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Die Gebeine unter der Stadt

Die Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1789, Paris, Königreich Frankreich

Panisch suchte Henri nach einer Möglichkeit, um sich am Leib der fliegenden Steinkreatur festzuhalten, die mit ihm durch die Nacht raste. Der Gargoyle war in halsbrecherischem Zickzack mit ihm über die Stadt geflogen, um den Marquis und seinen Wasserspeier abzuhängen. Mehr als einmal wäre Henri dabei allerdings fast von seinem Rücken gefallen. Der Hals des Wesens war zu dick, als dass er ihn hätte umfassen können, und sich an den Ohren festzukrallen, wagte er nicht. Er hatte keine Vorstellung davon, was ein Wesen, das gänzlich aus Stein bestand, spüren konnte, aber in keinem Fall wollte er es reizen. Deswegen beschränkte er sich darauf, seine Schenkel zusammenzupressen und sich klein zu machen. Kein besonders guter Plan, wie sich alsbald herausstellte.

Ein grünlicher Strahl streifte den Gargoyle. Ein Zittern ging daraufhin durch den massigen Körper. Henris Beschützer kippte jäh zur Seite und trudelte unkontrolliert gen Boden.

»Was zuuuuum ...« Henri brachte den Fluch nicht zu Ende. Vielmehr verwandelte der sich in einen gellenden Schrei, als er ebenfalls in die Nacht stürzte. Ungebremst schoss er auf ein weiteres Paar leuchtender Augen zu. Maxime.

Der Gargoyle des Marquis öffnete triumphierend sein steinernes Maul, auf das Henri direkt zustürzte.

Seinen Beschützer hatte er längst aus den Augen verloren. Zeit, mir selbst zu helfen. Gegen alle Vernunft versuchte Henri mit den Armen zu rudern, um seinen Fall aufzuhalten.

»Schau dir diesen Idioten an, Maxime«, höhnte der Marquis, der wie ein Feldherr auf seinem Ross auf dem Rücken des Wasserspeiers thronte.

Henri konnte sich in diesem Moment nicht entscheiden, welche Form des Sterbens ihm in diesem Moment die liebste wäre: zerschmettert auf den Straßen von Paris oder zerfetzt im Schlund dieses Monsters. Ein brennender Schmerz ließ in ihm die Hoffnung aufkeimen, dass keines von beidem sein Schicksal sein würde. »Oh, da bist du ja wieder!«, begrüßte er seinen Gargoyle.

Das steinerne Wesen hatte ihn mit den riesenhaften Pfoten am Rücken gepackt und Henris Sturz damit abrupt gebremst.

»Danke«, keuchte der und tätschelte unbeholfen die Steintatze des Wesens. »Wenn du es jetzt noch schaffst, mir nicht die Wirbelsäule herauszureißen …«

Maxime war mit dieser Entwicklung augenscheinlich ganz und gar nicht zufrieden. Sein Maul begann grün zu leuchten und im nächsten Moment schoss daraus ein weiterer Rayon auf Henri zu.

Dessen Gargoyle flog eine steile Linkskurve, um der Gefahr zu entgehen.

Wirkungslos schlug der Strahl in einen Kirchturm ein. Zu Henris Verblüffung zerpulverte er die Spitze nicht zu Staub. Lediglich einige auf dem Dachfirst schlafende Tauben wurden in einer Wolke aus Blut und Federn vernichtet.

Zerstört der Strahl nur lebendes Gewebe? , überlegte Henri so fasziniert wie angstvoll. Der Gedankengang wurde von den furchtbaren Schmerzen in seinem Rücken verdrängt. Die Krallen des Gargoyles bohrten sich immer tiefer in seine Haut und die abrupten Flugmanöver des Wesens taten ihr Übriges dazu, dass diese Rettungstat in einer Katastrophe enden würde.

Ein weiterer Strahl zischte knapp an ihnen vorbei.

Henri wurde in den Fängen des Gargoyles wie eine Puppe hin und her geschleudert. »Bitte«, keuchte er. »Mein Rücken ... es tut so weh ... ich bin nicht aus Stein. Ich wünschte, du könntest mich anders festhalten.« Im nächsten Moment war der Schmerz verschwunden. Ein wunderbares Gefühl, das Henri auf einer Woge der Glückseligkeit schwimmen ließ – bis zu dem Augenblick, als er begriff, dass der Wasserspeier ihn einfach losgelassen hatte. »So war das aber nicht gemeint!«, schrie er und blickte panisch nach oben.

Ein weiterer Strahl schoss durch die Nacht. Diesmal allerdings aus der anderen Richtung. Er traf den auf dem Rücken des Gargoyles sitzenden Marquis mitten in die Brust. Augenblicklich hielten Maximes Schwingen in der Bewegung inne. Seine grünen Augen erloschen. Schlingernd trudelte das mächtige Wesen unkontrolliert in Richtung Erde.

»Gut gemacht«, jubelte Henri im Fallen. Im nächsten Augenblick schlug er erneut rittlings auf dem Rücken seines Gargoyles auf. »Danke«, keuchte er zum wiederholten Mal an diesem Abend in die steinernen Ohren des Wesens. »Obwohl wir das nicht mehr allzu oft machen sollten, wenn ich mir irgendwann mal Kinder wünsche.«

»Ein Wunsch ist ein gefährlich Ding, nur richtig ausgesprochen ergibt er Sinn.«

»Hä? Was für ein Ding ergibt Sinn?« Henri kratzte sich verwirrt am Hinterkopf. Hatte er sich diesen komischen Reim in seiner Angst eingebildet oder wirklich gehört? Egal! Er suchte den Boden nach Maxime und dem Marquis ab. Schließlich entdeckte er sie. Der Gargoyle lag zerschmettert unter ihm. Ist er versteinert, weil der Strahl seinen Reiter getötet hat? , überlegte er.

»Des Fleisches Ende bringt auch für den Stein eine tödliche Wende.«

Wieder diese Stimme in Henris Kopf, gepaart mit dem Gefühl großer Trauer, die sich auf Henri übertrug. Wegen mir ist gerade ein Mensch gestorben . Doch er hatte keine Zeit für Schuldgefühle. Weitere Gargoyles hatten sie entdeckt. Ein halbes Dutzend leuchtend grüner Augenpaare war am Horizont aufgetaucht und jagte mit unnatürlicher Geschwindigkeit über das Häusermeer der schlafenden Stadt. »Wir müssen hier weg«, sprach Henri das Offensichtliche aus.

Als würde sein Gargoyle ihn nicht verstehen, machte der genau das Gegenteil von dem, was Henri vorgeschlagen hatte. Er flog eine scharfe Rechtskurve und wendete.

»Was soll das?« Nun hatte Henri doch die Ohren des Wesens gepackt und hielt sich krampfhaft daran fest. »Die wollen uns umbringen. Uns beide! Merkst du das denn nicht?«

Der Gargoyle sauste unentwegt weiter auf ihre Verfolger zu.

Die rissen bereits ihre Mäuler auf, um sie mit dem Strahl gebührend in Empfang zu nehmen.

Henri schloss die Augen. Was für ein beschissener Tag.

»Ob der Tag tatsächlich beschissen, wirst du am folgenden Morgen wissen.«

Erneut einer dieser furchtbaren Reime.

Ich verliere den Verstand , war sich Henri sicher. Kein Wunder angesichts dessen, was er heute erlebt hatte.

Ein gefährliches grünes Leuchten erhellte die Nacht. Eine Kaskade von Gargoyle-Strahlen schoss auf Henri und seinen vermeintlichen Retter zu. Die regenfeuchten Dächer der Häuser spiegelten den tödlichen Angriff tausendfach wider. So breit gefächert und schnell, dass sie keine Chance haben würden, dem zu entgehen.

»Der Tag ist beschissen, das steht fest!«, schrie Henri in die Nacht und kniff die Augen zu.

Im selben Moment überschlug sich sein Magen. Kurz bevor sie die grünen Strahlen erreichten, tauchte sein Gargoyle abrupt nach unten ab. Mit eng an den Körper gepressten Flügeln schoss er auf den Boden zu. Die Angriffswelle rollte nur wenige Handbreit über sie hinweg. Henri spürte dennoch die Macht der Strahlen. Ein fiebriges Knistern erfüllte die Luft. Sämtliche Härchen an seinem Körper richteten sich auf. Ein durchdringender Geruch nach Feuer, Steinstaub und scharfem Alkohol erfüllte die Luft. Henri krallte sich panisch an den Ohren des Gargoyles fest und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Wie auch immer dieser Tag enden sollte, er wusste bereits eins: Ich hasse das Fliegen. Und Alkohol würde er in Zukunft nie wieder ansehen. Falls ich denn eine Zukunft habe.

Das waghalsige Manöver zahlte sich aus. Die angreifenden Gargoyles schossen über sie hinweg, vermutlich in der Annahme, dass sie mit ihrem Angriff ihr Opfer ausgeschaltet hatten. Vorerst waren sie gerettet. Dennoch war Henri bewusst, dass diese Täuschung nicht lange anhalten würde. Er versuchte, im schwachen Silberlicht des Vollmonds herauszufinden, wo sie sich befanden. Nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Oder doch nicht. Etliche der Dächer unter ihnen lagen höher als die der Umgebung – sie mussten auf einem Hügel stehen. Dahinter lockerte die Bebauung auf. Felder mischten sich zwischen die Häuser. Sie waren eindeutig am Stadtrand. Das ist es! Wir müssen im Süden sein. Vermutlich in Montparnasse. Der Berg mit diesem Namen war nichts weiter als angehäufter Abraum, der übrig geblieben war, als man im Mittelalter begonnen hatte, aus den Tunneln unterhalb von Paris das Baumaterial für die Stadt zu fördern.

Henri wusste von seinem Meister, dass man schon um 1600 versucht hatte, das riesige Tunnellabyrinth aufzufüllen und das Schürfen zu verbieten, beides ohne großen Erfolg. Erst vor wenigen Jahren hatte die Stadtverwaltung damit begonnen, detaillierte Pläne des Tunnelsystems zu erstellen. Dabei hatte sich herausgestellt, dass mehr als dreihundert Meilen an Stollen den gesamten Untergrund von Paris durchzogen. In Teilen der Bevölkerung waren daraufhin Unmut und Panik aufgekommen, zumal immer wieder ganze Straßenzüge einbrachen und Häuser mit ihren Bewohnern in den Schlund der unterirdischen Anlagen gerissen wurden.

Der Gargoyle hielt auf einen kleinen Platz zu. Sein Flügel schien verletzt. Er schlug damit nur noch sehr unrhythmisch und langsam. Glücklicherweise war die Gegend menschenleer. Vermutlich hatten die Bewohner etwas von der Luftschlacht mitbekommen und hielten Henri für einen wütenden Adligen, der einen von ihresgleichen verfolgte und dem man tunlichst aus dem Weg gehen sollte.

Das muss die Place Denfert-Rochereau sein , war sich Henri sicher. In Anbetracht des nahen und vor allem sicheren Bodens entspannte er sich und lockerte den Griff um die Ohren des Gargoyles. Endlich , freute er sich über die Aussicht, gleich wieder festen Boden unter seinen Füßen zu spüren. »Gut gemacht«, lobte er seinen stillen Begleiter und klopfte ihm auf die Flanke.

Doch die ruhige Landung, auf die Henri gehofft hatte, blieb aus. Stattdessen schlug sein Beschützer ungelenk auf dem Boden auf und schlitterte unbeholfen über das Pflaster.

»Ich hasse das Landen noch mehr als das Fliegen!«, schrie Henri panisch.

Bevor er vom Rücken seines Beschützers fiel, legten sich die steinernen Flügel um ihn. Dennoch spürte er den dumpfen Aufschlag, der den Leib des Gargoyles einen Augenblick später erzittern ließ. Schmerzhaft schlug sein Kopf dabei an den steinernen Hals des Gargoyles. »Aua«, jammerte er und rieb sich die Schläfe.

Majestätisch öffneten sich daraufhin die Flügel des Gargoyles und entließen Henri aus ihrem Schutz.

Der hatte mehr als genug von diesem wilden Ritt. Eilends kletterte er vom Rücken des Wasserspeiers. Mit zitternden Händen wischte er sich Schweiß von der Stirn. Er fühlte sich, als hätte er gerade einen kräftezehrenden Wettlauf absolviert. Jeder Muskel seines Körpers war während des Höllenflugs über der Stadt angespannt gewesen. Er empfand brennenden Durst. Vielleicht gibt es hier ja einen öffentlichen Brunnen. Laut schnaufend blickte er sich um. Sie befanden sich zwischen zwei rechteckigen Pavillons, die durch einen hohen Zaun miteinander verbunden waren. Die metallene Konstruktion war unter dem massigen Steinleib des Wesens eingeknickt, als wäre sie aus Schilfgras. Au weia , durchfuhr es Henri bei dem Anblick. Die eisernen Stangen hätten ihn fraglos durchbohrt, wenn der Gargoyle ihn nicht mit seinen Flügeln abgeschirmt hätte. »Da muss ich wohl schon wieder Danke sagen. Wird langsam zur Gewohnheit, was?«, murmelte er und betrachtete den zerstörten Zaun und die Zwillingsgebäude. Jetzt wusste er, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes gelandet waren. »Die Zollhäuser! Das wird den Generalpächtern aber nicht gefallen, mein lieber Gargoyle. Wie sollen sie jetzt denn diejenigen aufhalten, die durch die Barrière d’Enfer nach Paris kommen, um Handel zu treiben? Denk nur an all die guten Zollzahlungen, die unseren Steuereintreibern nun entgehen«, frotzelte er.

Paris war von einer mehrere Meilen langen Mauer mit fünfundfünfzig Eingangstoren umschlossen, von denen eines das Höllentor war. Die Mauer diente allerdings nicht dem militärischen Schutz der Stadt, sondern bildete lediglich eine Abgrenzung zum Umland, um auf diese Weise Zölle von allen Ein- und Ausreisenden erheben zu können.

Der Gargoyle stand auf und schüttelte sich. Schutt und Steinstaub flogen Henri um die Ohren.

»Pass doch auf!«, beschwerte der sich.

Das Wesen ignorierte ihn und stapfte eiligst auf den östlichen der beiden Pavillons zu.

Mit zusammengekniffenen Augen blickte Henri gen Himmel. Noch war von ihren geflügelten Verfolgern nichts zu sehen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die sie entdecken würden. »Warte auf mich!«, rief er und rannte dem Gargoyle hinterher. Auf seinen Stiefeln fiel ihm ein gräuliches Sekret auf, das ihn an frischen Mörtel erinnerte. Als er neben dem Wasserspeier lief, entdeckte er, dass es aus den zahlreichen Wunden des Gargoyles stammte. »Du bist verletzt!«

Ohne jede Reaktion stapfte die Kreatur weiter. Sie hielt auf ein unscheinbares kleines Gebäude zu, das sich direkt an das östliche Zollhäuschen anschloss.

Henri brauchte einen Moment, bis er begriff, wohin das Wesen wollte. »Dort hinein? Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Kannst du am Himmel nicht sicher sein, musst du ins Gewölbe rein.«

»Moment mal, kommen diese komischen Reime etwa von dir? Kannst du mich verstehen?«

Der Gargoyle trat wortlos die Tür ein und verschwand im Innern des Häuschens, über dessen Türrahmen ein stilisierter Totenkopf aus Kupfer hing.

Mit pochendem Herzen folgte Henri. Ein leichter, aber unverkennbarer Fäulnisgeruch empfing ihn, als er über die Schwelle trat. Er stand buchstäblich am Eingang zum Reich der Toten. Der Eingang zu einem dunklen Tunnel klaffte an der gegenüberliegenden Wand. »Die Nekropole«, raunte Henri. Er kannte diesen Ort aus Erzählungen, hatte aber gehofft, ihn zu seinen Lebzeiten nicht betreten zu müssen.

Paris wuchs von Jahr zu Jahr. Mehr Einwohner bedeuteten aber auch mehr Verstorbene, zumal immer wieder Seuchen und Krankheiten wüteten, die Tausende das Leben kosteten. Die Friedhöfe der Stadt waren irgendwann überfüllt gewesen. Die Toten lagen in mehreren Reihen übereinander und wurden oft viel zu früh exhumiert, um anderen Verstorbenen Platz zu machen. In einer Schenke hatte Henri das Gerücht gehört, dass einige Anwohner der Rue de la Lingerie am Leichengestank, der vom nahe gelegenen Cimetière des Innocents herüberwehte, gestorben waren. Daher hatte man vor vier Jahren beschlossen, die Toten nicht mehr auf den überfüllten Friedhöfen zu bestatten, sondern sie auf andere Weise unter die Erde zu bringen. Im April 1786 waren die einstigen Stollen zum städtischen Beinhaus bestimmt worden.

»Die Toten können niemandem mehr etwas zuleide tun«, sprach Henri sich Mut zu, während er im Schlepptau seines Gargoyles immer tiefer in die Tunnel unter der Stadt vordrang.

Der Weg war durch die grünen Augen des Wesens schummrig beleuchtet und schien kein Ende nehmen zu wollen. Henri verlor jedes Zeitgefühl. Hier unten gab es weder Tag noch Nacht. »Mach mal ein bisschen langsamer.« Sein Bein tat vom Sturz immer noch weh und er fror. In den Stollen herrschte eine feuchte Kälte, die den Frühling oben in der Stadt vergessen ließ. Grabeshauch , drang ein beängstigendes Wort in Henris Geist. Die Ereignisse dieses Tages forderten allmählich ihren Tribut. Der Gedanke, sich einfach hinzulegen und zu schlafen, wurde immer verlockender. Keuchend hielt Henri inne und versuchte sich an einer Wand abzustützen, doch seine Hand griff ins Leere. Stattdessen umfasste sie etwas Halbrundes. Henris Herz setzte einen Schlag aus, als er erkannte, dass er einen Totenschädel berührte. Es war einer von unzähligen, die über einem Berg von Knochen aufgeschichtet lagen. Sie hatten das Herz der Nekropole erreicht. Mit zitternden Händen schob er den Schädel vorsichtig zurück. »Entschuldige«, murmelte er dem unbekannten Toten zu. An jeder Wandseite waren Leichen in den unterschiedlichsten Verwesungsgraden aufgeschichtet. Es mussten Tausende, wenn nicht gar Zehntausende sein. Henri hatte das Gefühl, dass sie ihn beobachteten. Übelkeit kam in ihm auf und er musste sich übergeben.

Der Gargoyle blieb stehen und betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf.

»Ich kann nicht mehr«, keuchte Henri und spuckte aus, um den säuerlichen Geschmack in seinem Mund ein wenig loszuwerden. »Es sind nicht nur all die Toten.« Er rollte mit den Schultern und holte tief Luft. »Obwohl die mich schon ziemlich einschüchtern, das will ich nicht verhehlen.« Sein Blick streifte einen zusammengesunkenen Körper, an dessen Schädel noch Reste von gelockten Haaren klebten. »Ich kann enge Räume nicht gut ertragen, seitdem ...« Er räusperte sich. »Ich kann sie eben nicht gut vertragen. Könnten wir nicht wieder fliegen? Das war zwar auch übelkeitserregend, aber nicht ganz so zum Brechen wie das hier.« Zaghaft lächelte er den Gargoyle an.

»Der Himmel bleibt uns verschlossen, solange der Stein zerschossen.«

»Zerschossen? Ich verstehe dein Gereimtes nicht. Kannst du nicht wie ein normaler Mensch reden?«

Der Gargoyle legte seinen Schädel noch schräger.

Henri bemerkte seinen Fehler. »Nicht wie ein Mensch natürlich, sondern einfach wie ein ...« Wie was eigentlich? Wo bin ich da nur hineingeraten, dass ich mich mit einem lebenden Stein unterhalte? Er betrachtete den Gargoyle, dessen unergründliche Augen ihn leuchtend fixierten. Na ja, eigentlich spreche ich ja schon seit Jahren mit Steinen, nur dass keiner von denen mir bisher geantwortet hat. Unwillkürlich musste er grinsen. Der Himmel bleibt uns verschlossen, solange der Stein zerschossen, ließ er sich die Worte durch den Kopf gehen. Um nicht die Leichen zu betrachten, blickte er dabei auf den Boden – und verstand. Natürlich! Wie hatte er nur so dumm sein können. »Du bist verletzt und kannst deswegen nicht fliegen.« Er griff eine Handvoll der mörtelartigen Substanz, die das Wesen absonderte.

Wortlos drehte sich der Gargoyle um und stapfte weiter den beständig abwärtsführenden Stollen entlang.

Henri versuchte, neben ihm herzulaufen, aber der Schacht war zu eng, sodass er hinter ihm bleiben musste.

Der Gargoyle bog scheinbar planlos von einem Gang in den nächsten. Henri hatte längst jede Orientierung verloren. Ohne ihn komme ich hier nie wieder raus , war er sich sicher. Was ist, wenn er stirbt? Dass das möglich war, hatte er ja gerade erst in der Luft gesehen. Stirbt der Mensch, dann stirbt der Gargoyle , begriff er. Ob es umgekehrt genauso ist?

Schließlich erreichten sie einen großen, ovalen Raum, dessen Wände bis zur Decke von Gebeinen verdeckt waren. Eine Sackgasse in dem Tunnelgewirr. Der Gargoyle ließ sich auf alle viere nieder, legte seinen langen Schädel auf den Boden und schloss die Augen.

»Ähm ...«, begann Henri unsicher. »Und hier bleiben wir jetzt?« Er wollte sich umsehen, doch ohne die leuchtenden Augen seines Begleiters war die Welt um ihn herum dunkel geworden. Tastend versuchte er sich zu orientieren und stolperte prompt über den Schwanz des Gargoyles.

Durch den Leib des Wesens ging eine ungeduldige Vibration.

»’tschuldigung«, murmelte Henri und rieb sich den Ellenbogen, auf dem er gelandet war.

Behäbig öffnete sein Begleiter die Augen und sofort wurde die Beinhalle wieder in grünes Licht getaucht.

»Viel besser. Ich will dich ja nicht vom Schlafen abhalten, aber wir Menschen sehen so schlecht im Dunkeln.« Kumpelig knuffte er den Gargoyle gegen die linke Schulter – und bereute es sofort. Er hätte genauso gut gegen die Außenmauer von Notre-Dame schlagen können. »Aua, du bist ganz schön hart.«

Wieder sah ihn der Gargoyle nur wortlos an.

Resigniert ließ sich Henri dem Wesen gegenüber auf den Boden plumpsen. »Mach es mir doch nicht so schwer. Ich weiß ja nicht, mit wie vielen Menschen du bisher Blut und Stein warst, aber du bist in jedem Fall der erste Gargoyle, mit dem ich es bin.« Henri lachte freudlos. »Was soll das überhaupt heißen: Blut und Stein?«

»Ein Leben lang: Blut für Stein, Stein für Blut, nur wir beiden, und das ist gut« , antwortete das Wesen zu Henris Überraschung diesmal prompt.

»Ach so.« Henri kratzte sich unter seiner Achsel und versuchte, den dabei befreiten Geruch zu ignorieren. »Du warst also auch noch nie mit jemandem verbunden. Wir sind also beide Neulinge auf dem Gebiet«, versuchte Henri zu verstehen. »Das ganze Leben, das ist aber doch sehr lang. Meinst du nicht auch?«

»Stein und Blut, Blut und Stein, bilden einen ewigen Bund. Einander zu schützen, ist der Grund.«

»Ach so, wir beschützen uns gegenseitig.« Henri versuchte, eine bequemere Sitzposition einzunehmen. Vergeblich, da er sich nicht traute, die Knochen an den Wänden als Rückenlehne zu missbrauchen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zusammengesunken auf dem klammen Boden zu hocken. »Du hast mich heute schon ausgiebig beschützt. Ich habe keine Ahnung, ob ich das für dich ebenso machen kann.« Henri seufzte.

Sein Begleiter schien dem nichts hinzufügen zu wollen. Er schloss wieder die Augen.

Augenblicklich glaubte Henri in dem Meer aus Dunkelheit, das ihn nun umschloss, zu ertrinken. »Bitte, bleib noch ein bisschen wach. Ich ...« Henri räusperte sich umständlich. »Ich fühle mich sonst nicht recht wohl, könnte man sagen …«

Es war offensichtlich, dass es dem Wesen schwerfiel, aber es öffnete seine Augen einen Spalt breit.

Tröstendes grünes Licht ergoss sich über Henri. Damit es ihm erhalten blieb, stellte er weitere der Fragen, die in seinem Geist rotierten. »Was hat der Marquis damit gemeint, als er sagte, dass es unmöglich sei, dass wir Blut und Stein sind? Offensichtlich geht das ja nun doch.« Henri überlegte, ob er das Wesen zwischen den Ohren kraulen sollte, hielt dann aber in der Bewegung inne. Was wusste er schon darüber, was Gargoyles gernhatten? Sein Begleiter war schließlich kein Hund. »Er hat uns als Bastarde bezeichnet! Meinte er das als allgemeines Schimpfwort oder wortwörtlich? Ich kenne schließlich meine Eltern und sehe ihnen ähnlich. Sie haben übrigens lange vor meiner Geburt geheiratet.« Es gefiel Henri ganz und gar nicht, als Bastard bezeichnet zu werden, egal ob von einem Marquis oder einem Gassenjungen. Dennoch hatte er das untrügliche Gefühl, dass an der Sache mehr dran war, als dass der Adlige sich nur die Wut aus dem Leib geschrien hatte.

»Nur wer in Purpur geboren, wird für Blut und Stein auserkoren.«

»Das verstehe ich nicht so recht. Schau mal, ich habe die purpurne Kammer das erste Mal betreten. Von Geburt kann da keine Rede sein. Und warum macht es mich zum Bastard? Wessen Bastard soll ich denn sein?«

Von dem Gargoyle kam keine Antwort mehr. Stattdessen schloss er wieder kurz die Augen.

»Es geht dir gar nicht gut, was?«, wandte sich Henri wesentlicheren Dingen als adligen Befindlichkeiten zu. Er stand auf und betrachtete die Wunde, die der Rayon des gegnerischen Gargoyles in den steinernen Leib seines Beschützers geschlagen hatte. Sie war fast so lang wie sein Arm. Beständig quoll das mörtelartige Blut des Wesens daraus hervor. Es hatte sich am Boden schon zu einem kleinen Hügel aufgetürmt. Auch der zerfetzte Flügel sah nicht gut aus und hing schlaff herunter. »Darf ich?«, fragte Henri und streckte die Hand aus.

Wie so oft bestand die Antwort seines Begleiters aus Schweigen.

Henri beschloss, dies als Ja zu interpretieren. Sanft fuhr er mit den Fingern an den Wundrändern entlang. Die Berührung fühlte sich vertraut an. Tausendfach hatte er in den letzten Jahren über Stein gewischt, um seine Struktur und Beschaffenheit zu ergründen. Nur so konnte ein guter Steinmetz entscheiden, was er aus dem Material erschaffen wollte. Das war in diesem Fall nicht anders. »Wenn ich nur mein ...« Henri fiel etwas ein. »Kannst du bitte mal in Richtung des Stollens leuchten ... ähm ... blicken?«

Nur sehr verzögert kam der Gargoyle dieser Aufforderung nach.

Henri nutzte das Licht und lief in den Gang zurück, aus dem sie gekommen waren. Was mache ich nur, wenn er wieder die Augen schließt? , ging es ihm jetzt durch den Kopf. Er ignorierte es, so gut er konnte. »Wo hast du dich versteckt?«, redete er stattdessen mit sich selbst. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich dich vorhin hier irgendwo gesehen habe.« Als er erblickte, was er gesucht hatte, rief er freudig aus: »Da bist du ja!« Hastig ergriff er den hölzernen Wassereimer, der noch gut zur Hälfte gefüllt war. Vermutlich benutzte man ihn, um die frisch Verstorbenen zu waschen. Henri schob die wenig ansprechende Vorstellung beiseite, was mit diesem Wasser schon alles in Berührung gekommen war, griff den Henkel und lief vorsichtig zurück in den Beinraum. Triumphierend hielt er dem Gargoyle das Gefäß vor die Augen.

Der hob nicht mal den Kopf.

»Ich hätte jetzt aber ein bisschen mehr Begeisterung erwartet«, murrte Henri. »Zumal ich deine Hilfe brauche. Du solltest jetzt mit einer deiner dicken Tatzen ein bisschen vom Boden abkratzen, das wäre hilfreich.« Er machte mit den Fingern eine Krallenhand und imitierte die Bewegung, die er von dem Gargoyle erwartete.

Sein Gegenüber reagierte nicht.

In Ordnung , überlegte Henri. Verbunden bedeutet also schon mal nicht, dass er meine Befehle ausführen muss. Erste Regel gelernt. »Jetzt komm schon«, schob er daher nach. »Blut und Stein, Stein und Blut, schon vergessen?«

Wieder blieb der Gargoyle bewegungslos liegen.

Mit in die Hüften gestemmten Händen stellte sich Henri direkt vor den Kopf des Wesens und beugte sich zu diesem herunter. »Bitte!«

Die linke Tatze des Wesens bewegte sich daraufhin rhythmisch.

Zweite Regel: Sei immer höflich zu deinem Gargoyle , notierte sich Henri geistig.

Schnell hatte das starke Wesen ein kleines Loch ausgehoben.

»Vielen Dank! Das reicht schon.« Henri griff mit beiden Händen zu und nahm etwas von dem hellgrauen Material. »Das Mischungsverhältnis ist entscheidend. Mindestens drei zu eins. Du kannst froh sein, dass du dich mit einem Experten auf dem Gebiet verbunden hast.«

Der Gargoyle blinzelte und drohte wieder die Augen zu schließen.

»Bei so wenig Licht ist es schwierig, exakt zu arbeiten, aber ich gebe mein Bestes.« Henri wog den Aushub in seinen Händen ab und ließ ihn in den Eimer fallen. Anschließend rührte er das Gemisch mit einem größeren Knochen durch. »Ein bisschen mehr brauchen wir noch, denke ich. Wärst du so nett, bitte?« Schließlich betrachtete er zufrieden sein Werk in dem kleinen Eimer. »Ich glaube, ich mache noch was von der Pampe rein, die da aus dir rausgeflossen ist. Oder was sagst du?«

Der Gargoyle hatte sich wieder aufs Schweigen verlegt, schloss aber wenigstens nicht die Augen.

Henri spürte leichte Neugier. Dritte Regel: Ich kann seine Gefühle spüren. Ob er das umgekehrt auch kann? Er griff zwei Handvoll des Gargoyle-Bluts und verrührte sie mit der Pampe im Eimer. Anschließend lief er um das Wesen herum und kniete vor seiner Wunde nieder. »Dann wollen wir doch mal unser Glück probieren.« Er griff sich einen Teil des Gemischs und klatschte es auf die Wunde.

Hektisch hob der Gargoyle den Kopf und drehte sich, um zu beobachten, was Henri tat.

»Gips«, lachte der und klopfte auf den Boden. »Hier drin haben sie früher Gips abgebaut. Er ist nicht so fest wie Mörtel, aber besser als nichts, um deine Wunden zu schließen.« Langsam ließ er die Hand in Richtung des Eimers sinken. »Kann ich weitermachen?«

Es fühlte sich für Henri wie eine Ewigkeit an, bis der Gargoyle nickte. Er sandte starke Gefühle der Unsicherheit, gepaart mit Hoffnung.

Henri vertiefte sich in seine Arbeit. Stück für Stück verschloss er die Wunde mit dem Gips und strich auch den Flügel damit ein. Die vertraute Tätigkeit flößte ihm Selbstvertrauen ein und ließ ihn ruhiger werden. Schließlich betrachtete er sein Werk zufrieden. »Wenn du eine Weile keine Luftkämpfe mehr veranstaltest, sollte es halten.«

Vernehmbar schnüffelte der Gargoyle an der versorgten Wunde und legte dann seinen Schädel wieder auf den Boden. Er schien zufrieden zu sein.

»Und jetzt ruh dich aus. Ich werde von nun an über uns wachen.« Grinsend zwinkerte Henri dem Gargoyle zu. »Das ist das Mindeste, was ich als Dank für deine heutigen Heldentaten zurückgeben kann.«

Der Gargoyle schloss die Augen.

»Neiron.«

Henri lächelte in der Dunkelheit. »Freut mich, dich kennenzulernen, Neiron.«