das blindwütige Verknalltsein, das tatsächlich blind macht. Weil man nur sieht, was man sehen will. Nein, ich meine, dass man klar ihre Vorzüge erkennt, ihre Silhouette, ihre Bewegungen, das Gesicht, die klugen Gedanken, ja, den heiteren, warmherzigen Charakter. Was auch nach Monaten nicht verschwindet, nur immer bewundernswert bleibt.

Bis der Schock kommt. Bis etwas passiert, was man für unmöglich hielt. Ein Verhalten, das man dieser Person nie zugetraut hätte. Weil eine Spur Irrwitz an ihm haftet, eine Bizarrerie, von der auch die Psychologie nicht recht weiß, wie sie erklären: ein Identitätsproblem? Die Unfähigkeit, loszulassen, sich von der Vergangenheit zu lösen? Der Wunsch, sich zu schützen? Sich einzumauern gegen die Welt?

Ich fragte sie und bekam keine Antwort. Keine, die das Rätsel erhellt hätte. Im Gegenteil, Lina reagierte genervt. Ich war sicher nicht der Erste, der fassungslos in ihrer Wohnung stand. Wir hatten uns lange Zeit ausschließlich bei mir getroffen, sie wollte es so. Jetzt begriff ich, warum. Natürlich sah sie das Problem, ahnte immerhin, dass »etwas nicht stimmte«. Was sie aber nicht zugeben konnte. Weil »etwas« zwei widersprüchliche – wie ich bald erfahren sollte – Gefühle in ihr auslöste, je nach Stimmung: durchaus zufrieden mit dem Status quo oder diffus abgestoßen. Was aber nie reichte, um radikal einzugreifen.

Möglicherweise war ich entgeisterter als meine Vorgänger, denn ich bin ein unbelehrbarer Minimalist. Auf dem Schreibtisch liegt 1 Filzschreiber. Und der schreibt. Keine drei Köcher mit 99 Stiften, von denen 98 vor Jahren noch in Betrieb waren. Jedes Teil in meiner nächsten Umgebung muss seine Anwesenheit rechtfertigen. Keine verstopften Schubladen, keine überladenen Schränke, nicht ein Gramm Klimbim, nirgends. Gewiss eine der Nachwirkungen des langen Aufenthalts in einem buddhistischen Kloster. Ich verliebte mich in Leere – nur ein anderes Wort für Freiheit und Eleganz. Bei jedem Gegenstand, der mir verdächtig überflüssig vorkommt, frage ich mich: »Geht Freude von ihm aus?« Und kommt kein begeistertes Ja zurück, wird gnadenlos entsorgt.

Das nur am Rande, denn die Geschichte soll von Lina erzählen.

Nein, Lina war kein »compulsive hoarder«, wie Amerikaner Leute nennen, die zwanghaft horten. Die es schaffen, ihr dreistöckiges Haus plus Vorgarten, Hinterhof und Garage(n) so mit Müll vollzustopfen, bis jemand die Polizei ruft, um die Person vor ihrem Untergang zu retten. Denn Bad, denn Toilette, denn Küche und Schlafzimmer sind inzwischen so von neuem und altem Schrott – vollkommen nutzlos, vollkommen ungenutzt – verbarrikadiert, sodass kein Durchkommen mehr ist. Oder nur noch unter lebensbedrohlichen Manövern. Ja, der übel riechende Irrsinn auf den Gehweg schwappt, der letzte verfügbare Platz, um das Delirium auszuleben.

Und irgendwann rücken zehn schwere Trucks an, mit zehn Muskelmännern und einer psychologisch geschulten Fachkraft. Um das Irrlicht zur Aufgabe seines Wahns zu überreden. Damit er (sie) einwilligt, dass zwischen 20 und 120 Tonnen den Augiasstall verlassen: »To get back your life!« Was nicht immer gelingt, bisweilen ist die Sucht nach Verwahrlosung vehementer als die Freude auf ein neues Leben.

Lina war weit davon entfernt, sie hatte es nur zu einem Messie gebracht: Gegen die Tür einer der drei Räume musste man sich anstemmen, um noch hineinzugelangen. Und auf den einzigen Tisch konnte man nur zwei (der sechs Dutzend) Teller und zwei (der sieben Dutzend) Tassen stellen, nachdem er leer geräumt war. Aus den Einbauschränken quoll Kleidung, wovon die Hälfte schon seit Urzeiten nicht mehr benutzt wurde. Daneben türmte sich ein Berg Schmutzwäsche, es muffelte. In ihrem großen Badezimmer gab es keinen freien Fleck für meine Toilettensachen, ich legte sie auf den Boden. 367 verschiedene Artikel, unter anderem 23 Shampoos und Spülungen, nahmen jeden Quadratzentimeter in Beschlag. Von den verkalkten Wasserhähnen nicht zu reden. Alle (angeschmutzten) Fenster der Wohnung ließen sich nicht öffnen, da verstellt: Blumentöpfe baumelten von der Decke und standen auf den Fensterbrettern. Die montierten Jalousien hingen nutzlos am oberen Ende – verheddert. Der von Krimskrams übersäte Teppich, darunter Legobausteine für Babys und verbeulte Lampenschirme aus dem letzten Jahrhundert. Von den drei Heizkörpern war einer kaputt, einer funktionierte, der dritte durfte nicht benutzt werden, weil 100 Meter Kabel auf ihm lagen. Sogar drei der vier Herdplatten wurden von Utensilien in Beschlag genommen.

Meine eigene Wäsche blieb in der Reisetasche, das schmuddelige Parkett war zu schmuddelig. Kam ich im Dunkeln aus der Toilette, suchte ich mit einer Taschenlampe den Weg zurück ins Bett. In der ersten Nacht träumte ich von einem Riesenstaubsauger, der den Plunder in Sekunden verschluckte. Dann wachte ich auf und lag erschöpft da. Ramsch macht unglücklich.

Unheimliche Widersprüche. Lina hatte einen anspruchsvollen Beruf, sah zu jeder Stunde des Tages gepflegt aus, angezogen wie ausgezogen. Und kein Detail aus ihren siebenunddreißig Jahren – und ich habe penetrant nachgefragt – ließ ein Drama vermuten, gab Hinweise auf ein Ereignis, das jemanden dazu trieb, in solch versackten Verhältnissen zu hausen.

Ach, hinter dem ersten Schock lauerte ein zweiter. Von dem ich erst erfuhr, als es zu spät war. Ich habe lange gezögert, diese Geschichte zu erzählen. Sie verstört. Sie ergibt keinen Sinn.

Lina wusste nicht, warum sie lebte, wie sie lebte. Zumindest behauptete sie das. Vielleicht verschwieg sie die Gründe. Es gab sie, ob sie ihr bewusst waren oder nicht. Denn keine Tat im Universum geschieht ohne Ursache, wie verborgen sie auch sein mag.

Ihre Eltern gingen wie zivilisierte Erwachsene miteinander um, keiner schlug zu, niemand organisierte psychischen Terror, kein Missbrauch war zu melden, alle vier Kinder wurden unbeschadet volljährig, lernten etwas, verdienten mit leichter Hand ihr Auskommen. Sagte sie.

Wieso macht ein Mensch das?

Man weiß, dass Zwänge auf geduldiges Zureden nicht reagieren. Irgendein »Muss« – versteckt im Unbewussten – zwingt zu Handlungen, die jeder Vernunft widersprechen, dafür Leid und Kummer bringen, ja, zu Tragödien führen.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, denn eine Obsession – ob nun durchlebt von einem Alkoholiker, Fresssüchtigen, Magersüchtigen, Junkie oder eben von einer Person, die jeden Bierdeckel und jede rostige Schraube bunkert –, diese so gefährliche Sehnsucht erzeugt ein Lustgefühl. Wenn auch nur kurzfristig. Doch intensiv genug, um ihm nicht widerstehen zu können. Hat sich der Rausch jedoch gelegt, beginnt wieder die Trauer, die Wut auf sich, der Blick in den Abgrund. Und das toxische Spiel geht endlos in die nächste Runde.

Lina berichtete, dass sie mehrmals versucht hatte, der Wucht des Gerümpels Einhalt zu gebieten. Dass sie mit großen Plastiktüten anrückte, um ihre 60 Quadratmeter auszudünnen. Was stets misslang. Nach spätestens drei Stunden war ihre »Verlustangst«, Lina wörtlich, so heftig, dass sie das Unternehmen abbrach, ja, das bereits Eingepackte an seinen Platz zurückstellte.

Ich bin ein miserabler Pädagoge, will den Mund nicht halten, muss belehren. Statt das Unveränderliche hinzunehmen. Ich Narr.

Aber mir grauste hier, ich bin in einer solchen Umgebung nicht fähig zu Intimität. Ein Raum soll inspirieren, zur Hingabe einladen. Mitten in einer Abfallgrube (okay, ich übertreibe) kann keine erotische Nähe entstehen. Auch keine andere Nähe – wie Gespräche, wie Meditieren, wie, völlig undenkbar, Schreiben. Manche können das, ich nicht. So bestand ich darauf, dass wir uns in Zukunft wieder grundsätzlich bei mir sahen. Nachdem ich ihr mehrmals angeboten hatte, als Müllmann anzupacken und die Halden abzutragen. Vergeblich.

Lina war gekränkt – und gab nach. Wir mochten uns, wir begehrten uns. Wir hatten keine Liebesbeziehung, aber auch keine kalte Bettgeschichte. Eher eine innige Affäre, in der man sich auch jenseits der körperlichen Zuneigung um den anderen kümmerte. Und nie verlangte Lina mehr. Kein Schrei nach Kleinfamilie, nach Haus und Kind, nach Ewigkeit. Wie sexy, wie rar.

Ich hörte nicht auf – wie verbohrt –, sie überzeugen zu wollen, dass weniger Besitz ein leichteres Leben bedeute, dass eine Wohnung an Schönheit gewinnt, wenn nicht alle zwei Schritte Teile quer liegen, die weder das Auge erfreuen noch einen Hauch von Zweck transportieren, ja, die einzig vorhanden sind, weil ein Mensch die für ihn bedrohliche »Leere« nicht aushält. Ein Wohnzimmer sollte Ruhe, ein Schlafzimmer Vertrauen verströmen. Bei Lina erstickte man, kein Möbel, kein Ding verstrahlte Wärme. Man öffnete die Tür bei ihr und musste zuerst das Gelände sondieren, um eine Sitzgelegenheit zu finden, die man ohne möglichst viel Aufwand von ihrer Last befreien konnte: Kissen weg, Zeitungsstöße auf den Boden deponieren, Klamotten verlagern.

Heute weiß ich, dass gut gemeinte Absichten nicht unbedingt Gutes produzieren: Haben meine Reden zu Linas Unglück beigetragen? Eher nicht, ich will mich nicht überschätzen. Schuld auf sich laden kann auch etwas Pathetisches haben.

Nie habe ich verstanden, warum Frauen und Männer Fakten schaffen, die ihr Leben – für jeden von uns anstrengend genug – zusätzlich beschweren. Statt dafür zu sorgen, es cooler zu organisieren. Sodass mehr Zeit für Tätigkeiten bleibt, die vergnügen, die uns kreativ fordern und unser Herz und Hirn reicher machen. Nicht zu vergessen den ganzen Leib. Kein Mensch wird auf dem Totenbett bereuen, zu wenig Mühe in das Umschichten von Unrat investiert zu haben.

Dann kamen die unbeschwerten Monate. Auch weil ich tatsächlich aufgehört hatte zu moralisieren, mit keinem weiteren Wort ihre Schuttgrube erwähnte. Die kam nicht mehr vor, ich betrat sie nicht mehr. Denn die Abende und Nächte verbrachten wir ja bei mir. Zudem hatte ich begriffen, dass man Frauen wie Männer – bildlich gesprochen – nur unmerklich berühren kann. Der Einfluss auf den Nächsten ist minimal.

Das Ende kam überraschend, ohne Ankündigung, ohne Vorahnung. Es kam, und alles war zu Ende. Eines Tages lag Lina tot in ihrer Wohnung, mittendrin. So die Polizei, die ich nach einer Woche unerklärter Stille benachrichtigt hatte. Die Obduktion ergab Freitod durch die Einnahme von Antidepressiva. Kein Abschiedsbrief, auch sonst kein fürsorglicher Selbstmord, nichts war geregelt, niemand vorher verständigt. Da ich weder Verwandter noch Ehemann war, kam ich nur schwer an Informationen heran. Zudem lebten wir zwei Ausländer in einem fremden Land. Von ihrer Familie wusste ich nichts, nur die paar Sätze, dass ihre Kindheit ohne Brüllen und Prügel verlief, folglich keine besonderen Vorkommnisse zu berichten waren. Heute denke ich, dass sie meine lästigen Fragen loswerden wollte und irgendetwas verlautete, um weitere Nachforschungen zu verhindern.

Ihr Tod ein Versehen? Doch wer schluckt irrtümlich dreißig Pillen statt einer? Und war er längst geplant? Oder überstürzt, aus plötzlicher bodenloser Not?

Ich wurde von der Polizei vernommen, aber meine Aussagen waren kaum hilfreich. Lina war die verschlossenste Frau, der ich je begegnet bin. Ich hätte etwas erfinden müssen, um einen Wink zu geben, warum die Übersetzerin (Russisch, Serbisch) sich das Leben genommen hatte. Nein, Messies sind nicht todessüchtiger als Minimalisten, und alles andere war »normal« an ihr, keineswegs auffällig.

Wer dürfte behaupten, in das Herz eines anderen blicken zu können.

Dennoch, für einen, der glaubt, Menschenkenntnis zu besitzen, ist das ein betrübliches Eingeständnis. Eisern hatte Lina dichtgemacht. Sie verkörperte ganz offensichtlich das Gegenteil jener Schwatzsucht, die grundsätzlich jeden Furz die Welt wissen lässt. Lina war intelligent, attraktiv, finanziell unabhängig – und todtraurig. Vermutlich, ich kann nur raten.

Es widert mich an, öffentlich von meiner »Betroffenheit« zu reden. Man kennt die Leute, die vor laufender Kamera zuerst »sprachlos« sind und dann wortreich loslegen. Ich war nicht sprachlos, ich war still.

Henry James schrieb einmal: »Sag nie, du weißt die letzten Worte über ein menschliches Wesen.« Lina ging weg, und eine Flut von Geheimnissen verschwand mit ihr.