1. Mai 1789, Provinz Normandie, Königreich Frankreich
Bevor Catia durch die Tür zurück ins Herrenhaus trat, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Niemand durfte jemals erfahren, was sie beinahe getan hätte. Durchgebrannt! Allein das Wort kam ihr jetzt lächerlich vor. Ihr Atem ging keuchend. Unter Scham, Eifersucht und Zorn war sie den gesamten Weg vom Dorf gerannt. Die Weißdornhecke und der schlammige Boden hatten auf dieser Flucht ganze Arbeit geleistet. Ihr Lieblingskleid war beschmiert und nun an mehreren Stellen zerrissen. Selbst Magali würde es nicht mehr retten können. Catia war es egal. Ihr war alles egal. Sie hatte Bastien verloren. Endgültig. Er wird Jolie heiraten. Bei dem Gedanken an die beiden wollten die Tränen wieder hervorquellen. Um das zu verhindern, schlug sie mit der Faust so heftig gegen die Tür, dass davon auch die letzten Farbreste abplatzten.
Die Tür wurde aufgerissen und Magalis faltiges Gesicht erschien im Rahmen. »Wer wagt es, so heftig gegen die ...« Sie hielt mitten im Satz inne. »Oh, Ihr seid es. Kommt doch herein.« Magali steckte den Kopf heraus. »Schnell, es wird gleich regnen.«
Kurz darauf klatschten die ersten Tropfen auf die Stufen der großen, bröckeligen Freitreppe. Catia schien es, als würde das Wetter dieses Tages ihre Gemütsverfassung widerspiegeln. Morgens sonnig und fröhlich. Zum Abend hin grau und traurig. Willenlos ließ sie sich von Magali ins Haus führen.
Magali betrachtete Catia im Schein der wenigen Kerzen, die man in der großen Eingangshalle entzündet hatte, mit tadelndem Blick. »Da müssen wir Euch wohl noch einmal herrichten, bevor Ihr Eurem Vater unter die Augen kommt.«
»Mon père?« Mit ungläubig hochgezogenen Augenbrauen blickte sie die Dienerin fragend an.
Die schenkte ihr jenes gütige Lächeln, das Catia bereits als Kind so oft aufgebaut hatte. »Ja, er ist in seinen Gemächern und macht sich für Euer gemeinsames Abendessen fertig. Ich habe ihn sogar pfeifen hören.« Die alte Frau kicherte verschmitzt. »Schnell, er soll Euch doch so nicht sehen.«
Tatsächlich saß Catias Vater an diesem Abend im kleinen Salon am kerzenbeschienenen Tisch, auf dem die Köchin zur Feier des Tages ein weißes Tischtuch ausgebreitet hatte. Rousel d’Argenton hatte sich herausgeputzt wie zu seinen besten Zeiten. Über dem lindgrünen Rock trug er ein breites, farbenfroh besticktes Bandelier, an dem er seinen Degen befestigt hatte. Den Rock selbst schmückte das Abzeichen des Saint-Louis-Ordens: ein weiß umrandetes Malteserkreuz mit Lilien in den Kreuzungsarmen, das an einer roten Bandrosette hing. Catia fühlte sich geehrt. Nur zu sehr festlichen Anlässen holte ihr Vater dieses Ehrenzeichen hervor. Der von Louis XIV. gestiftete Orden des Heiligen Louis war der älteste Verdienstorden im Königreich. Nur 99 Ritter gehörten ihm an. Rousel d’Argenton war einer von ihnen.
»Ihr seht wunderbar aus, Mademoiselle.« Er stand auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Hand. »Gewährt Ihr mir die Ehre, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten, Freiin?«
Catia verdrehte die Augen und lachte. Sie liebte es, wenn ihr Vater nach der Sitte bei Hof mit ihr sprach. »Selbstverständlich, aber die Ehre liegt ganz bei mir, oh edler Chevalier«, stieg sie in das Spiel ein.
Elegant zog ihr Vater einen der vielen Stühle hervor und vollführte eine einladende Handbewegung. »Voilà, mademoiselle, asseyez-vous.«
»Merci«, bedankte sich Catia und glitt damenhaft auf das Sitzmöbel.
Ihr Vater warf seine Rockschöße in die Luft, etwas, das sie als Kind immer zum Lachen gebracht hatte, und setzte sich ebenfalls. »Pauline.« Er klingelte mit einem winzigen Silberglöckchen, das man wohl bei der letzten Verkaufsaktion ihres Bestands übersehen hatte.
»Oui, monseigneur«, antwortete die Köchin und deutete einen kleinen Knicks an. Auch sie trug ihre besten Kleider.
So viel Etikette gab es schon lange nicht mehr im Hause d’Argenton , freute sich Catia und lächelte.
»Wir wären bereit für das Essen.«
Diensteifrig verschwand Pauline wieder in der Küche.
Mit einem breiten Grinsen betrachtete Catia ihren Vater. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie ihn für einen vollkommen anderen Menschen halten können als heute Morgen. Selbstbewusst. Witzig. Charmant. Genau der Mann, in den sich ihre Mutter einst verliebt hatte. Sie blickte zu dem großen Gemälde, das ihre lächelnde Maman für die Ewigkeit festhielt, und dann zu ihrem Vater.
»Was schaust du mich so entgeistert an?«, fragte er sie mit einem Augenzwinkern. »Gefalle ich dir etwa nicht?«
»Doch natürlich, du siehst wunderbar aus, Papa.«
»Ihr hätte es auch gefallen.« Er nickte in Richtung des Wandgemäldes. Kurz huschte ein Schatten über sein Gesicht. Aber schnell wischte ihn ein Grinsen davon. »Was hast du heute Schönes erlebt? Magali hat mir verraten, dass du unsere Familiengüter inspiziert hast.«
Catia wurde durch diese Frage augenblicklich wieder von ihren Gefühlen überrollt. Ein gequältes Seufzen entwich ihr.
»Was ist los? Hat einer der Bauernlümmel dich etwa nicht mit dem dir zustehenden Respekt behandelt?«
»Ich ...« Catia fehlten schlicht die Worte. Was hätte sie ihrem Vater schon sagen können? Dass sie vorgehabt hatte, mit einem jener Bauernlümmel durchzubrennen und ihn hier allein zu lassen?
»Komm schon, ich bin es.« Er rollte übertrieben mit den Augen.
Catia holte tief Luft. Zumindest ein Teil der Wahrheit musste heraus, um den anderen zu verbergen. »Ich habe heute Furchtbares erlebt.« Sie berichtete von den Steuereintreibern und ihrem Vorgehen. Bastiens Name erwähnte sie kein einziges Mal.
»Es ist eine Schande, was dem braven Léandre und seiner Familie passiert ist. Das System der Steuereintreiber ist korrupt bis ins Mark.« Resigniert wischte sich Rousel d’Argenton über seinen fein getrimmten Spitzbart. »Die Krone ist durch die immensen Kosten der opulenten Hofhaltung und die vielen Kriege in Übersee so verschuldet, dass das Reich vor einem Staatsbankrott steht. Louis XVI. ist inzwischen fast alles recht, was ihm Geld in die Steuerkasse bringt. Es mag ehrenhaft gewesen sein, den Kolonisten in Amerika gegen unseren Erzfeind England beizustehen, damit sie eine eigene Nation gründen konnten, aber finanziell war das eine Katastrophe. Die Schulden der Krone sollen so hoch sein, dass kaum noch die Zinsen bedient werden können, geschweige denn an Rückzahlung zu denken ist. Ich werde sehen, was ich für den armen Léandre tun kann. Am Ende lässt sich so etwas immer mit Geld lösen, denn nur darum geht es ja schlussendlich. Allerdings ist dies etwas, das wir auch nicht gerade im Überfluss besitzen.«
Pauline kam mit der Vorspeise. Eine kräftige Rinderbrühe mit Frühlingsgemüse.
»Das ist ungerecht.«
»Ja«, stimmte ihr Vater Catia zu und pustete in seine dampfende Suppe, »das ist es. Frankreichs Steuersystem ist an Ungerechtigkeit nicht zu übertreffen.«
»Warum reformiert man es dann nicht? Wäre es denn nicht gerecht, wenn alle Stände Steuern zahlen müssten und nicht nur der dritte Stand? Wir zum Beispiel zahlen gar nichts. Andere Adelshäuser, die viel reicher als wir sind, ebenfalls nicht. Und denk nur an die fetten Pfaffen und ihre vor Gold und Edelsteinen strotzenden Kirchen und Klöster, auch sie sind von den Steuern befreit. Der König könnte seine Schulden vermutlich mit einem Schlag begleichen, wenn jeder Mann in Frankreich Steuern bezahlen müsste.«
Schlürfend sog ihr Vater den ersten Löffel Suppe ein und verzog das Gesicht. »Maudit!«, entfuhr es ihm. »Verflucht, die Suppe ist heiß.« Nachdem er seinen brennenden Mund mit einem Schluck Rotwein beruhigt hatte, griff er den Faden ihres Gesprächs wieder auf. »Was du sagst, ist alles richtig, mein Kind, und es wurden auch schon viele Versuche unternommen, dieses System zu ändern. Leider haben nur diejenigen, die keine Steuern zahlen, die Macht, dieses System anzupassen, während diejenigen, die löhnen, keinen politischen Einfluss haben. Es ist ein bisschen so, als ob die Schafe die Wölfe darüber abstimmen lassen würden, ob sie zukünftig nicht mehr nur Gras fressen wollen.«
Resigniert seufzte Catia. »Bedeutet das etwa, dass sich niemals etwas ändern wird?«
Ihr Vater zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Nein, das bedeutet es nicht. Der König hat verstanden, dass er auf dem herkömmlichen Weg nichts mehr erreichen kann. Die Abgaben und Steuerlasten für den dritten Stand sind inzwischen auf ein kaum noch erträgliches Maß gestiegen. Mehr ist dort schlicht nicht zu holen. Dennoch braucht Louis dringend mehr Geld, und das gibt es eben nur bei den anderen beiden Ständen. Um das durchzusetzen, soll diesmal seine Reform des Steuersystems vom ganzen Volk abgesegnet werden.«
»Vom ganzen Volk? Du meinst, er fragt uns alle?«
»Nicht ganz. Sondern er hat Anfang dieses Jahres zum ersten Mal seit 175 Jahren die Generalständeversammlung einberufen lassen. Klerus, Adel und Vertreter des dritten Standes werden schon bald in Paris zusammenkommen, um über die Reformvorschläge des königlichen Finanzministers Necker abzustimmen.«
»Die ersten beiden Stände werden den dritten doch ohnehin wieder überstimmen. Zwei zu eins.« Sie stellte das Mengenverhältnis mit ihren Fingern nach.
Ihr Vater kicherte listig. »Klerus und Adel schicken jeweils dreihundert Vertreter. Der dritte Stand aber sechshundert.«
»Dann könnte sich also tatsächlich etwas ändern?«
Der Chevalier zuckte mit den Schultern. »Falls man eine Abstimmung nach Köpfen und nicht nach Ständen zulässt, aber das ist noch nicht entschieden. In jedem Fall erhält der dritte Stand dadurch eine vernehmbare Stimme und kann seine Sorgen und Probleme vor dem König ausbreiten. Das ist immerhin etwas.«
Bastiens Vater hilft solch ein Gerede nicht .
Pauline trug ab und servierte den Hauptgang: Rinderbraten mit gedünsteten Möhren und selbst gebackenem Brot. Catia liebte die dicke, braune Soße, die die Köchin dazu zauberte.
»Ich freue mich, dass du dich so für Politik interessierst«, lobte ihr Vater Catia und steckte sich ein mit Soße überzogenes Brotstück in den Mund. »Es ist eine Schande, dass du nicht studieren kannst ...«
»Schon gut, Vater!«, beschwichtigte Catia. »Ich weiß, du hast alles versucht.«
»Fürwahr«, raunte der Chevalier, »aber es stehen dir andere Wege offen, damit du diese Welt ein wenig verändern kannst.« Er trank noch mehr Wein.
Oh , dachte Catia, er schüttet ihn ja regelrecht in sich hinein. Normalerweise machte sich ihr Vater nicht übermäßig viel aus Alkohol und trank seinen Wein, so wie die Kinder, mit Wasser verdünnt.
»Auch Frauen können viel bewirken, wenn sie mit der entsprechenden ...« Er schob sich ein Stück Fleisch in den Mund, wohl, um nach dem richtigen Wort suchen zu können. »… der richtigen Macht ausgestattet sind.«
»Wie meinst du das?« Verwirrt ließ Catia ihre volle Gabel sinken.
»Nun, mit dem richtigen Mann an ihrer Seite kann auch eine Frau vieles erreichen.«
Am liebsten hätte Catia den Weinkelch nach ihrem Vater geworfen, aber sie verstand, dass er es nur gut mit ihr meinte – und seine Worte schlicht die Realität beschrieben. »Wenn du meinst ...«
»Ja, das tue ich. In den letzten Wochen habe ich viel mit einem alten Freund korrespondiert. Vicomte Bellême. Vielleicht erinnerst du dich an ihn? Er war vor einigen Jahren einmal Gast in unserem Haus, als es noch nicht so ...«
»Ja, ich erinnere mich«, ging Catia dazwischen. Vicomte Bellême war ihr als glatzköpfiger Herr in Erinnerung geblieben, dem ganze Büschel grauer Haare aus Ohren und Nase wucherten und der selbst zu den besten Zeiten der Familie d’Argenton auf sie herabgesehen hatte.
»Nun, der Vicomte hat drei Söhne. Der jüngste heißt Frédéric. Ein ...
Darauf will er also hinaus. »Sag lieber gleich, was du von mir willst, Vater!«, forderte sie barsch. Der Tag sollte offensichtlich noch düsterer werden, als er ohnehin schon war.
»Der Nachtisch, die Herrschaften«, trällerte Pauline.
»Nein, jetzt nicht!«, herrschte der Chevalier seine Köchin an. Traurig wandte er sich an Catia. »Ich konnte den Vicomte dazu überreden, dass er einer Verbindung von dir und Frédéric zustimmt. Der Junge wird zwar nicht den Titel seines Vaters erben, aber er ist dennoch eine gute Partie. Mit ihm an deiner Seite wird es dir in Zukunft an nichts fehlen. Und wer weiß«, er schenkte ihr ein schwaches Lächeln, »vielleicht kannst du als Madame Bellême sogar die Welt ein wenig gerechter gestalten.«
Eltern sind alle gleich. Vollkommen egal, welchem Stand sie entstammen.
Bevor Catia zu einer Antwort ansetzen konnte, von der sie in diesem Moment noch nicht einmal ahnte, wie sie ausfallen würde, unterbrach ein heftiges Pochen die angespannte Situation.
Vater und Tochter sahen sich fragend in die Augen.
Einen Augenblick später erklang Magalis Altfrauenstimme: »Was erlaubt Ihr Euch? Ihr könnt hier nicht einfach hereintrampeln, mit euren dreckigen Sabots und ...«
»Doch, können wir. Wir wollen dem Chevalier etwas übergeben!«, entgegnete eine tiefe Männerstimme.
Rousel d’Argenton sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umfiel. Die rechte Hand hatte er um den Griff seines Degens gelegt. »Bleib du hier! Ich kläre das.« Mit wehenden Rockschößen lief er in Richtung der Eingangshalle.
»Ich denke ja nicht mal daran«, murmelte Catia und folgte ihrem Vater.
In der Vorhalle wartete etwa ein Dutzend aufgebrachter Männer. Catia erblickte viele bekannte Gesichter. Das des alten Ote war darunter und auch Jolies Vater. Bastien konnte sie nicht entdecken. Ob sie gekommen sind, um Hilfe für Léandre zu erbitten? Catia war fest entschlossen, die Dorfbewohner bei diesem Ansinnen zu unterstützen.
Das Gemurmel der Eindringlinge verstummte, als sie den Chevalier erblickten. Mit all der Würde, die noch in ihm steckte, fragte Catias Vater: »Was soll denn dieser Auftritt? Wieso kommt ihr ungefragt in mein Haus? Wisst ihr denn nicht, dass ich jederzeit zu sprechen bin, wenn man mich darum bittet? Warum musstet ihr die brave Magali so erschrecken?«
Die Dienerin hatte die Hände angriffslustig in die Hüften gestellt und funkelte die ungebetenen Gäste wütend an.
»Außerdem habt ihr mich bei einem Diner mit meiner entzückenden Tochter gestört, für die ich normalerweise viel zu wenig Zeit habe.« Er zwinkerte Catia kumpelhaft zu. Die kam dennoch nicht umhin zu bemerken, dass er weiter seine Waffe umklammerte.
Die Worte machten Eindruck. Entschuldigungen wurden gemurmelt, Hüte abgenommen und beschämt in den Händen geknetet.
Catia war erstaunt. In ihrem Vater schlummerte offenbar noch immer so vieles, was er in den letzten Jahren versteckt oder vergessen hatte. Vielleicht konnte dieser Abend ein Wendepunkt werden. Chevalier d’Argenton – auferstanden von den Toten.
»Also gut, dann will ich diesen kleinen Aufruhr hier einmal vergessen«, gab sich Catias Vater großzügig. »Geht jetzt!«, fuhr er fort und breitete die Arme aus, wie um die Eindringlinge eigenhändig aus der Tür zu schieben.
Wie willfährige Schafe kamen die Männer dieser Aufforderung nach, bis einer von ihnen schrie: »Er will sich nicht einmal anhören, was wir zu sagen haben. Er ist genauso wie all die anderen Adligen, das habe ich euch doch gesagt.« Die Gruppe kam ins Stocken und blieb dann stehen. Nur etwa die Hälfte von ihnen hatte das Haus verlassen.
Catias Vater kniff konzentriert die Augen zusammen. Feine Linien an seinen Augenwinkeln kamen zum Vorschein. »Was ist denn so wichtig, dass es nicht bis zum Morgen warten kann?« Die Stimme des Chevaliers hatte an Schärfe gewonnen. Er konnte nicht mehr verbergen, dass ihn der Auftritt der Bauern erzürnte.
Der Schreihals, ein hagerer Mann, der seine Kameraden um einen Kopf überragte und dessen Haupt leuchtend rotes Haar zierte, kam aus der Gruppe hervor. Catia kannte ihn nur flüchtig. Ein bekannter Trinker und Unruhestifter, der von vielen im Dorf gemieden wurde. In seinen Händen hielt er einen Packen zerknittertes Papier.
Was ist das? , fragte sich Catia.
»Das ist das Beschwerdeheft unserer Region«, erklärte der Mann. »Wir haben darin Dinge gesammelt, die wir vor die Generalständeversammlung bringen wollen.«
Fordernd streckte Catias Vater die Hand aus – es war jene, die er bisher um den Degen gelegt hatte.
Beinahe widerwillig reichte der Rothaarige ihm die Papiere.
Murmelnd las der Chevalier: »1. Wir fordern, dass alle Steuern von den drei Ständen gezahlt werden. 2. Die gleichen Gesetze für alle im gesamten Königreich. 3. Die Abschaffung jeder Art von Zwangsabgaben. 4. Keine unentgeltlichen Frondienste mehr. 5. Freie Jagd für jedermann ...«
Trotz ihres unbotmäßigen Auftritts musste Catia den Männern zustimmen. Was sie forderten, war nur recht und billig. Alle Menschen sollten gleichbehandelt werden. Sie war sich sicher, dass ihr Vater das auch so sehen würde.
Rousel d’Argenton verstummte und blickte die Männer streng an. »Bringe ich dies hier vor die Generalstände und damit vor den König, wird man mich einen Verräter an meinem eigenen Stand schimpfen. Was ihr hier fordert, ist das Ende von allem, worauf Frankreich seit Jahrhunderten basiert.«
Catia traute ihren Ohren nicht. Oder hatte sie sich einfach etwas vorgemacht? Taugte ihr Vater in seinem Alter schlicht nicht mehr zum Reformer?
»Solche Forderungen müssen vorsichtiger formuliert werden, wenn ihr etwas erreichen wollt«, fuhr er in sanfterem Tonfall fort. »Politik ist ein komplizierter Tanz. Lasst uns morgen früh darüber reden, was ich für euch tun kann, um ...«
»Er weigert sich sogar, unsere Forderungen auch nur vorzutragen«, fiel der Rothaarige Catias Vater ins Wort.
Das stimmt doch so gar nicht.
Unruhe kam in die Gruppe. Wer schon draußen stand, drängte wieder herein.
Jetzt bemerkte Catia, dass einige von ihnen mit Forken und Sensen bewaffnet waren. Ein kalter Klumpen Furcht bildete sich in ihrem Magen.
Der Rothaarige wollte ihrem Vater das Beschwerdeheft aus der Hand reißen.
Der zuckte erschreckt zurück.
»Gib es mir wieder!«, schrie der Mann.
»Er will es nicht zurückgeben«, keifte Jolies Vater, dessen Kopf die Farbe einer überreifen Kirsche angenommen hatte.
»Geht jetzt!«, versuchte sich der Chevalier Gehör zu verschaffen.
Vergeblich. Die Männer waren jetzt außer Rand und Band. Einer von ihnen holte plötzlich aus und schlug Catias Vater mit der Faust ins Gesicht.
»Vater!«
Rousel taumelte rückwärts. »Wie könnt ihr es wagen?« Er zog seinen Degen.
»Wie kannst du es wagen, adliger Schnösel?«, rief der Schläger.
Der Chevalier erhob drohend seine Waffe. »Verlasst sofort mein Haus.«
»Sonst was?«, höhnte der Rothaarige, zog hinten aus dem Gürtel einen Dolch hervor und richtete ihn auf Catias Vater.
Der blickte kurz zu seiner Tochter. »Geh mit Magali! Sofort!« An die Dienerin gewandt, rief er: »Du weißt, was zu tun ist.«
Die alte Frau nickte und packte Catia am Unterarm. Ihr Griff war erstaunlich fest, dennoch stemmte sich Catia dagegen, von ihrem Vater fortgebracht zu werden.
»Die Adelsschlampe will sich aus dem Staub machen, um uns zu verraten«, brüllte Vincent, der Schafhirte, mit dem Catia als Kind oft zusammen gespielt hatte und dessen Gemüt normalerweise so ausgeglichen war wie das der Tiere, auf die er zu achten hatte.
»Sprich nie wieder so über meine Tochter!« In einem eleganten Streich ließ Catias Vater seinen Degen über das Gesicht des Hirten fahren. Der Angriff hinterließ einen blutroten Striemen.
»Komm, Kind«, drängte Magali.
»Der will mich umbringen!«, brüllte Vincent und schlug gepeinigt die Hände vors Gesicht.
Das war der Funken, der das Pulverfass endgültig entzündete. Die Männer bedrängten jetzt Catias Vater, der mit erhobenem Degen langsam rückwärtsging. »Mörder! Unterdrücker!«
Jolies Vater holte zu einem weiteren Schlag aus.
Spielend parierte Rousel den Angriff und zeichnete auch den Müller mit einem roten Mal.
»Er will uns alle umbringen«, jammerte der Angreifer.
»Wir werden uns nicht länger wie Vieh behandeln lassen!«, erscholl ein vielstimmiger Ruf.
Der Chevalier blickte hektisch in alle Richtungen. In der Aufregung stolperte er plötzlich über einen Teppichrand und wankte. Die Gruppe der Bauern schloss sich wie eine Faust um ihn.
Catia musste sich auf Zehenspitzen stellen, um über ihre Köpfe hinwegblicken zu können. »Papa!«, kreischte sie. »Lasst ihn in Ruhe!«
Plötzlich schoss eine Klinge hervor. Mit einem widerlichen Schmatzen bohrte sie sich in ihres Vaters Bauch.
Mit verzerrtem Gesicht zischte er Catia zu: »Geh, sofort!«
Die Meute hatte Blut geleckt und wollte mehr davon. Eine weitere Waffe grub sich in den Körper ihres Vaters. Seine Kleidung verfärbte sich dunkelrot. Rousel sank auf die Knie. Dennoch hielt er seinen Blick auf Catia gerichtet. »Bitte!«
Catia ließ sich von Magali in die Küche ziehen. Pauline war offensichtlich schlau genug gewesen, längst zu fliehen.
»Wir müssen zu den Ställen.«
Die Pferde waren überraschenderweise gesattelt.
Auf Catias fragenden Blick erklärte Magali. »Er wollte mit Euch einen Mitternachtsausritt über die Felder machen, wie Ihr es früher so gern getan habt. Wir haben Vollmond.«
Das werden wir nie wieder machen. Diese Erkenntnis traf Catia wie ein Faustschlag. Sie übergab sich ins Stroh.
Irgendwo hinter ihnen zersplitterte eine Tür. »Wo sind die Schlampen?«
»Wir müssen jetzt los! Steig auf!« Magali zeigte auf Marengo. Kraftlos zog sich Catia auf den Hengst ihres Vaters.
Magali gab dem Tier einen kräftigen Klaps auf die Flanke und schon flog es mit Catia in die Nacht hinaus.
Catia blickte über die Schulter zurück. Magali folgte ihr auf ihrer Stute. Hinter der Dienerin verging Catias Welt endgültig. Die Aufrührer hatten Feuer im Gutshaus gelegt. Das Untergeschoss brannte bereits lichterloh. Ich habe nun weder eine Familie noch ein Zuhause.