An jedem Ende des Jahres ziehe ich Bilanz, notiere die gelungenen Taten und die anderen, die auf den Holzweg führten. Und die unentschiedenen, die, für die noch kein Ergebnis vorliegt. Die Freude bringen oder Tränen. Wunderlicherweise gebe ich nie auf. Das hat etwas Rührendes.
Zuletzt, ganz unten, am Fuß der jährlichen Abrechnung, steht: »Désirs«. Das sind meine Vorsätze, meine Sehnsüchte für die kommenden zwölf Monate. Von den banalsten Dingen – Teppichboden legen und Dusche neu streichen lassen – über die eher anstrengenderen – das aktuelle Buch beenden und den verfluchten Rücken heilen – bis hin zur Mutter aller Sehnsüchte: Leichtigkeit.
Seit vielen Jahren schreibe ich das Wort als innigsten, als brennendsten Wunsch hin. Wie offensichtlich: Ich bin nicht begabt dafür, denn an jedem ersten Januar trage ich es von Neuem ein. Weil alle Versuche der Besserung fehlschlugen. Am 31. Dezember bin ich so schwer wie 365 Tage zuvor. Das Schwere gehört mir, es will mich nicht verlassen. Ist das genetisch? Ist es das Erbe einer kriegerischen Kindheit? Bin ich nicht hell genug, um leicht zu werden?
Das uralte Problem: wie handeln, um sich nicht zu verraten, nicht hasenfüßig einzuknicken? Doch andererseits den anderen nicht zu beleidigen? Sodass keiner das Gesicht verliert? Ich vermute, es gibt Zustände, die fordern einen Wutausbruch. Vielleicht scheint das nur bei Leuten wie mir so zu sein, denn ich wuchs in der Nähe eines Mannes auf, der die größeren Probleme mit seinen Fäusten löste. Ganz trocken schreibe ich das hin, jede Art von Selbstmitleid ist verdächtig.
Ich bin der, der von Leichtigkeit nichts weiß. Leicht im Kopf, leicht im Herzen. Ein Player sein, einer, der spielerisch auf das Leben zugeht. Einer, der Mensch und Welt um sich wahrnimmt – und nicht daran verzweifelt. Kein Gleichgültiger sein, nie, aber auch keiner, der jeder Zumutung schutzlos ausgeliefert ist. Der längst begriffen hat, dass das eigene Leiden nichts zum Heil der anderen beiträgt. Im Gegenteil, geteiltes Leid ist doppeltes Leid. Deshalb: Je heiterer ich bin, desto mehr Swing kommt in die Welt. Immerhin, ein winziger Beitrag zum Frieden auf Erden.
So ein easy smile hätte ich gern, dann wäre ich einer, der Bosheiten umgehend evakuiert. Der sie nicht schwären lässt, nichts Toxisches aufhebt. Der Anwürfe von außen mit einer souveränen Geste kontert, nicht den Groll hochkochen fühlt, nicht bleich wird und die Hände ballt. Nein, lieber einer, der cool, calm and collected daherkommt.
Bei einem Postbeamten in Peru konnte ich das – das Smarte, das Besonnene – beobachten. Er blieb gnadenlos freundlich – trotz penetranter Vorwürfe meinerseits. Oder bei einem indischen Autofahrer, dem ich brutal in Goa (Linksverkehr!) mit meiner Enfield die Vorfahrt nahm. Worauf er haarsträubend riskant auswich, um mir, dem Motorradfahrer, den Crash zu ersparen, ja, stehen blieb und sich besorgt um mich kümmerte. Oder bei jenem Amerikaner, dem im Zugabteil durch meine Ungeschicklichkeit – beim Holen einer Reisetasche von der Gepäckablage – ein (kleiner) Koffer auf den Kopf fiel. Uff, peinlicher geht es nicht. Aber der Gentleman demonstrierte letzte Contenance, er lächelte und meinte, sanft ironisch, das nächste Mal vielleicht eine Spur aufmerksamer (»maybe a bit more mindful?«) zu agieren. Ein heiliger Amerikaner, unheimlich.
Wie viel würde ich zahlen, um so einer zu sein. Heilig nicht, doch gesegnet mit dieser mondänen Fähigkeit, sich zu beherrschen, ja, den primitiven Reflex zu bändigen, der losschnauzen will – mit dickem Ego und dem unbedingten Vorsatz, nichts ungestraft zu lassen.
Das ist kein Plädoyer fürs Verdrängen, fürs Runterwürgen von Gefühlen. Wer das auf Dauer praktiziert, landet irgendwann mitten in einer Depression. Ab und zu muss man schreien, das entlüftet die Psyche, stärkt das Immunsystem. Aber bei den anderen 95 Prozent könnte man sich den Auftritt sparen. Weil er klein macht, zum Jämmerling, weil der Anlass in keinem Verhältnis zum Gebrüll steht. Weil man – ich spreche von den Einsichtigen – hinterher erkennt, dass man den Augenblick verpfuscht hat. Kein Swing, nirgends. Nur Krach und hard feelings – schon wieder zerfressen von nichts.
Doch wie erklimmt man solche Höhen? Ueshiba Morihei, der Begründer von Aikido, meinte einmal: »Wenn jemand voller Ärger auf dich zugeht, grüße ihn mit einem Lächeln. Das ist die höchste Kampfkunst.« Wie einfach, wie sagenhaft schwer. Und klingt doch so verführerisch – gerade für Zeitgenossen wie mich, die weder Macht noch Muskelberge besitzen noch mit einer Smith & Wesson am Gürtel durch die Straßen gehen, ja, die – wie die meisten von uns – nichts haben als ihre Sprache. Und die dazugehörige Gestik.
Jeder weiß, dass ein Zorniger entschieden schneller abrüstet, wenn sein Gegner sich von ihm nicht anzünden lässt, sondern die Nerven behält, nicht kreischt, ja, eiskalt den Fehdehandschuh liegen lässt und – als erstes Friedensangebot – lächelt. Genau so habe ich es erfahren. Entweder als »Angreifer«, der angelächelt wurde und sogleich die Waffen streckte. Oder als Opfer eines Wüterichs, den ich, schier unglaublich, mit einem heiteren Grinsen entwaffnen konnte. Aber das sind die Ausnahmen, oft ziehe ich in den Krieg und schleiche als Wicht nach Hause.
Auch wahr: Charme hilft nicht überall. Manche können mit Frieden nichts anfangen, sie müssen ihre Psychospasmen grundsätzlich an anderen abarbeiten. Geräuschvoll, unerreichbar.
Hier ein Ratschlag. Er soll helfen beim Üben von Selbstbeherrschung. Er stammt von einem eher seriösen Guru, den ich einst in Indien traf. Die Anregung klingt vernünftig, kein esoterischer Humbug. Leider bin ich – neun- von zehnmal – außerstande, ihn anzuwenden: Mein Körper besiegt mich, von mind over matter keine Rede. Der Körper hat mehr Muskeln als mein Geist. Der ist ein Schwächling. Das muss aufhören.
Der Vorschlag geht so: den Bruchteil der Sekunde – bevor man platzt – nutzen und sich bewusst werden, was jetzt passieren könnte. Gleichzeitig ein ruhiger Atemzug. Wer es schafft, diesen einen entscheidenden Moment abzufangen, ist dem schon näher, was die Italiener sprezzatura nennen: der lässige Umgang mit dem Alltag, diese begehrenswerte Nonchalance, die das so Anstrengende so leicht, so unangestrengt erscheinen lässt. Und ohne einen Funken Gespreiztheit, ohne Affektion, es »passiert« einfach. Die sprezzatura gehört der Person, die sie ausstrahlt: Sie macht nichts, sie ist es.
Ich bewundere das. Wie alles, was ich beneide. Im Englischen sagen sie: »to show flair«. Das hört sich sexy an. Entschieden sexyer, als sich mit Zornesfalte und schriller Stimme der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wichte, wohin man schaut.
In Australien traf ich einen Mann, der mir von einem Vorfall in einer Bar erzählte, wo er jemanden zum Krüppel geschlagen hatte. Weil er ihm unterstellt hatte, die zwei am Tresen liegen gelassenen Dollar gestohlen zu haben. In der Zeit, in der er auf der Toilette war. Der Beschuldigte stritt ab, und der Mensch, der jetzt umgerechnet 1,35 Euro weniger besaß, prügelte los. Bis der Verdächtigte – bei dem die Polizei später keine zwei einzelnen Dollarmünzen fand – an eine Wand krachte und querschnittgelähmt liegen blieb.
Zugegeben, das ist ein extremes Beispiel von einem, der noch in völliger Dunkelheit tappt. Ob die sechs Jahre im Gefängnis gereicht haben, um das Bewusstsein zu heben? Keine Ahnung. Dass es noch dunkler wurde in seinem Kopf, auch das ist möglich.
Doch, es gibt noch eine zweite Option, um den Kreislauf von Röhren und Bereuen zu unterbrechen. Die Idee kam mir, als ich in New York auf der Fifth Avenue einen Bettler sah. Eine Straße, auf der gewöhnlich die weniger Armen Amerikas unterwegs sind. Kein Allerweltsbettler, sondern einer, der wie ein sandwich man auftrat. Die übliche Bedeutung des Worts meint jemanden, der – vor der Brust und hinten auf dem Rücken – je ein Plakat trägt, auf dem für etwas Werbung gemacht wird. Nicht hier. Terence hatte beidseitig akkurat und radikal seine Abstürze protokolliert, hier eine Auswahl: eine Leberzirrhose, zwei Scheidungen, mehrere Zwangsräumungen, drei Entlassungen, ein Verkehrsunfall mit steifem linken Bein als Andenken, einige Monate im Gefängnis wegen kleinerer Vergehen (»minor misdemeanours«) und allein im letzten Jahr Opfer von vier Überfällen, Räubereien zwischen Alleslosern.
Mag sein, dass Terence schwer dramatisiert hatte, doch nicht alles konnte erfunden sein, denn er sah ungefähr so aus wie der Mann, dessen Niederlagen er hier aufgelistet hatte. Und vielleicht war der Alte an manchem schuld, aber echtes Mitgefühl kümmert das nicht. Irgendwie wusste Terence das: Er hielt den Hut hin, und die nicht so Armen schenkten ihm ein Lächeln und ein paar Scheine. Nicht ohne vorher mit Bedacht seine Autobiografie zu lesen.
Ein Blick reichte, um zu sehen, wie es um den New Yorker stand: um sein Unglück voller falscher Entscheidungen und falscher Lieben zu begreifen, das ganze falsche Leben war unübersehbar. Bei den vielen anderen ist die Sicht auf die Seele versperrt, durch das Gesicht, durch die Masken, die sie tragen. Selbst körperliche Blessuren bleiben oft versteckt unter der Kleidung. Dennoch, jeder Mensch trägt Narben mit sich herum –innen wie außen. Und an meinen guten Tagen, an denen ich mit der Welt und mir einverstanden bin, stelle ich mir bei einer Person, die feindlich und grob auf mich zugeht, ihre (unsichtbaren) Verletzungen vor, den Frust, den sie schlucken musste, die Demütigungen und die noch immer schwelenden Wunden. Und entspanne.
Beizeiten hilft das, der Mürrische entschärft, und ich feiere einen kleinen Sieg. Selten genug.
Jetzt zwei Beispiele aus der konkreten Wirklichkeit. Ich fange mit dem GAU an, er stellt ein Paar Geisteskranke vor, einen afghanischen Taxifahrer und mich, den Fahrgast. Nein, nichts Exotisches, es passierte an einem warmen Sonnentag, mitten in einer deutschen Großstadt. Anschließend kommt der Bericht einer anderen Pestbeule. Da war ich kurzfristig erleuchtet. Beide Auftritte zeigen, wie grundverschieden man mit dem Leben umgehen kann.
Fall eins: Am Bahnhof bitte ich einen Taxifahrer, mich zur Adresse XY zu bringen. Es beginnt ruhig, wir beschweren uns über den stockenden Verkehr, und ich frage ihn, aus welchem Land er komme. In der Hoffnung, über seine Herkunft plaudern zu können, ja, ich vielleicht ein wenig davon weiß und so ein Gespräch entsteht.
Das war die entschieden falsche Frage, denn der etwa Fünfzigjährige legt nun los. Als hätte ich den Deckel von einem Hochofen gerissen, als Startzeichen für einen Wahnwitzigen, einen heiligen Krieger aus Afghanistan, der sich aus Versehen vom Schützengraben im Hindukusch in einen beigen Mercedes verirrt hatte: Was für eine Scheiße (sic) – alles in ziemlich gutem Deutsch – der Westen sei! Und was für eine Scheiße der Westen in sein Land gebracht habe! Die vielen vergewaltigten Frauen! Die vom verrotteten Westen in sein Land importierten, verrotteten Ideale! Die vielen ermordeten Kinder! Die ruinierte Wirtschaft! Der vom Westen erniedrigte Islam! Der unbedingte Wille, Afghanistan zu erobern und zu unterjochen!
Der Mann tobt, ich sehe seine zehn Fingerknöchel weiß werden, mit letztem Hass hält er das Steuerrad in Händen.
Nun trete ich auf: der zweite Irre, der tatsächlich von dem Irrglauben verblendet ist, einen (inzwischen schreienden) Amokläufer zur Räson bringen zu können. Ich umso fester daran glaube, da ich mehrmals vor Ort war. Ich unterbreche also – ebenfalls lauthals – sein Feuerspeien mit dem Hinweis, dass täglich Abertausende, auch Afghanen, versuchen, in den verrotteten Westen zu fliehen, dass seine Heimat in den Neunzigerjahren von einer Terrorherrschaft heimgesucht wurde, wo Apostaten vor großem Publikum im Kabuler Nationalstadion verstümmelt wurden oder man ihnen gleich den Kopf abschlug, wo Frauen wegen Ehebruchs (wenn es denn ein Ehebruch war) unter einem Steinhagel zu Tode kamen, wo Dieben öffentlich die Diebeshand abgehackt wurde, ja, dass seine Heimat ein Land war, in dem Mädchen keine Schule betreten durften, in dem man alle Freuden wie Musik, wie Singen und Tanzen mit barbarischer Strafe ahndete, in dem nur die pervertierte Rechtsprechung einer moralisch verwahrlosten Bande galt, der Taliban, einer Bande, von der ein Drittel nicht lesen und schreiben kann, ein Land, in das heute – nachdem die Taliban zurückkamen – der Schrecken aufs Neue einzog, wo –
Weiter komme ich nicht, der Afghane brüllt jetzt nach hinten: dass der Sieg der Taliban nur Glück bedeute, dass endlich wieder die Scharia gelte, dass jede Buße gerechtfertigt sei, dass Frauen auf der Straße nichts zu suchen hätten, dass westliche Frauen nur Nutten seien, dass Enthauptungen im großen Stadion gewiss in Zukunft wieder Frieden bringen würden, dass –
Nun brülle ich dazwischen, sehe mir zu, in was für ein gräuliches Spiel ich mich hineinziehen lasse, längst verstanden habe, dass sich eher die acht Planeten um die Erde drehen, als dass hier ein Irrsinniger seinen Irrsinn loslässt. Ich brülle auf den Brüllenden ein, dass er doch aus dem verwahrlosten Westen verschwinden und in sein gelobtes Land umziehen soll, merke, was für einen Stuss ich rede, denke plötzlich, dass ich mich besser zurückhalte, denn vielleicht zieht der rasende Zelot ein spitzes Messer aus dem Handschuhfach und sticht drauflos, brülle, bis ich zur Besinnung komme und ihn – »Sie dämlicher Arsch« – auffordere, rechts ranzufahren und zu halten. Der Mann sieht wohl das Mord-Gen in meinen Augen und stoppt, ich werfe einen Schein auf den Beifahrersitz, steige sofort aus, ohne auf das Wechselgeld zu warten, und schleudere die Tür zu. Nur weg.
Ich zittere und weiß, das ging daneben. Viel katastrophaler hätte man diese fünfzehn Minuten nicht inszenieren können. Aber es ist passiert. Von sozialer Kompetenz keine Rede. Ich beobachtete mich und sah einen, der rettungslos ausgeliefert war: seiner Rage, seiner Verachtung, dem totalen Kontrollverlust. Das Hirn war tot, unerreichbar von jedem Aufruf zur Mäßigung. Dennoch, und es entschuldigt in nichts mein Verhalten: In so einem Fall bin ich nicht bereit, mir die erlittenen Verletzungen des furiosen Taxifahrers vorzustellen, um ihn milder zu beurteilen. Da passt eher ein Satz von Jorge Semprún, der Buchenwald überlebte und später Kultusminister Spaniens wurde: »Man muss die SS nicht verstehen, es genügt, sie zu bekämpfen.«
Der Afghane war kein Schläfer, kein schlummernder Agent, nein, vielmehr eine wandelnde Höllenmaschine, die nur noch darauf wartet, höllisches Leid loszutreten.
Clever sein, das ist die Antwort. Hat man doch keinen Einfluss, keine Geldkisten, nur eine flinke Zunge, ein freches Mundwerk, das nicht schmäht, aber Widerstand leistet. Auf intelligente Weise, das schon. Das Problem: Ich bin nicht in jedem Augenblick intelligent, gerissen und schlagfertig.
Hier die zweite Szene. Sie zeigt, wie plastisch das Hirn ist, wie es die genau entgegengesetzte Richtung einschlagen kann, wenn Stress lauert. Und keine Hysterie ausbricht, dafür der Kopf via Coolness, Beiläufigkeit und Scharfsinn eine Herausforderung angeht. Dabei nicht eine Sekunde das Ziel aus den Augen verliert: eine Unverschämtheit beim Namen zu nennen und jemanden wissen zu lassen, dass eine rote Linie überschritten wurde.
Der Vorfall: Mit Freundin S. für einen Lufthansa-Flug nach Bukarest einchecken. Dass wir wie alle anderen eine geschlagene halbe Stunde im stehenden Transfer-Bus – heißer Sommertag – warten müssen, ist eher einer miserablen Organisation geschuldet als bösem Willen. Endlich im Airbus, hier wird es noch ungemütlicher. Ruppig informiert man uns darüber, dass unsere beiden Fensterplätze bereits vergeben sind. Man will uns auf zwei Mittelplätze abschieben. Ohne Erklärung, ohne Bitte. Wir gehen vor zur Businessclass, die nur schwach belegt ist. Barsch werden wir vertrieben, sogar der Kapitän greift lautstark ein.
Ich bin erstaunlich ruhig und lasse mich zu keinem aggressiven Ton hinreißen, denke nur, es wäre gewiss ein Leichtes, uns aus Kulanzgründen diese Alternative anzubieten. Dazu jedoch bedarf es eines Hauchs Großzügigkeit und lässiger Eleganz. Die fehlt gerade.
Okay, ich bin nicht Michael Kohlhaas und sehe, dass wir für den Augenblick verloren haben. Doch gleichzeitig blitzt es in meinem Kopf. Mir fällt etwas ein, um uns zu revanchieren. Was eine Woche Geduld erfordert. Wir nehmen die zugewiesenen Plätze ein und halten still. Ich überlege, ich notiere.
Bukarest hat viel zu bieten Der absolute Höhepunkt ist Nicolae Ceaușescus Palast des Volkes, den sich der gelernte Schuhmacher hatte errichten lassen. Der Rundgang lädt zu heiterem Gelächter ein. Über 3000 Zimmer sind es zuletzt geworden, für geschätzte 3,3 Milliarden Euro. Immerhin groß genug, um sein monströses Ego unterzubringen. Sozialistische Frankenstein-Architektur, importiert aus China und Nordkorea. Als »Conducator«, als Führer, spielte Nicolae sich vierundzwanzig Jahre lang auf, bis er als Dracula – so sein Spitzname – an einem kalten Dezembertag 1989 von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und umstandslos samt Gattin Elena erschossen wurde.
Tag des Rückflugs, wir checken ein, wir sitzen beide am Fenster, alles bestens. Nach etwa einer halben Stunde übergebe ich einer Stewardess die schriftlich vorbereitete Nachricht mit der Bitte, sie an den Kapitän weiterzuleiten, der eine Woche zuvor von Frankfurt nach Bukarest flog. Ich deute auf das Kuvert, auf dem die genauen Daten stehen. Sie nickt freundlich.
Hier der Inhalt:
Betrifft:
Lufthansaflug 1420/Frankfurt–Bukarest
Datum: XY/Abflug 14.05 Uhr
Bericht einer Erbärmlichkeit
Zuerst der erfreuliche Teil: Vor ein paar Wochen flog ich mit Thai Airways. Im Flugzeug stellte sich heraus, dass mein Sitz bereits belegt war. Sogleich kam eine Stewardess und bat mich LÄCHELND um Entschuldigung, »sorry for the inconvenience«. Dann wurde mir LÄCHELND der Grund dafür mitgeteilt (ich brauchte nicht zu fragen): Eine Mutter wollte neben ihrem Kind sitzen. Kein Problem, umso mehr, als mir umgehend und LÄCHELND ein Platz in der Businessclass angeboten wurde. Für zehn lange Stunden. Plus drei feine Mahlzeiten.
Jetzt kommt der erbärmliche Teil: Jetzt befinden wir uns nicht bei der Thai Airways, sondern in einem Flugzeug der Lufthansa. Hier weht deutsche Gründlichkeit, der Jawohl-Ton, der bekanntlich vollkommen ohne Swing auskommt. Was passiert? Beinahe dieselbe Situation wie auf dem Weg nach Thailand, nur dass ich diesmal nicht allein unterwegs bin: Freundin S. und ich stehen vor unseren Sitzen, die aber schon besetzt sind. Ich muss im Gedränge nach jemandem suchen. Irgendwann finde ich eine Flugbegleiterin, höre nur den trockenen Hinweis, dass die zwei gebuchten Fensterplätze vergeben seien. Auf meine Frage, warum, gibt es a) keine Erklärung und b), klar, kein Lächeln. Das Flugzeug ist fast voll, wir gehen vor zur Businessclass, wo es noch reichlich Platz gibt. Wir sehen nicht ein, die Mittelplätze zu akzeptieren. Nicht in dem Ton. »Okay, dann setzen wir uns hier.«
Nicht bei der Lufthansa, wo an diesem Augusttag der raue Umgangston zu den Spielregeln gehörte. Die Stewardess eilt – genervt und verbissen – vor zum Cockpit, berichtet (ich verstehe jedes Wort) von unserem ungeheuerlichen Ansinnen. Worauf umgehend der Höhepunkt folgt. Durch die Cockpit-Tür hört man den Kapitän – vermutlich in stramm aufgeplusterter Kapitänspose – nach hinten bellen: »Wenn es denen nicht passt, dann sollen sie aussteigen!«
Ist das erbärmlich? Ziemlich.
Quel connard arrogant!
Quel manque de professionnalisme!
Quelle attitude ridicule!
Bukarest/Datum, Andreas Altmann
Sorry, aber auf das »arrogante Arschloch« wollte ich nicht verzichten. Ich dachte, wenn ich es auf Französisch hinschreibe, klingt es weniger vulgär. S. hatte abgeraten, doch ich war zu schwach, um es zu streichen: Hochmut ist eine Sünde, und der Hochmütige soll es wissen.
Bewusst hatte ich den Umschlag nicht zugeklebt, hoffte, dass die Crew – eine ganz andere als die vor einer Woche – den Brief lesen würde. Und so geschah es. Bald kommt wieder eine Stewardess, schwer lächelnd, versichert, dass man dafür sorgen werde, die Beschwerde an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Sie fragt noch, ob wir nach der Landung nicht kurz mit dem Kapitän sprechen wollten? Wenn ja, dann sollten wir bitte warten, bis alle Passagiere ausgestiegen seien. Wir sagen mit Freuden zu.
Hoch lebe die Lufthansa! Nach Ankunft kommen wir nach vorne, und da stehen der Kapitän, der Purser und zwei bildhübsche Frauen, die Stewardessen. Und S. bekommt eine dicke Flasche Rotwein überreicht. Mit dem charmanten Hinweis, dass Fehler passieren und man sich bemühen werde, sie in Zukunft zu vermeiden. Alle lächeln, alle wundersam entspannt.
So wäre ich gern – jeden Tag. So einer, der andere zum Lächeln verführt.