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Illégitime!

1. Mai 1789, Paris, Königreich Frankreich

Henri blickte sich um. Wo sollte er hin? Er war noch niemals zuvor hier gewesen. Kein lebender Mensch betrat jemals die Galerie des Chimères, das Zuhause der lebenden Wasserspeier. Das stimmt nicht , verbesserte er sich selbst. Selten, aber regelmäßig kamen Menschen hierher. Genau dafür war die purpurne Tür im Südturm da. Adlige, die ihren männlichen Nachfolger mit einem dieser steinernen Ungetüme in einer geheimen Zeremonie verbinden ließen, durchtraten sie. Nur dank der Hilfe der Wasserspeier war es dem zweiten Stand möglich, die einfache Bevölkerung, die den dritten Stand in millionenfacher Überlegenheit bildete, zu unterdrücken. Die Kirchenfürsten, der sogenannte erste Stand, unterstützten den Adel dabei nach Kräften, was nicht nur die Zeremonie der Liaison in Notre-Dame hinlänglich bewies.

Kein Mensch konnte sich der überlegenen Kräfte eines Gargoyles erwehren. Die steinernen Ungetüme galten als unverwundbar. Ihrem Eingreifen war es zu verdanken, dass bisher jede größere Revolte gegen die ungerechten Herrschaftsverhältnisse zusammengebrochen war. Die bourbonischen Könige würden ewig über Frankreich und große Teile der Welt herrschen. Zaghaft blickte Henri nach oben. Zahlreiche Gargoyles hatten ihre Krallenfüße in den Sandstein des Süd- und Nordturms gegraben und blickten mit ihren saphirgrün schimmernden Augen argwöhnisch auf ihn herab. Ein kaltes Schaudern durchlief Henri. Bis eben hatte er gehofft, allein zu sein. Gargoyles waren, trotz ihrer Größe, vollkommen lautlos. ›La mort viendra te chercher‹ war ein gängiges Sprichwort, mit dem man unbotmäßige Kinder zu ängstigen versuchte: Der Tod wird dich holen.

Warum greifen sie mich nicht an?

Henri entdeckte eine Tür. Nein, das Wort war eine Untertreibung. Es war eher ein Tor, wie es sonst nur Scheunen besaßen. Tiefe Kratzer waren in das verwitterte Holz gegraben. Ob sie dort hineingehen, wenn eine Liaison stattfindet?

Bevor Henri eine Antwort auf diese Frage ersinnen konnte, bebte der Boden unter seinen Füßen. Ein kleinerer Gargoyle war in seiner unmittelbaren Nähe gelandet.

Wie angewurzelt blieb Henri stehen und betrachtete das Wesen. Nur ein einziges Mal war er bisher einem der lebenden Wasserspeier so nahe gekommen. Das war der schlimmste Tag meines Lebens.

Es kann heute noch schlimmer enden , ächzte eine böse Stimme in Henris Kopf.

Der Gargoyle betrachtete ihn reglos. Seinen an einen überdimensionierten Dobermann erinnernden Kopf hatte er schräg gelegt. Die riesigen Flügel hielt er eng an den muskulösen Steinkörper gepresst.

Das Vieh scheint nicht zu wissen, was es mit mir anfangen soll. »Hallo, ich bin Henri«, war es ihm entschlüpft, bevor er erklären konnte, warum.

Die Reaktion des Gargoyles war, dass er den Kopf in die andere Richtung schräg legte. Feiner Staub rieselte dabei seinen Hals herunter.

Genau wie bei mir, wenn ich Stein bearbeite , durchzuckte Henri ein merkwürdiger Gedanke. Hektisch wischte er sich erneut Blut von der Stirn, es lief mittlerweile in seine Augen. Seine Hände waren mit feuchtem Rot überzogen. Pochende Kopfschmerzen unterstrichen, dass er schleunigst hier wegmusste, um sich Hilfe zu suchen. Langsam ging er rückwärts auf das zerkratzte Tor zu. »Hast du auch einen Namen?«, versuchte er die steinerne Bestie abzulenken.

Der Gargoyle erhob sich und ging einen Schritt auf Henri zu. Seine vier krallenbewehrten Pranken hinterließen überraschenderweise keine Abdrücke im weichen Sandstein von Notre-Dame.

Jetzt betrachtete Henri das Wesen genauer. Die Hautfarbe, wenn man das bei einem Gargoyle sagen konnte, war dem der Steine, aus denen Notre-Dame errichtet worden war, erstaunlich ähnlich. Notre-Dame ist ihre Heimat. Werden sie hier etwa auch geboren? Oder von jemandem gemacht? Henri wunderte sich, dass gerade er als Steinmetz noch nie darüber nachgedacht hatte, woher die steinernen Bestien überhaupt stammten, die sein Leben auf solch dramatische Weise verändert hatten. »Leider schon ziemlich spät …«, sprach er leise weiter. Das lenkte ihn von dem Wunsch ab, sich auf den Boden zu schmeißen und schreiend die Augen zu schließen. Die Sonne war tatsächlich beinahe untergegangen. In Henris Kopf hallten die mahnenden Worte des Purpurwächters wider, dass er unbedingt vor Sonnenuntergang den Südturm zu verlassen habe.

Sein Gegenüber knickte plötzlich die Beine ein und ließ sich, ähnlich einem riesenhaften Hund, der sich für ein Nickerchen bereit macht, auf dem Boden nieder. Den Kopf legte es auf die ausgestreckten Vorderpfoten. Selbst in dieser Position überstieg seine Schulterhöhe die eines kleinen Ponys.

Wieder ging Henri einige Schritte rückwärts.

Die Saphiraugen des Wesens ließen ihn dabei keinen Moment los.

Er musste den Südturm und damit die rettende Tür fast erreicht haben, traute sich aber nicht, über die Schulter zu blicken, um dem Gargoyle seinen Plan nicht zu offenbaren. Stattdessen blickte er erneut nach oben. Dutzende glühende Augenpaare starrten ihn an. Der kalte Blick der steinernen Ungetüme durchschnitt die beginnende Nacht und tauchte die Galerie in grünes Licht. »Bleib am besten einfach da liegen«, redete Henri weiter, um seine Nerven zu beruhigen. Wer weiß, vielleicht macht er ja, was ich sage? , versuchte Henri sich Mut zuzusprechen. Als er im nächsten Moment das raue Holz des Tors in seinem Rücken spürte, lenkte ihn das von seiner Angst ab. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wie man das Tor öffnen konnte. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er zu dem Gargoyle. »Ich drehe mich jetzt mal ganz kurz um. In Ordnung?«

Statt einer Antwort hob das Wesen nur ruckartig seinen Schädel von den Krallen.

»Das heißt hoffentlich Ja«, murmelte Henri und drehte sich um. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um die gesamte Höhe und Breite der Eingangspforte zu überblicken. »Merde! Wie öffnet man denn dieses Ungetüm?« Nirgendwo war eine Klinke, ein Zug oder eine andere Konstruktion zu erkennen, mit der man das Tor hätte aufbekommen können. Zaghaft sah sich Henri über die Schulter um. Der Gargoyle saß immer noch regungslos da und beobachtete ihn. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Braucht man für dieses Ungetüm von Tor vielleicht ein Ungetüm, um es zu öffnen? »Du weißt nicht zufällig, wie man dieses Ding aufbekommt?«

Jetzt machst du dich aber wirklich lächerlich, Henri , höhnte die böse Stimme in seinem Kopf.

Der steinerne Hundeschädel des Gargoyles bewegte sich. Zum ersten Mal schaute er Henri nicht mehr direkt an, sondern links über ihn hinweg.

Henri folgte dem Blick und entdeckte am äußeren Rand des Tors eine unscheinbare Eisenkette, deren Enden in einem Loch im Gestein verschwanden. Was ist das? Henri beschloss, dies selbst herauszufinden. Mit einem Schritt war er bei der Kette und zog daran. Fast wäre er gestürzt, weil vor ihm das Tor so leichtgängig aufschwang, als hätte der Wind einen Seidenvorhang zur Seite geblasen. Hat mir das Vieh etwa geholfen?

Er hatte nicht vor, das herauszufinden. So schnell es sein verwundetes Bein zuließ, humpelte Henri in den Südturm. »Jetzt muss ich nur noch die purpurne Tür finden und schon bin ich ...« Sein Selbstgespräch verstummte, als er sah, wo er gelandet war. Eine gigantische, von Fackeln schummerig erleuchtete Halle lag vor ihm – komplett in Purpur getaucht. Boden, Wände, Decke: Alles war in demselben Farbton gehalten. Der Lilaton des Marmors war so überwältigend, dass Henri den Blick senken musste. Übelkeit überkam ihn. Es war fast, als wäre er blind, nur dass er statt Schwärze Purpur sah. Ziellos taumelte er in dem riesigen Raum herum und versuchte, seine Schuhspitzen zu betrachten. Dabei entdeckte er in einer der marmornen Bodenplatten einen großen Riss. Welcher Pfuscher hat das denn gemacht? , schoss ihm das Mantra seines Meisters durch den Kopf. Damit hatte er etwas, worauf er sich konzentrieren konnte. Er rekapitulierte in Gedanken, was ihm Perceval über die Bearbeitung von Marmor beigebracht hatte. Es ist ein relativ weicher Stein. Man bearbeitet ihn am besten mit einem Meißel aus Schmiedestahl und einem Eisenfäustel. Schleifen lässt er sich auch gut, weil ... Mit einem Mal hatten seine Augen und sein Kopf die Situation akzeptiert. Er konnte wieder normal sehen. »Puhhh ...«, entwich ihm ein Seufzen.

Der Boden bebte.

Henri drehte sich um, obwohl er wusste, was er dort erblicken würde: Der Gargoyle war ihm gefolgt. »Ist dir langweilig?«

Der Wasserspeier stand auf seinen vier Krallenbeinen und schien sich in der Purpurkammer genauso unwohl zu fühlen wie Henri. Unstet zuckte sein dornenbewehrter Schwanz hin und her.

»Komische Farbe, was? Aber man gewöhnt sich nach einem Augenblick daran. Achte einfach auf die schlampigen Steinarbeiten, dann geht es dir gleich besser«, sprach Henri möglichst ruhig weiter, um sich das Untier gewogen zu halten. »Danke übrigens für deine Hilfe mit dem Tor. Vielleicht könntest du mir auch noch den Ausgang zum Treppenhaus zeigen?«, fragte er mit Hoffnung in der Stimme.

Der Gargoyle klimperte nur mit den Augen, was keine echte Hilfe darstellte.

»Oh. Na ja, selbst ist der Mann.« Henri stellte die Hände in die Hüften. Etwas, das er sofort bereute. Spitze Schmerzenspfeile durchzuckten ihn. Der Sturz hatte offensichtlich nicht nur seinen Kopf lädiert. Erneut wischte er sich Blut aus der Stirn. »Ich kriege das schon hin«, stöhnte er. Mit viel Willensstärke humpelte er auf die nächstgelegene Wand zu. Zur Not klopfe ich hier auf jeden verdammten Stein, um den Ausgang zu finden. Bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, gab sein verletztes Bein unter ihm nach. Mit rudernden Händen versuchte er, den Sturz zu verhindern und nach etwas zu greifen, woran er sich festhalten konnte. Und es gelang ihm. »Ähm ...« Ungläubig starrte er auf den steinernen Rücken, den seine blutige Hand als Stütze gefunden hatte. Der Gargoyle war ihm gefolgt. Jetzt hat er mich. Henris Mund wurde trocken. »Da muss ich mich wohl zum zweiten Mal bei dir bedanken.« Er versuchte sich an einem Zwinkern, unterließ das aber sofort, weil er Angst hatte, den Wasserspeier damit versehentlich zu provozieren. »Du kannst jetzt wieder ein Stück zur Seite gehen. Zwischen dir und der Wand ist es ganz schön eng.« Er lachte falsch.

Zu Henris Überraschung kam der Gargoyle seiner Aufforderung nach und bewegte sich zwei Schritte weg von ihm.

Er blickte auf seine Hand. Sie war leicht mit dem Steinstaub benetzt, den das Wesen bei jeder Bewegung absonderte. Mit seinem Blut hatte sich das feine Pulver zu einer rotgrauen Masse vermengt. Auch auf dem Rücken der Kreatur war ein glänzender kleiner Fleck von Henris Blut zu sehen. »Jetzt habe ich ein bisschen was von dir und du von mir«, versuchte Henri das Wesen weiter ruhig zu halten. »Nicht weiter schlimm. Ich hatte schon oft Steinstaub an den Händen. Ein bisschen Wasser und ’ne gute Wurzelbürste, und dann bekommt man das wieder weg.« Er wischte mit der Hand über seine Hose. »Würde bei dir hoffentlich auch helfen. Obwohl ein Besen vermutlich sinnvoller wäre, um dich sauber zu kriegen.« Henri betrachtete seine Hand. Der Steinstaub klebte noch immer daran.

Der Gargoyle beleckte seinen Rücken. Er war erstaunlich gelenkig.

»Ach so, du kannst das ganz gut selber«, sprach Henri freundlich weiter. Dieses Wesen schien wohl nicht so brutal zu sein wie jenes, das seinen Vater ...

Ein Lichtstrahl aus dem Treppenhaus fiel plötzlich in den dämmerigen Raum. Fremde Stimmen drangen an Henris Ohr.

Dieu merci!

»Ich kann Euch nur bis hierher bringen, junger Marquis Le Puiset. Die Purpurkammer dürft nur Ihr allein betreten.«

»Ist es auch nicht gefährlich?«, fragte eine Kinderstimme.

»Nein, weil Ihr ...«

Gott sei Dank! Das muss die Abordnung der Liaison sein. »Ich bin hier!«, rief Henri. »Lasst mich bitte raus.«

Die hell erleuchteten Silhouetten der Unbekannten erstarrten im halbrunden Rahmen der Purpurpurtür.

Gemurmel brandete auf. Der hochgewachsene Mann und das Kind waren offensichtlich nicht die Einzigen, die sich im Treppenhaus befanden.

Henri war es egal. Er wandte sich an den Gargoyle hinter ihm. »Merci. Es war nett, dich kennenzulernen.« Er atmete erleichtert aus. »In Zukunft werde ich mich wahrscheinlich nur ducken und nicht mehr auf den Boden werfen, wenn ich einen von deiner Art sehe. Ich hoffe, du hast es gut bei dem kleinen Marquis.« Er begann, in Richtung des rettenden Treppenhauses zu humpeln, da ließ ihn eine scharfe Stimme innehalten.

»Was macht dieser Crétin in der Kammer? Sie war heute Nacht meinem Sohn vorbestimmt. Allein seine Anwesenheit besudelt diesen heiligen Ort.«

»Marquis, das ist sicher nur ein Missgeschick, das sich schnell aufklären lassen wird.« Henri erkannte die schmeichelnde Stimme des Domdekans. Ihm gehörte die hoch aufragende Silhouette neben dem Kind.

»Und ob ich gedenke, dies aufzuklären! Alle Chimères-Wächter zu mir!«, befahl der Marquis.

»Zu Euren Diensten, Herr!«, antwortete die Stimme des Offiziers, mit dem Henri vor dem Hauptportal gesprochen hatte.

»Holt jede menschliche Seele aus der Kammer und macht schnell! Ob tot oder lebendig, ist mir egal.«

Henri hielt inne. Tot oder lebendig. Hatte er sich verhört?

»Herr, die Kammer ist nach Sonnenuntergang gefährlich«, dröhnte die tiefe Stimme des Offiziers. »Ihr wisst selbst ...«

»Entweder Ihr und Eure Leute gehen jetzt da rein, oder ich ziehe Euch persönlich das Fell über die Ohren, das schwöre ich.«

Einen Atemzug später erklang das Geräusch schwerer, eisenbeschlagener Stiefel. Etwa ein halbes Dutzend breitschultriger Gestalten schob sich in den Raum. Das metallische Klirren von Waffen begleitete sie.

»Bitte, Monsieur, Ihr braucht keine Gewalt anzuwenden«, rief Henri ängstlich. Wo bin ich da nur hineingeraten? »Ich komme sofort raus, wenn Ihr versprecht, mir kein Leid zu tun.«

»Für wen hält der Bengel sich, dass er wagt, mich direkt anzusprechen?«, schrie der Marquis. Den Chimères-Wächtern rief er zu: »Ich habe übrigens meine Meinung geändert. Es ist mir doch nicht mehr egal, wie ihr mir diesen Burschen bringt. Tötet ihn! Das ist eine gerechte Strafe für die Entweihung der Purpurkammer von Notre-Dame.«

»Aber ... wieso ... ich ...«, stammelte Henri und stolperte rückwärts. War die Purpurtür bisher das Ziel all seiner Bestrebungen gewesen, versuchte er nun so weit wie möglich von ihr wegzukommen. Doch auch der Weg zurück versprach keine Sicherheit. Dort würde er den Gargoyles direkt in die Arme laufen.

»Man kann hier ja gar nichts sehen«, beschwerte sich eine der Wachen.

»Von dem Scheißpurpur überall wird mir ganz schlecht«, keuchte ein anderer.

Willkommen in meiner Welt , dachte Henri, bis ihm einfiel, dass dieser Ort alles andere als seine Welt war. Er wollte nur weg von hier.

»Mehr Licht! Vite, vite!«, befahl der Domdekan.

Augenblicklich wurden Fackeln in den Raum geworfen.

Sie entrissen Henri der schützenden Ummantelung des purpurnen Zwielichts.

»Da ist er!«, rief einer der Wächter.

Henri drehte sich um und versuchte zu laufen. Mehr als ein quälend langsames Humpeln bekam er jedoch nicht zustande.

»Mach es dir und uns doch nicht so schwer, Junge«, brummte der Bewaffnete.

Ich mache es euch so schwer, wie es mir nur möglich ist. Immerhin geht es um mein Leben. Er hielt auf das große Tor zu, hinter dem sich die Galerie des Chimères befand.

»Schnell, bevor er rausgeht. Da wimmelt es nur so von den Viechern.«

Danke für den Hinweis.

Bevor Henri auch nur einen Moment Zeit hatte, sich Hoffnung zu machen, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter. »Hab ich dich!«

»Aua«, beschwerte sich Henri vor Schreck und Schmerz gleichermaßen. Geistesgegenwärtig duckte er sich und entkam so der Umklammerung. Auf allen vieren rettete er sich in einen großen Schattenfleck.

»Der ist schlüpfriger als ein Aal«, beschwerte sich sein verwirrter Angreifer prompt.

»Nehmt die Musketen und schießt auf gut Glück in den Raum. Irgendwann werdet ihr ihn schon treffen!«

»Davon würde ich dringlich abraten, Marquis«, erklang die ölige Stimme des Domdekans. »Wir könnten versehentlich die Chimères treffen und erzürnen.«

»Seid doch nicht so feige, Pfaffe. Uns beiden werden die Beschützer niemals etwas antun«, entgegnete der Marquis großspurig.

»Jetzt aber!«

Grobe Hände umschlossen Henris Arm wie eine Schraubzwinge.

»Wir haben ihn!«

Weitere Soldaten schälten sich aus dem purpurnen Halbdunkel und umringten Henri. Lauernd hielten sie ihre Musketen mit gespannten Hähnen auf ihn gerichtet.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte der Offizier.

»Erschießen, so wie mein Vater es Euch bereits befohlen hat«, erklang die kindliche Stimme.

»Das ist mein Sohn«, lobte der Marquis mit Stolz in der Stimme. »Macht, was er sagt, ich will das endlich hinter mich gebracht wissen, damit mein Junge in Blut und Stein geweiht werden kann.«

»Nein! Ich habe nichts getan ...«

»Hör auf zu jammern! Du bist heute einfach zur falschen Zeit am vollkommen falschen Ort. Nicht schön, aber so laufen die Dinge nun manchmal«, brummte der Offizier sanft. »Schließ die Augen und bete ein Ave-Maria.« An seine Männer gewandt, befahl er: »Legt die Musketen an!«

Fünf silbrige Läufe richteten sich auf Henri. Es kam ihm vor, als würde er in diesem Moment direkt in den Schlund der Hölle blicken. »Bitte!«, flehte er.

»Macht euch bereit!«

»Hilfe!«, schrie Henri. »Warum hilft mir niemand?«

Der Offizier hob die Hand und ließ sie gnadenlos sinken. »Feuer!«

Henri schloss die Augen. Heute sollte einer der glücklichsten Tage meines Lebens werden.

Ohrenbetäubender Lärm und gleißendes Mündungsfeuer.

Aber der tödliche Schmerz, den Henri erwartet hatte, blieb aus.

»Was zum ...«, hörte er stattdessen den Offizier fluchen.

Zaghaft öffnete Henri die Augen. Was ist passiert? Verwirrt starrte er auf eine Sandsteinmauer. Eine Mauer, die sich bewegte.

»Könnt ihr Versager nicht mal einen Jungen aus dem Weg räumen?«, keifte der Marquis.

»Eines der Viecher hat ihn beschützt«, erklang die kleinmütige Entschuldigung des Offiziers.

Jetzt begriff auch Henri, was passiert war. Der Gargoyle hatte seine Flügel schützend über ihn gelegt und so die tödlichen Geschosse aufgehalten. Er hat mir das Leben gerettet. Warum? Er legte die Hand an den Stein. Seine Finger glitten über die raue Oberfläche, so wie sie es während seiner Lehrzeit unzählige Male getan hatten. Doch im Unterschied zu den vielen Steinen, die er in den letzten Jahren berührt hatte, war dieser warm – und bewegte sich unter regelmäßigen Atemzügen auf und ab.

Die Flügel öffneten sich.

Henri blickte direkt auf die Soldaten, die gerade mit langen Stäben ihre Waffen nachluden.

»Schießt!«, kreischte der Marquis.

Die Soldaten legten wieder an. Diesmal auf Henri und den Gargoyle.

Dessen grün leuchtende Augen fixierten die in Purpur gekleideten Wächter.

»Das ist gegen unseren Eid«, zischte einer von ihnen seinen Kameraden zu.

»Wir haben den Eid unserem König geschworen und nicht ihnen«, verbesserte der Offizier seinen Untergebenen. »Und der Marquis ist einer seiner engsten Vertrauten. Tut, was er sagt!«

»Nein, bitte, lasst mich einfach gehen«, versuchte es Henri ein weiteres Mal.

Niemand hörte ihm zu. Stattdessen spannten die Männer erneut die Hähne.

Was dann geschah, passierte so schnell, dass Henris Gehirn es kaum verarbeiten konnte.

Der Gargoyle in seinem Rücken holte mit dem rechten Flügel aus und schlug allen Angreifern gleichzeitig die Waffen aus den Händen. Dann packte er Henri mit dem Maul am Kragen und zog ihn mit beeindruckender Kraft aus der Purpurkammer heraus.

»Sie sind Blut und Stein«, rief der Offizier stöhnend und starrte auf seine zertrümmerten Hände.

»Nein! Das ist unmöglich. Nur ein Angehöriger des zweiten Standes kann Blut für Stein geben. Dieses Exemplar war für meinen Nachfolger vorgesehen«, dröhnte die zornige Stimme des Adligen. »Ohne den Gargoyle ist er nicht legitim!«

Was reden die denn da? Blut und Stein? Nicht legitim? , überschlugen sich in Henris Kopf die Gedanken.

Seinen Beschützer schien all das nicht zu interessieren. Er zerrte ihn zurück auf die Galerie. Feuchtkühler Wind wehte zwischen den steinernen Säulen der Empore hindurch. Paris war dahinter in Dunkelheit versunken. Ein schwarzes Meer voller Inseln aus Licht. Von hier sollte ich es in den Nordturm schaffen. Meister Perceval wird mir helfen, wenn ich ihm erzähle, was der elende Albirich getan hat. Henri versuchte sich aus der steinernen Umklammerung des Gargoyles zu lösen. »Danke für deine Hilfe. Du kannst mich jetzt loslassen. Den Rest schaffe ich allein. Es war alles nur ein Missverständnis.«

Das steinerne Maul des Gargoyles blieb verschlossen.

»He! Hast du mich nicht verstanden?« Henri versuchte es mit Zerren. Aussichtslos. Die Kiefer legten sich nur noch enger um seinen Kragen. »Ich habe gesagt, dass du mich loslassen sollst.« Die Saphiraugen des Gargoyles beleuchteten seinen abgetragenen Überrock und offenbarten trotz der Dunkelheit jedes Staubkorn, das er in einem gefühlt anderen Leben seinem steinernen Fries abgetrotzt hatte. Für einen kurzen Augenblick glaubte Henri sogar, dass diese vom Gargoyle wie Eisen von einem Magneten angezogen wurden. »Bitte!«

Das half. Der Gargoyle entließ ihn aus seiner Umklammerung.

Henri rieb sich den Hals. »Das hätte auch anders ausgehen können. Trotzdem: danke.«

Der Wasserspeier schien ihm nicht zuzuhören, stattdessen legte er den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.

Henri tat es seinem Beschützer nach. An den Außenwänden der beiden Türme hingen Dutzende Gargoyles, die sie mit ihren leuchtenden Augen beobachteten.

Aus der Purpurkammer erschollen Schreie. »Illégitime! Illégitime! ...«

Henri konnte sich auf diesen merkwürdigen Ausruf keinen Reim machen, aber zu seiner Bestürzung die übrigen Gargoyles. In die bisher ruhige Gruppe der Wasserspeier kam plötzlich Bewegung. Sie begannen die Türme herunterzuklettern. Die Ersten von ihnen erreichten kurz darauf den Boden. Wie große Raubtiere kamen sie auf Henri und seinen Beschützer zugeschlichen. »Ähm ... Wollen die etwa zu uns?« So viel dazu, ungesehen wie ein Mäuschen zu verschwinden.

»Illégitime! Illégitime! ...«, dröhnte es weiter aus der Purpurkammer.

Ein Luftzug lenkte Henri ab. Er blickte nach oben. Ein gewaltiger Schattenriss zeichnete sich vor dem trüben Vollmond ab.

Der Neuankömmling landete nur wenige Schritt von Henri entfernt. Auf seinem Rücken saß ein grauhaariger Mann. »Jetzt kannst du was erleben, du elender Bastard. Was glaubst du, wer du bist, dass du meinem Sohn den ihm zustehenden Gargoyle stiehlst«, schrie er.

Die anderen Wasserspeier hielten respektvoll Abstand zu dem Neuankömmling, der größer war als alle, die Henri bisher gesehen hatte. Sein leuchtendes Augenpaar fixierte Henri.

»Töte diese Bastarde, Maxime!«

Warum spricht der Marquis in der Mehrzahl – und mit wem redet er? Henri blickte an sich herunter. Die steinerne Kralle des Gargoyles hatte ihn beschützend umgriffen. Dann verstand er. Sie wollen mich und ihn töten, weil wir beide ... er musste einen Moment in seinem Kopf nach dem Wort suchen, illégitimes sind. Er betrachtete den neu dazugekommenen Gargoyle. Maxime. Sie haben Namen.

Im gleichen Moment griff jener Maxime auch schon an. In einer Geschwindigkeit, die für das menschliche Auge beinahe zu schnell war, schlug er mit den Krallen nach Henri. Nur der übernatürlichen Reaktion seines Beschützers hatte er es zu verdanken, dass ihm mit diesem Schlag nicht der Kopf abgetrennt wurde. Der Gargoyle hatte wieder die steinernen Flügel um ihn gelegt, doch anders als gegen die Gewehrkugeln, waren sie nicht immun gegen die Krallen von seinesgleichen. Vor Henris Augen zerbröselte der feine Stein und breite Kratzspuren klafften auf, durch die Henri in Ausschnitten die Welt außerhalb sehen konnte. Jede Hoffnung auf Rettung, die Henri bis eben noch gehabt hatte, zerstob mit diesem Angriff. Hier komme ich nie wieder raus. Der Marquis und sein riesenhaftes Ungeheuer wollen meinen Tod. Er verbesserte sich. Unseren Tod. Obwohl er Gargoyles hasste und fürchtete, kam es ihm ungerecht vor, dass ein weiterer Unschuldiger wegen Albirichs schändlicher Tat leiden musste.

Als hätte dies auch sein Beschützer verstanden, öffnete er plötzlich die schützenden Flügel.

Er wirft mich den anderen zum Fraß vor, um seine eigene, steinerne Haut zu retten , war Henri sich in diesem Moment sicher. Er starrte in Maximes grüne Augen. Ich werde so aufrecht wie mein Vater sterben , schwor er sich. Das Untier öffnete sein steinernes Maul. Im Innern schien eine grüne Flamme zu lodern. Obwohl Henri ihn noch nie so aus der Nähe gesehen hatte, wusste er doch, was der Rayon eines Gargoyles anrichten konnte. Gegen seinen Willen schloss Henri die Augen, um dem todbringenden Strahl nicht entgegenblicken zu müssen.

Übelkeit und Schwindel überrollten ihn. Sein Magen überschlug sich. Henri riss die Augen auf. Ich fliege. Nein , verbesserte er sich. Ich falle. Rasend schnell schoss der Vorplatz von Notre-Dame auf ihn zu. Zum zweiten Mal am Tag hat man mich über eine Brüstung geworfen .

»Uff!« Mit gespreizten Beinen schlug er auf etwas auf. Seine Weichteile explodierten fast vor Schmerzen. Doch das konnte er aushalten, denn alles war besser, als auf dem Erdboden zu zerschmettern. Er saß rücklings auf dem fliegenden Gargoyle. Das Wesen schlug mit seinen mächtigen Schwingen und schraubte sich höher und höher. Er rettet mich. Schon wieder. Vielleicht hat mich das Glück doch noch nicht ganz verlassen. Henri revidierte diese Einschätzung augenblicklich, als er das grüne Augenpaar entdeckte, das von Notre-Dame in ihre Richtung aufstieg. Sie werden uns nicht gehen lassen.