Das ist ein seliges Gefühl: die Wohnungstür zu öffnen und sich auf den Boden zu knien. Samt Rucksack. Und »welcome home« zu seufzen. Schlagartig hat das Leben eines mühselig Beladenen ein Ende. Kein keuchendes Sprinten zum Busbahnhof mehr, kein Gerangel vor Ticketschaltern, kein Balancieren in versauten Aborten, kein schmiergeldhungriger Polizist in Sicht, kein Floh weit und breit, nimmermehr das Gebrüll einer Glotze aus dem Nebenzimmer.
Das ist der Augenblick, in dem ich meine Wohnung wieder als das begreife, was sie ist: ein Traum. Insektenfrei, niemand rempelt, immer steht ein Sitzplatz zur Verfügung, kein einziges Mal muss ich rennen, noch nie wurde ich in meinem Schlafzimmer verhaftet, stets strömt märchenklares Wasser in die Dusche, kein Millimeter Grind klebt an meiner Klobrille. Und nachts, ja, nachts darf ich flachliegen auf meinem Futon. Dem Paradiesfleck. Lichtjahre himmlischer als jene angeranzten Kojen, die an die tausend Leiber erinnern, die dort vor mir unglücklich und schlaflos dahindösten.
Coming home – what magic words. Ab sofort bin ich wieder zivilisiert: jeden Tag einseifen, überall, jeden Tag frische Unterwäsche, jeden Tag mit sauberen Fingernägeln die Welt betreten. Und jeden Tag im Café still sitzen und lesen dürfen, sprich, sich jeden Tag begeistert anderer Leute Wissen und Einsichten einzuverleiben, ach, jeden Tag ein paar Millimeter weniger ignorant ins Bett gehen.
Ich misstraue allen, die rastlos abwesend sind. Ich kann das nicht, ich muss zwischendurch stehen bleiben. Zum Tanken, zu Hause. Weil nach drei Monaten on the road der Speicherplatz im Kopf überläuft. Irgendwann haben kein Bild und keine Story mehr Platz. Das Herz will Atem holen, wie die Augen, die erblinden, die sehen und doch nicht sehen, nicht wirklich, nicht haargenau, nicht haarscharf. Wie die Ohren, die faul und schwerhörig werden, nun verstopft von den Geschichten menschlicher Glorie und unmenschlicher Ruchlosigkeit. Die Nerven liegen blank, der Enthusiasmus ist hin.
Noch etwas passiert, eher besorgniserregend: Meine Geduld schwindet, mein Taktgefühl. An irgendeinem Ort der Reise fällt mir auf, dass ich gefühlstaub werde, dass mein Reservoir an Empathie leerläuft, dass ich das Gräulichste werde, was aus einem werden kann: ein Gleichgültiger.
Zuletzt, durchaus Banales mahnt zur Umkehr: Meine sieben Sachen verwittern. Und ich mit. Die Hose mit den Geheimtaschen löchert. Hemdknöpfe fehlen, die Sonnenbrille wackelt, der Mac ächzt und will repariert werden, ein schwelender Fersendorn rumort wieder, ein linker Backenzahn ruft nach dem Zahnarzt. Zwei Zehen eitern.
So ist endgültig Zeit, den Rückwärtsgang einzulegen. Bin keinem mehr zumutbar, mir nicht, niemandem. Ich muss weg.
Zugegeben, hier spricht ein Reporter, der nicht imstande ist zu reisen, um sich zu erholen. Ich reise, um mich zu erschöpfen. Andere treten runderneuert und himmelblau strahlend die Heimreise an. Ich nicht. Ich bin ausgezählt.
Immer fort sein, uff, so beängstigend wie immer daheimbleiben. Nach einer langen Reise fordert der Körper eine Auszeit. Nein, keine Bettruhe, kein Sanatorium, aber: Zeit, um die letzten Wochen zu »dechiffrieren«. Camus notierte es so klar (und ein atü zu weihevoll): »Es gibt eine Zeit zu leben und eine Zeit, um davon Zeugnis abzulegen.«
So will ich den (reparierten) Mac einschalten und anfangen, mein mitgebrachtes Tagebuch zu lesen. Da ich nie zweckfrei reise, ist der einzige Zweck, davon zu erzählen. Schriftlich. Damit das gelingt, brauche ich zuallererst a room of my own, den stillen Ort, das eine Zimmer, das nur mir gehört, das nur ich betreten darf und das ich verriegle wie Eroberer ihre Schatzkammer. Wo ich verschwiegen dasitzen und nach Worten Ausschau halten kann, die maßgerecht passen, jene, die die Leser später aufwiegeln und begütigen sollen, heimsuchen und umarmen, anfeuern und besänftigen. Was für ein übermütiger Wunsch, ich weiß.
Diese Stube befindet sich in Paris. Dort steht die Werkbank, die Schlachtbank, das einfache Möbel, an das ich mich morgens festkette. Um das so einsame Geschäft zu erledigen – schreiben. Das Übersetzen von sinnlicher Erfahrung in Wörter ist eine hundsgemeine Strapaze. Jeden Tag Wehen, jeden Tag Geburtsdrama, aber jeden Tag, irgendwann: vergnügter Leichtsinn, glatte Freude über fünf gelungene Sätze. Die schweben, die leidlich so klingen, wie sie sollen. Was stets dann passiert, wenn – so nannte es Nobelpreisträger Naipaul – »the text caught fire«. Was für ein Bild: Sprache, die Feuer fing. Wie beredt, wie vieldeutig.
Hinterher folgt die nächste Belohnung. Weil ich die Schreibstube verlasse und sogleich in Paris ankomme, nach zehn Schritten. Und die Stadt jedes Mal ihr Versprechen hält: dass Schönheit tröstet. Auch über das, was einem nicht gelingt. Gewiss, würde ich fernab der französischen Hauptstadt leben, zögerte ich länger mit der Heimreise. Wäre ich in Cloppenburg oder Oklahoma City gemeldet, fielen mir genug Ausreden ein, um wegzubleiben. Aber der Name Paris hört sich so verlockend an wie das Lied einer homerischen Sirene. Und da ich nicht Odysseus bin, widerstehe ich selten. Und eile zurück. Zu ihr, zur Schönsten.
Treffen mich Freunde später im Café, fragen sie beim Wiedersehen als Erstes: »Wie war’s?«, und ich antworte sofort: »Super.« Und sie nicken freundlich und begeistert. Sie wissen längst, dass ich mich nicht die nächsten vier Wochen vor sie hinstelle und als Märchenonkel auftrete. Zu viel reden schadet der Sprache, nimmt ihr den Zauber.
Reicht die Kraft, dann kommt nach dem Zurückkommen ein Buch zum Vorschein. Ein Jahr danach vielleicht. Aber ja, als Reporter zählt nur eine Aufgabe: die Fundsachen einer Reise auszubreiten. Gefährliche Fundsachen, herzzerreißende. Und die warmen, die sanften. Und jene, die nichts als Lebensfreude entfachen.
Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich in der Druckerei stand, die gerade ein neues Buch von mir druckte. Und der Chef mir die ersten drei Exemplare überreichte. Und ich mir einbildete, sie wären noch heiß.
Ach, auf dass sie noch heiß bleiben im Buchladen, noch heiß in den Händen all derer, die sie lesen.