Helden und Duckmäuser

Ich bin immer noch ein Kind. Weil ich Erwachsenen zuschaue und sie nachahme. Wenn sie mir gefallen – ihre Worte oder Gesten oder Taten. Oder alles zusammen. Sehe ich einen Großzügigen, bin ich mindestens vierundzwanzig Stunden lang großzügiger als zuvor. Sehe ich einen Gütigen, fällt mir ein, wie oft ich nicht gütig war. Sehe ich einen lächeln, merke ich, wie verspannt ich gerade daherkomme. Stets drehe ich mich nach jenen in der Welt um, die noch nicht gezeichnet sind von Herzensträgheit und dem unbedingten Willen, als Zombies zu altern. Erwische ich einen Wildfremden in flagranti bei einer kleinen Heldentat, erzähle ich sie jedem. Damit wir ihn oder sie nicht vergessen.

Mein Enthusiasmus hat seine Kehrseiten. Begegnen mir die Geizkrägen und Grimmigen, die Ungenießbaren, Schafsköpfe und Befehlsempfänger, dann zeige ich eiskalt mit dem Finger auf sie. Auch von ihnen muss ich reden. Sonst platze ich.

Konkret: Ich war für einen Tag in einer deutschen Großstadt. Der Name spielt keine Rolle, da es überall so hätte sein können. Ein guter Tag, denn ich lernte etwas über das Leben.

Kurz vor neun begann die erste Lehrstunde. In der U-Bahn. Die Szene dauerte keine zwei Minuten, aber sie war heftig und bestechend: Ein Mann mit einer Visage wie aus einem Mafiafilm fing plötzlich an, auf eine Frau einzuschreien. Und sie am Mantelkragen zu packen und zu schütteln. Wie jemanden, den man rabiat zur Rechenschaft zieht. Bevor ich Zeit hatte herauszufinden, ob ich mich traute oder ein Waschlappen war, stand eine Frau auf – vielleicht vierzig, gut gekleidet, gutes Gesicht – und ging einige Schritte auf das Paar zu. Sie ging ruhig, ohne Hast, stellte sich neben den Schüttler und sagte, rätselhaft gefasst: »Respektieren Sie bitte Ihr Gegenüber. Haben Sie eine Meinungsverschiedenheit, lösen Sie sie auf zivilisierte Weise.« Dann kehrte sie zurück zu ihrem Platz, und das Wunder fand statt: Der Mafioso hielt den Mund. Und blieb still. Als hätte man ihn aus seiner rasenden Hypnose geholt. Und der Wagon schwieg vor Bewunderung.

Tagsüber hatte ich Termine. Der Lernquotient war bescheiden, nicht bemerkenswert. Das wurde er erst wieder abends. Ich ging ins Kino, in die Nachtvorstellung von 127 Hours: die wahre und bewegende Story von Aron Ralston, einem amerikanischen Naturfreak, der beim Klettern in einen Canyon gestürzt war. Und lebend unten ankam. Freilich mit einem unrettbar eingeklemmten Unterarm. Dem rechten, dem wichtigeren. Ein Todesurteil, denn niemand wusste, wohin sich der Bergsteiger aufgemacht hatte.

Jeder Versuch, sich zu befreien, scheiterte. Bis Aron nach 127 Stunden, nach fünf Tagen und fünf Nächten, den letzten Ausweg akzeptierte: sich Elle und Speiche zu brechen und den Rest, das Fleisch und die Nerven (!), mit einem winzigen Taschenmesser zu kappen. Ich war immerhin tapfer genug, nicht wegzuschauen, als es (im Film) so weit war.

Eine Viertelstunde später gingen die Lichter an, und nun, schon nach Mitternacht, geschah das noch Unfassbarere: An der Kreuzung in direkter Nähe standen die Kinobesucher. Kein Auto weit und breit. Jeder von ihnen hatte knapp zwei Stunden lang einen Mann beobachtet, der sein Leben riskierte, um es zu retten. Doch sie verharrten, regungslos, traubenweise.

Die Moral dieses anregenden Tages? Die da: Eine wagt viel, einer wagt alles. Und die Übrigen rühren sich nicht und warten, bis ein grünes Männchen ihnen erlaubt, die Straße zu überqueren.